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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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sehen, der die Grenzen seiner Macht gegenüber dem Staate kraft seiner Souve¬
ränität nach seinein Willen ziehn kann, und er wird kaum umhin können, diese
Betrachtungsweise auch auf die modernen Verhältnisse zu übertrage", jedenfalls
bei der Beurteilung etwaiger Konflikte zwischen Staat und Kirche innerlich auf
der Seite der Kirche stehn. Er wird ebenso die Reformation als eine unver¬
meidliche Folge der Zustände in der Kirche am Schlüsse des Mittelalters be¬
greifen können, aber ihr inneres Recht und den ungeheuern Fortschritt, den
sie nicht in allen, wohl aber in sehr entscheidenden Beziehungen gebracht hat,
wird er schwerlich vorbehaltlos zugesteh". Der protestantische, namentlich der
deutsche Historiker wiederum wird den Kampf des Kaisertums als einen Streit
"in die Grundlagen des deutschen Staats und der nationalen Einheit versteh"
und darüber vielleicht in die Gefahr kommen, das relative Recht des Papst¬
tums zu unterschützen, oder die katholische Kirche, ans der die Reformation
hervorging, zu schwarz zu mulier. Sogar in der Beurteilung der gesamten
deutschen Geschichte stehn oder standen sich die Gegensätze scharf gegenüber.
War die Kaderpolitik des Mittelalters berechtigt oder nicht, förderlich oder
verhängnisvoll für die Nation? War es ein Segen oder ein Unsegen für
Deutschland, das; Preußen emporkam und schließlich Österreich ausschied? Wie
stark beeinflußt mich der politische Parteistandpnukt ganz unbewußt das Urteil
über die Vergangenheit! Man kann z, B, ohne Übertreibung sagen, daß sogar
Mommsen seine römische Geschichte vom Standpunkte des Liberalisinus der
fünfziger Jahre ans geschrieben hat. Solche Verschiedenheiten der "Voraus¬
setzungen" sind also keineswegs gleichgiltig für die Auffassung und Darstellung
der Geschichte. Oder um ein Beispiel aus der Theologie herauszugreifen:
wer das Wunder leugnet, der wird in einer Reihe neutestamentlicher Erzäh¬
lungen von vornherein nur fromme Legenden sehen; ist der aber "voraus-
setzungslos"? ES stehn eben überall Prinzipien einander gegenüber, und Prin¬
zipien, unbeweisbare, aprioristische Leitsätze, lassen sich eigentlich nicht wider¬
legen. Wenn einer an der Möglichkeit der neutestamentlichen Wunder festhält,
so kann ihm der Naturwissenschaften' zehnmal sagen: Nach unsrer Erfahrung
giebt es keine Wunder, kann es gar keine geben; der Theolog wird immer
sagen können: Eure Erfahrung ist so beschränkt, eure Kenntnis von der Natur
noch so oberflächlich, daß ihr zwar die Bedingungen genau angeben könnt, unter
denen sich ein Streichhölzchen entzündet, aber durchaus nicht wißt, warum es
das thut; wie wollt ihr über die Möglichkeit von Wundern urteilen! Daß
die theatralische Weltanschauung vielfach verderblich gewesen ist, das kann man
beweisen, aber ist sie deshalb falsch? Haben nicht auch andre Weltanschauungen
Verderben genug in die Welt gebracht? Logisch beweisbar ist auch die christ¬
liche Weltanschauung nicht, ist keine Religion; nur ans ihren Früchten kann
man ihren Wert erkennen, aber welche Früchte sie trägt, das hängt mindestens
ebenso sehr von den Menschen ab, die sich zu ihr bekennen, wie von ihren
Lehren. Die Wahrheit kann natürlich nur eine sein, aber wir Menschen er¬
kennen nicht ihr reines, volles Licht, wir sehen es i"nner nur gebrochen in
farbigen Strahlen.


