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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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voraussetzungslos

Also: eine Voraussetzungslosigkeit giebt es im strengen Sinne des Worts
nirgends, am wenigsten in den Wissenschaften historischen Charakters. In
jeder ausgedehntem Darstellung, die den großen Zusammenhängen der Dinge
gerecht werden will, wird sich die Grnndanschnnung des Bearbeiters geltend
machen. Aber ist Auffassung und Darstellung nicht voraussetzungslos, die
Forschung, die Sammlung des Materials soll es allerdings in dein Sinne
sein, daß sie nicht von vornherein ein bestimmtes Ergebnis erwartet, daß sie
vielmehr nur das, was sie wirklich findet, sieht und mitteilt, daß sie am
wenigsten etwas erweisen will, was irgend welchen Parteirücksichten dient, und
daß sie alles ehrlich ausspricht, auch was geltenden Meinungen und Partei¬
zwecken widerspricht. Wenn ein Historiker neue Forschungen über den Ursprung
des siebenjährigen Kriegs anstellt, so soll er sie nicht etwa mit der Absicht
führen, zu erweisen, daß Friedrich der Große politisch der Angegriffne oder
der Angreifer gewesen sei, und wenn ein andrer die Quellen zur innern Ge¬
schichte Deutschlands um 1500 studiert, dann soll er nicht die Tendenz haben,
alles in der katholischen Kirche schwarz oder weiß zu finden. Seine Grund¬
anschauung wird natürlich in beiden Fällen auch auf die Beurteilung seiner
Quellen einigermaßen einwirken, man wird deshalb besser nicht von Voraus-
setzungslosigkeit, sondern von Tendeuzlosigkeit der Forschung reden, und das
Streben danach ist allerdings gleichbedeutend mit Wahrhaftigkeit, der obersten,
der heiligsten Pflicht aller Wissenschaft.

Nun leugnet niemand, daß in diesen Beziehungen zwischen Protestanten
und Katholiken ein großer Unterschied besteht, daß der katholische Forscher
einem starken kirchlichen "Nechtszwmige" unterliegt, den der Protestant nicht
kennt. Denn die katholische Kirche ist die große Heils- und Erziehungsanstalt,
die zwischen Gott und dem Menschen vermittelt, und ohne die dieser nicht zu
Gott gelangen kann, sie muß also ihre Gläubigen in allen Beziehungen be¬
vormunden, sie ist oder will sein die Herrschaft der Mündigen , der Priester
über die Unmündigen, die Laien. Der Protestant fühlt sich seinem Gott un¬
mittelbar gegenüber, er beansprucht deshalb Gewissens- und Denkfreiheit, er
fühlt sich mündig und keinem kirchlichen Nechtszwcmge unterworfen, der dem
Wesen seiner Kirche widersprechen würde. Darin liegt die Überlegenheit der
protestantischen, die "Jnferioritüt" der katholischen Wissenschaft, die niemand
peinlicher empfindet als gebildete Katholiken. Wenn ein katholischer Forscher
beweisen könnte, der Apostel Petrus sei niemals in Rom gewesen, also sei die
theoretische Grundlage der päpstlichen Macht als der Nachfolgerin seines bischöf¬
lichen Amts hinfällig, so würde das ein Angriff auf das Papsttum und auf
die ganze Kirche sein, den diese niemals dulden könnte. Wenn dagegen ein
protestantischer Forscher zu dem Ergebnis käme, die Rechtfertigungslehre, das
"reale Prinzip" des Protestantismus, sei zwar die Lehre des Paulus, aber
durchaus nicht die Lehre Christi, so würde er zwar in manchen Kreisen Anstoß
erregen, aber kein Mensch würde ihn aus der Kirche ausschließen wollen. Um¬
gekehrt hat vor jeder Lehre der katholischen Kirche, die "dogmatisch abgeschlossen"
ist, jede Forschung Halt zu macheu. Der Protestant sagt mit Luther: "Hie


