Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus ner Heünat Miqiwls

darüber ein beredtes Zeugnis ab. Jedermann in der Nachbarschaft wußte, daß
die Frau "Doktorin" beim Nahen eines Gewitters in starke nervöse Aufregung
geriet. Als nun eines guten Tags in der Abwesenheit ihres Mannes und
ihrer Töchter ein starkes Gewitter losbrach, da geschah es, daß die eine Nach¬
barin der andern über die Straße weg zurief, ob schon jemand nach der Frau
Hofmedikus gesehen habe, und daß eine dritte das eigne Haus im Stiche ließ,
um unter strömendem Regen in das Miquelsche zu eilen.

So war die nahe, nähere und nächste Umgebung beschaffen, in der wie
die ältern Geschwister das jüngste der Miquelschen Kinder aufwuchs. Es ist
für jemand, der eine Zeit lang mit dem Verewigten dieselbe Heimat gemein
hatte, natürlich, daß die Erinnerung an alle die Dinge, von denen die Rede
war, in seinem Leben dauernd von einigem Belang war. Nicht immer von
derselben Stärke, wurde sie jedesmal dann wieder frisch und lebendig, wenn
eine hervorragende Wendung im Leben des großen Staatsmanns die Auf¬
merksamkeit der Meuschen auf sich zog. Vollends damals, als es sich vor
Monaten bewahrheitete, daß der Kaiser seinen Finanzminister entlassen hatte.
Würde er Aufzeichnungen machen, und wenn er es that, würde er es allein
thun oder jemand anders zuziehn? Sein Leben hatte ihn mit vielen hervor¬
ragenden Männern von der Feder in Berührung gebracht; wer war berufen,
den Memoiren Miguels die gehörige Fassung zu geben? Mit den alten Er¬
innerungen gepaart gingen diese Gedanken durch mein Gehirn, da kam die von
niemand erwartete Nachricht, daß der eben in den Ruhestand versetzte Staats¬
mann gestorben sei.

Der Tod zieht den Strich uuter die Rechnung der Meuschen, aber häufig
ist sei" Eintreten auch der Anstoß zu einer neuen Bewegung. Kaum hatte
ich mich über das Ereignis, das mir die Quelle wirklicher Betrübnis gewesen
war, beruhigt, als ich plötzlich von der Pflicht, einen nahen Verwandten zu
Grabe zu geleiten, in die bentheimische Heimat gerufen wurde. Da lag denn
das alte Neuenhaus wieder im Sonnenschein des warmen Septembertags vor
meinen Augen. War es denn noch das alte? -- Ja und nein. Nein, weil
ich nicht mehr von zwei Postpferden über die holprige Straße in das Innere
gezogen wurde, sondern weil mich die neue Kreisbahn draußen auf einem
modernen Bahnhofe abgesetzt hatte. Von niemand anders als vom "Staats¬
minister von Miguel" selbst war ich an den Ort meiner Bestimmung befördert
worden. Waren da nicht auch ein paar ganz neue Häuser auf dem Wege
nach der Stadt? Ja, und in dieser selbst hatten mehrere alte die wurm¬
stichigen Hvlzgiebel abgeworfen und dafür frische steinerne hochgezogen. Auch
das Geburtshaus des jetzt gestorbnen glänzte in diesem Schmucke, es trug
überhaupt kein Zeichen der Trauer.

Sonst aber war alles genau so, wie ich es vor fünfzig Jahren zum ersten¬
mal gesehen hatte. Aus alleu alten Ecken und Winkeln drang die Erinnerung
auf mich ein, auch durch das Trauergelüute schallte sie in meine Ohren. Als
ich hinter der Leiche herschritt, die auf ihrem letzten Wege von mir begleitet
wurde, kam mir erneut der Gedanke, daß ich gewiß noch mehr Erinnerungen


Aus ner Heünat Miqiwls

darüber ein beredtes Zeugnis ab. Jedermann in der Nachbarschaft wußte, daß
die Frau „Doktorin" beim Nahen eines Gewitters in starke nervöse Aufregung
geriet. Als nun eines guten Tags in der Abwesenheit ihres Mannes und
ihrer Töchter ein starkes Gewitter losbrach, da geschah es, daß die eine Nach¬
barin der andern über die Straße weg zurief, ob schon jemand nach der Frau
Hofmedikus gesehen habe, und daß eine dritte das eigne Haus im Stiche ließ,
um unter strömendem Regen in das Miquelsche zu eilen.