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sehen, der die Grenzen seiner Macht gegenüber dem Staate kraft seiner Souve¬
ränität nach seinein Willen ziehn kann, und er wird kaum umhin können, diese
Betrachtungsweise auch auf die modernen Verhältnisse zu übertrage», jedenfalls
bei der Beurteilung etwaiger Konflikte zwischen Staat und Kirche innerlich auf
der Seite der Kirche stehn. Er wird ebenso die Reformation als eine unver¬
meidliche Folge der Zustände in der Kirche am Schlüsse des Mittelalters be¬
greifen können, aber ihr inneres Recht und den ungeheuern Fortschritt, den
sie nicht in allen, wohl aber in sehr entscheidenden Beziehungen gebracht hat,
wird er schwerlich vorbehaltlos zugesteh». Der protestantische, namentlich der
deutsche Historiker wiederum wird den Kampf des Kaisertums als einen Streit
»in die Grundlagen des deutschen Staats und der nationalen Einheit versteh»
und darüber vielleicht in die Gefahr kommen, das relative Recht des Papst¬
tums zu unterschützen, oder die katholische Kirche, ans der die Reformation
hervorging, zu schwarz zu mulier. Sogar in der Beurteilung der gesamten
deutschen Geschichte stehn oder standen sich die Gegensätze scharf gegenüber.
War die Kaderpolitik des Mittelalters berechtigt oder nicht, förderlich oder
verhängnisvoll für die Nation? War es ein Segen oder ein Unsegen für
Deutschland, das; Preußen emporkam und schließlich Österreich ausschied? Wie
stark beeinflußt mich der politische Parteistandpnukt ganz unbewußt das Urteil
über die Vergangenheit! Man kann z, B, ohne Übertreibung sagen, daß sogar
Mommsen seine römische Geschichte vom Standpunkte des Liberalisinus der
fünfziger Jahre ans geschrieben hat. Solche Verschiedenheiten der „Voraus¬
setzungen" sind also keineswegs gleichgiltig für die Auffassung und Darstellung
der Geschichte. Oder um ein Beispiel aus der Theologie herauszugreifen:
wer das Wunder leugnet, der wird in einer Reihe neutestamentlicher Erzäh¬
lungen von vornherein nur fromme Legenden sehen; ist der aber „voraus-
setzungslos"? ES stehn eben überall Prinzipien einander gegenüber, und Prin¬
zipien, unbeweisbare, aprioristische Leitsätze, lassen sich eigentlich nicht wider¬
legen. Wenn einer an der Möglichkeit der neutestamentlichen Wunder festhält,
so kann ihm der Naturwissenschaften' zehnmal sagen: Nach unsrer Erfahrung
giebt es keine Wunder, kann es gar keine geben; der Theolog wird immer
sagen können: Eure Erfahrung ist so beschränkt, eure Kenntnis von der Natur
noch so oberflächlich, daß ihr zwar die Bedingungen genau angeben könnt, unter
denen sich ein Streichhölzchen entzündet, aber durchaus nicht wißt, warum es
das thut; wie wollt ihr über die Möglichkeit von Wundern urteilen! Daß
die theatralische Weltanschauung vielfach verderblich gewesen ist, das kann man
beweisen, aber ist sie deshalb falsch? Haben nicht auch andre Weltanschauungen
Verderben genug in die Welt gebracht? Logisch beweisbar ist auch die christ¬
liche Weltanschauung nicht, ist keine Religion; nur ans ihren Früchten kann
man ihren Wert erkennen, aber welche Früchte sie trägt, das hängt mindestens
ebenso sehr von den Menschen ab, die sich zu ihr bekennen, wie von ihren
Lehren. Die Wahrheit kann natürlich nur eine sein, aber wir Menschen er¬
kennen nicht ihr reines, volles Licht, wir sehen es i»nner nur gebrochen in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/523>, abgerufen am 01.09.2024.