voraussetzungslos

Also: eine Voraussetzungslosigkeit giebt es im strengen Sinne des Worts
nirgends, am wenigsten in den Wissenschaften historischen Charakters. In
jeder ausgedehntem Darstellung, die den großen Zusammenhängen der Dinge
gerecht werden will, wird sich die Grnndanschnnung des Bearbeiters geltend
machen. Aber ist Auffassung und Darstellung nicht voraussetzungslos, die
Forschung, die Sammlung des Materials soll es allerdings in dein Sinne
sein, daß sie nicht von vornherein ein bestimmtes Ergebnis erwartet, daß sie
vielmehr nur das, was sie wirklich findet, sieht und mitteilt, daß sie am
wenigsten etwas erweisen will, was irgend welchen Parteirücksichten dient, und
daß sie alles ehrlich ausspricht, auch was geltenden Meinungen und Partei¬
zwecken widerspricht. Wenn ein Historiker neue Forschungen über den Ursprung
des siebenjährigen Kriegs anstellt, so soll er sie nicht etwa mit der Absicht
führen, zu erweisen, daß Friedrich der Große politisch der Angegriffne oder
der Angreifer gewesen sei, und wenn ein andrer die Quellen zur innern Ge¬
schichte Deutschlands um 1500 studiert, dann soll er nicht die Tendenz haben,
alles in der katholischen Kirche schwarz oder weiß zu finden. Seine Grund¬
anschauung wird natürlich in beiden Fällen auch auf die Beurteilung seiner
Quellen einigermaßen einwirken, man wird deshalb besser nicht von Voraus-
setzungslosigkeit, sondern von Tendeuzlosigkeit der Forschung reden, und das
Streben danach ist allerdings gleichbedeutend mit Wahrhaftigkeit, der obersten,
der heiligsten Pflicht aller Wissenschaft.

Nun leugnet niemand, daß in diesen Beziehungen zwischen Protestanten
und Katholiken ein großer Unterschied besteht, daß der katholische Forscher
einem starken kirchlichen „Nechtszwmige" unterliegt, den der Protestant nicht
kennt. Denn die katholische Kirche ist die große Heils- und Erziehungsanstalt,
die zwischen Gott und dem Menschen vermittelt, und ohne die dieser nicht zu
Gott gelangen kann, sie muß also ihre Gläubigen in allen Beziehungen be¬
vormunden, sie ist oder will sein die Herrschaft der Mündigen , der Priester
über die Unmündigen, die Laien. Der Protestant fühlt sich seinem Gott un¬
mittelbar gegenüber, er beansprucht deshalb Gewissens- und Denkfreiheit, er
fühlt sich mündig und keinem kirchlichen Nechtszwcmge unterworfen, der dem
Wesen seiner Kirche widersprechen würde. Darin liegt die Überlegenheit der
protestantischen, die „Jnferioritüt" der katholischen Wissenschaft, die niemand
peinlicher empfindet als gebildete Katholiken. Wenn ein katholischer Forscher
beweisen könnte, der Apostel Petrus sei niemals in Rom gewesen, also sei die
theoretische Grundlage der päpstlichen Macht als der Nachfolgerin seines bischöf¬
lichen Amts hinfällig, so würde das ein Angriff auf das Papsttum und auf
die ganze Kirche sein, den diese niemals dulden könnte. Wenn dagegen ein
protestantischer Forscher zu dem Ergebnis käme, die Rechtfertigungslehre, das
„reale Prinzip" des Protestantismus, sei zwar die Lehre des Paulus, aber
durchaus nicht die Lehre Christi, so würde er zwar in manchen Kreisen Anstoß
erregen, aber kein Mensch würde ihn aus der Kirche ausschließen wollen. Um¬
gekehrt hat vor jeder Lehre der katholischen Kirche, die „dogmatisch abgeschlossen"
ist, jede Forschung Halt zu macheu. Der Protestant sagt mit Luther: „Hie


