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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Der ältere jüngere Lranach

nachgebildet und dadurch in weiten Kreisen bekannt geworden ist. Daß alle
diese Titeleinfassungen nur aus Crauachs Werkstatt hervorgegangen sein können,
darüber hat wohl nie ein Zweifel bestanden. Aber wie Cranach selbst zu ihnen
stand, darüber hat niemand etwas zu sagen gewagt. Als Lippmann vor
einigen Jahren in einem großen Prachtwerk Nachbildungen der Cranachschen
Holzschnitte herausgab (vergl. die Grenzboten von 1895, IV, S. 281 f.), ließ er
diese Buchverzierungen ganz beiseite. Flechsig weist nun wieder schlagend nach,
daß der Zeichner aller dieser kleinen Kunstwerke niemand anders ist als der, der
die vierundvierzig Holzschnitte für das Hallische Heiligtumbuch gezeichnet hat,
also -- der Pseudogrünewald. Und auch an diesen zeigt er dieselbe rasche
Entwicklung von jugendlicher Unreife zu immer größerer Reife wie um den
Gemälden.

Also ein Schüler, ein dein Meister ganz nahestehender Schüler Cranachs
muß der Pseudogrünewald gewesen sein. In seiner künstlerischen Ausdrucks¬
weise kommt er dem Meister bisweilen so nahe, daß man bei oberflächlicher
Betrachtung ihrer Werke sie miteinander verwechseln könnte. Das früheste
nachweisbare Gemälde, das er in der Werkstatt Cranachs schafft, die Marter
des Erasmus von 1516 in der Aschafsenburger Schloßgalcrie, zeigt ihn noch
vollkommen unfertig, vielleicht kaum dem Knabenalter entwachsen, und diese
Annahme wird durch die rasche Entwicklung, die seine Gemälde und seine
Zeichnungen bis 1523 durchmachen, vollkommen bestätigt. Er muß also etwa
1500 geboren gewesen sein. Bon allen Gesellen Cranachs ist er der fleißigste,
sicherlich der begabteste, ja man möchte ihn genial nennen, wenn man die von
ihm gezeichneten Titeleinsassungcn betrachtet. Er ist der geborne Zeichner,
mühelos folgen Stift und Feder den launigen Eingebungen seiner Phantasie.
Aber wenn er den Pinsel ergreift, da zeigt sichs, daß die Farbe nicht seine
Stärke ist. Er ist kein geborner Maler -- das sagen uns fast alle Bilder
seiner ersten Zeit. Wer war er aber nun?

Noch ein Schritt, und wir stehn vor der Lösung des Rätsels. Von der¬
selben Hand, die alle die erwähnten Titeleinfassungen gezeichnet hat, giebt es
auch in Holzschnitt zwei Bildnisse König Christians II. von Dünemark in archi¬
tektonischer Umrahmung und mit der Jahreszahl 1523. König Christian war
im April 1523 aus seinem Reiche vertrieben worden und hatte sich nach
Deutschland gewandt. Im September desselben Jahres war er wiederholt bei
Kurfürst Friedrich dem Weisen zu Besuch, auch in Wittenberg; in dieser Zeit
müssen die beiden Bildnisse entstanden sein. Die architektonische Umrahmung
des einen stimmt in der auffälligsten Weise mit der auf eiuer jener Titel-
einfafsungen überein, mit der, die 1524 auf dem Wittenberger Druck der
Lutherschcu Schrift "An die Rathsherren aller Städte deutsches Lands, daß
sie christliche Schulen ausrichten sollen" verwendet worden ist. Diese beiden
Bildnisse nun tragen außer der Jahreszahl Cranachs Zeichen, die geflügelte
Schlange, und man hat sie darum auch unbedenklich bisher für Zeichnungen
Cranachs gehalten. Das find sie aber auf keinen Fall, sie sind von dem


Der ältere jüngere Lranach

nachgebildet und dadurch in weiten Kreisen bekannt geworden ist. Daß alle
diese Titeleinfassungen nur aus Crauachs Werkstatt hervorgegangen sein können,
darüber hat wohl nie ein Zweifel bestanden. Aber wie Cranach selbst zu ihnen
stand, darüber hat niemand etwas zu sagen gewagt. Als Lippmann vor
einigen Jahren in einem großen Prachtwerk Nachbildungen der Cranachschen
Holzschnitte herausgab (vergl. die Grenzboten von 1895, IV, S. 281 f.), ließ er
diese Buchverzierungen ganz beiseite. Flechsig weist nun wieder schlagend nach,
daß der Zeichner aller dieser kleinen Kunstwerke niemand anders ist als der, der
die vierundvierzig Holzschnitte für das Hallische Heiligtumbuch gezeichnet hat,
also — der Pseudogrünewald. Und auch an diesen zeigt er dieselbe rasche
Entwicklung von jugendlicher Unreife zu immer größerer Reife wie um den
Gemälden.

Also ein Schüler, ein dein Meister ganz nahestehender Schüler Cranachs
muß der Pseudogrünewald gewesen sein. In seiner künstlerischen Ausdrucks¬
weise kommt er dem Meister bisweilen so nahe, daß man bei oberflächlicher
Betrachtung ihrer Werke sie miteinander verwechseln könnte. Das früheste
nachweisbare Gemälde, das er in der Werkstatt Cranachs schafft, die Marter
des Erasmus von 1516 in der Aschafsenburger Schloßgalcrie, zeigt ihn noch
vollkommen unfertig, vielleicht kaum dem Knabenalter entwachsen, und diese
Annahme wird durch die rasche Entwicklung, die seine Gemälde und seine
Zeichnungen bis 1523 durchmachen, vollkommen bestätigt. Er muß also etwa
1500 geboren gewesen sein. Bon allen Gesellen Cranachs ist er der fleißigste,
sicherlich der begabteste, ja man möchte ihn genial nennen, wenn man die von
ihm gezeichneten Titeleinsassungcn betrachtet. Er ist der geborne Zeichner,
mühelos folgen Stift und Feder den launigen Eingebungen seiner Phantasie.
Aber wenn er den Pinsel ergreift, da zeigt sichs, daß die Farbe nicht seine
Stärke ist. Er ist kein geborner Maler — das sagen uns fast alle Bilder
seiner ersten Zeit. Wer war er aber nun?

Noch ein Schritt, und wir stehn vor der Lösung des Rätsels. Von der¬
selben Hand, die alle die erwähnten Titeleinfassungen gezeichnet hat, giebt es
auch in Holzschnitt zwei Bildnisse König Christians II. von Dünemark in archi¬
tektonischer Umrahmung und mit der Jahreszahl 1523. König Christian war
im April 1523 aus seinem Reiche vertrieben worden und hatte sich nach
Deutschland gewandt. Im September desselben Jahres war er wiederholt bei
Kurfürst Friedrich dem Weisen zu Besuch, auch in Wittenberg; in dieser Zeit
müssen die beiden Bildnisse entstanden sein. Die architektonische Umrahmung
des einen stimmt in der auffälligsten Weise mit der auf eiuer jener Titel-
einfafsungen überein, mit der, die 1524 auf dem Wittenberger Druck der
Lutherschcu Schrift „An die Rathsherren aller Städte deutsches Lands, daß
sie christliche Schulen ausrichten sollen" verwendet worden ist. Diese beiden
Bildnisse nun tragen außer der Jahreszahl Cranachs Zeichen, die geflügelte
Schlange, und man hat sie darum auch unbedenklich bisher für Zeichnungen
Cranachs gehalten. Das find sie aber auf keinen Fall, sie sind von dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/50>, abgerufen am 28.07.2024.