So war die nahe, nähere und nächste Umgebung beschaffen, in der wie
die ältern Geschwister das jüngste der Miquelschen Kinder aufwuchs. Es ist
für jemand, der eine Zeit lang mit dem Verewigten dieselbe Heimat gemein
hatte, natürlich, daß die Erinnerung an alle die Dinge, von denen die Rede
war, in seinem Leben dauernd von einigem Belang war. Nicht immer von
derselben Stärke, wurde sie jedesmal dann wieder frisch und lebendig, wenn
eine hervorragende Wendung im Leben des großen Staatsmanns die Auf¬
merksamkeit der Meuschen auf sich zog. Vollends damals, als es sich vor
Monaten bewahrheitete, daß der Kaiser seinen Finanzminister entlassen hatte.
Würde er Aufzeichnungen machen, und wenn er es that, würde er es allein
thun oder jemand anders zuziehn? Sein Leben hatte ihn mit vielen hervor¬
ragenden Männern von der Feder in Berührung gebracht; wer war berufen,
den Memoiren Miguels die gehörige Fassung zu geben? Mit den alten Er¬
innerungen gepaart gingen diese Gedanken durch mein Gehirn, da kam die von
niemand erwartete Nachricht, daß der eben in den Ruhestand versetzte Staats¬
mann gestorben sei.

Der Tod zieht den Strich uuter die Rechnung der Meuschen, aber häufig
ist sei» Eintreten auch der Anstoß zu einer neuen Bewegung. Kaum hatte
ich mich über das Ereignis, das mir die Quelle wirklicher Betrübnis gewesen
war, beruhigt, als ich plötzlich von der Pflicht, einen nahen Verwandten zu
Grabe zu geleiten, in die bentheimische Heimat gerufen wurde. Da lag denn
das alte Neuenhaus wieder im Sonnenschein des warmen Septembertags vor
meinen Augen. War es denn noch das alte? — Ja und nein. Nein, weil
ich nicht mehr von zwei Postpferden über die holprige Straße in das Innere
gezogen wurde, sondern weil mich die neue Kreisbahn draußen auf einem
modernen Bahnhofe abgesetzt hatte. Von niemand anders als vom „Staats¬
minister von Miguel" selbst war ich an den Ort meiner Bestimmung befördert
worden. Waren da nicht auch ein paar ganz neue Häuser auf dem Wege
nach der Stadt? Ja, und in dieser selbst hatten mehrere alte die wurm¬
stichigen Hvlzgiebel abgeworfen und dafür frische steinerne hochgezogen. Auch
das Geburtshaus des jetzt gestorbnen glänzte in diesem Schmucke, es trug
überhaupt kein Zeichen der Trauer.