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[0524] voraussetzungslos Also: eine Voraussetzungslosigkeit giebt es im strengen Sinne des Worts nirgends, am wenigsten in den Wissenschaften historischen Charakters. In jeder ausgedehntem Darstellung, die den großen Zusammenhängen der Dinge gerecht werden will, wird sich die Grnndanschnnung des Bearbeiters geltend machen. Aber ist Auffassung und Darstellung nicht voraussetzungslos, die Forschung, die Sammlung des Materials soll es allerdings in dein Sinne sein, daß sie nicht von vornherein ein bestimmtes Ergebnis erwartet, daß sie vielmehr nur das, was sie wirklich findet, sieht und mitteilt, daß sie am wenigsten etwas erweisen will, was irgend welchen Parteirücksichten dient, und daß sie alles ehrlich ausspricht, auch was geltenden Meinungen und Partei¬ zwecken widerspricht. Wenn ein Historiker neue Forschungen über den Ursprung des siebenjährigen Kriegs anstellt, so soll er sie nicht etwa mit der Absicht führen, zu erweisen, daß Friedrich der Große politisch der Angegriffne oder der Angreifer gewesen sei, und wenn ein andrer die Quellen zur innern Ge¬ schichte Deutschlands um 1500 studiert, dann soll er nicht die Tendenz haben, alles in der katholischen Kirche schwarz oder weiß zu finden. Seine Grund¬ anschauung wird natürlich in beiden Fällen auch auf die Beurteilung seiner Quellen einigermaßen einwirken, man wird deshalb besser nicht von Voraus- setzungslosigkeit, sondern von Tendeuzlosigkeit der Forschung reden, und das Streben danach ist allerdings gleichbedeutend mit Wahrhaftigkeit, der obersten, der heiligsten Pflicht aller Wissenschaft. Nun leugnet niemand, daß in diesen Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken ein großer Unterschied besteht, daß der katholische Forscher einem starken kirchlichen „Nechtszwmige" unterliegt, den der Protestant nicht kennt. Denn die katholische Kirche ist die große Heils- und Erziehungsanstalt, die zwischen Gott und dem Menschen vermittelt, und ohne die dieser nicht zu Gott gelangen kann, sie muß also ihre Gläubigen in allen Beziehungen be¬ vormunden, sie ist oder will sein die Herrschaft der Mündigen , der Priester über die Unmündigen, die Laien. Der Protestant fühlt sich seinem Gott un¬ mittelbar gegenüber, er beansprucht deshalb Gewissens- und Denkfreiheit, er fühlt sich mündig und keinem kirchlichen Nechtszwcmge unterworfen, der dem Wesen seiner Kirche widersprechen würde. Darin liegt die Überlegenheit der protestantischen, die „Jnferioritüt" der katholischen Wissenschaft, die niemand peinlicher empfindet als gebildete Katholiken. Wenn ein katholischer Forscher beweisen könnte, der Apostel Petrus sei niemals in Rom gewesen, also sei die theoretische Grundlage der päpstlichen Macht als der Nachfolgerin seines bischöf¬ lichen Amts hinfällig, so würde das ein Angriff auf das Papsttum und auf die ganze Kirche sein, den diese niemals dulden könnte. Wenn dagegen ein protestantischer Forscher zu dem Ergebnis käme, die Rechtfertigungslehre, das „reale Prinzip" des Protestantismus, sei zwar die Lehre des Paulus, aber durchaus nicht die Lehre Christi, so würde er zwar in manchen Kreisen Anstoß erregen, aber kein Mensch würde ihn aus der Kirche ausschließen wollen. Um¬ gekehrt hat vor jeder Lehre der katholischen Kirche, die „dogmatisch abgeschlossen" ist, jede Forschung Halt zu macheu. Der Protestant sagt mit Luther: „Hie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/524>, abgerufen am 01.09.2024.