Sonst aber war alles genau so, wie ich es vor fünfzig Jahren zum ersten¬
mal gesehen hatte. Aus alleu alten Ecken und Winkeln drang die Erinnerung
auf mich ein, auch durch das Trauergelüute schallte sie in meine Ohren. Als
ich hinter der Leiche herschritt, die auf ihrem letzten Wege von mir begleitet
wurde, kam mir erneut der Gedanke, daß ich gewiß noch mehr Erinnerungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236217"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus ner Heünat Miqiwls</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1508" prev="#ID_1507"> darüber ein beredtes Zeugnis ab. Jedermann in der Nachbarschaft wußte, daß<lb/>
die Frau &#x201E;Doktorin" beim Nahen eines Gewitters in starke nervöse Aufregung<lb/>
geriet. Als nun eines guten Tags in der Abwesenheit ihres Mannes und<lb/>
ihrer Töchter ein starkes Gewitter losbrach, da geschah es, daß die eine Nach¬<lb/>
barin der andern über die Straße weg zurief, ob schon jemand nach der Frau<lb/>
Hofmedikus gesehen habe, und daß eine dritte das eigne Haus im Stiche ließ,<lb/>
um unter strömendem Regen in das Miquelsche zu eilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1509"> So war die nahe, nähere und nächste Umgebung beschaffen, in der wie<lb/>
die ältern Geschwister das jüngste der Miquelschen Kinder aufwuchs. Es ist<lb/>
für jemand, der eine Zeit lang mit dem Verewigten dieselbe Heimat gemein<lb/>
hatte, natürlich, daß die Erinnerung an alle die Dinge, von denen die Rede<lb/>
war, in seinem Leben dauernd von einigem Belang war. Nicht immer von<lb/>
derselben Stärke, wurde sie jedesmal dann wieder frisch und lebendig, wenn<lb/>
eine hervorragende Wendung im Leben des großen Staatsmanns die Auf¬<lb/>
merksamkeit der Meuschen auf sich zog. Vollends damals, als es sich vor<lb/>
Monaten bewahrheitete, daß der Kaiser seinen Finanzminister entlassen hatte.<lb/>
Würde er Aufzeichnungen machen, und wenn er es that, würde er es allein<lb/>
thun oder jemand anders zuziehn? Sein Leben hatte ihn mit vielen hervor¬<lb/>
ragenden Männern von der Feder in Berührung gebracht; wer war berufen,<lb/>
den Memoiren Miguels die gehörige Fassung zu geben? Mit den alten Er¬<lb/>
innerungen gepaart gingen diese Gedanken durch mein Gehirn, da kam die von<lb/>
niemand erwartete Nachricht, daß der eben in den Ruhestand versetzte Staats¬<lb/>
mann gestorben sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1510"> Der Tod zieht den Strich uuter die Rechnung der Meuschen, aber häufig<lb/>
ist sei» Eintreten auch der Anstoß zu einer neuen Bewegung. Kaum hatte<lb/>
ich mich über das Ereignis, das mir die Quelle wirklicher Betrübnis gewesen<lb/>
war, beruhigt, als ich plötzlich von der Pflicht, einen nahen Verwandten zu<lb/>
Grabe zu geleiten, in die bentheimische Heimat gerufen wurde. Da lag denn<lb/>
das alte Neuenhaus wieder im Sonnenschein des warmen Septembertags vor<lb/>
meinen Augen. War es denn noch das alte? &#x2014; Ja und nein. Nein, weil<lb/>
ich nicht mehr von zwei Postpferden über die holprige Straße in das Innere<lb/>
gezogen wurde, sondern weil mich die neue Kreisbahn draußen auf einem<lb/>
modernen Bahnhofe abgesetzt hatte. Von niemand anders als vom &#x201E;Staats¬<lb/>
minister von Miguel" selbst war ich an den Ort meiner Bestimmung befördert<lb/>
worden. Waren da nicht auch ein paar ganz neue Häuser auf dem Wege<lb/>
nach der Stadt? Ja, und in dieser selbst hatten mehrere alte die wurm¬<lb/>
stichigen Hvlzgiebel abgeworfen und dafür frische steinerne hochgezogen. Auch<lb/>
das Geburtshaus des jetzt gestorbnen glänzte in diesem Schmucke, es trug<lb/>
überhaupt kein Zeichen der Trauer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1511" next="#ID_1512"> Sonst aber war alles genau so, wie ich es vor fünfzig Jahren zum ersten¬<lb/>
mal gesehen hatte. Aus alleu alten Ecken und Winkeln drang die Erinnerung<lb/>
auf mich ein, auch durch das Trauergelüute schallte sie in meine Ohren. Als<lb/>
ich hinter der Leiche herschritt, die auf ihrem letzten Wege von mir begleitet<lb/>
wurde, kam mir erneut der Gedanke, daß ich gewiß noch mehr Erinnerungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] Aus ner Heünat Miqiwls darüber ein beredtes Zeugnis ab. Jedermann in der Nachbarschaft wußte, daß die Frau „Doktorin" beim Nahen eines Gewitters in starke nervöse Aufregung geriet. Als nun eines guten Tags in der Abwesenheit ihres Mannes und ihrer Töchter ein starkes Gewitter losbrach, da geschah es, daß die eine Nach¬ barin der andern über die Straße weg zurief, ob schon jemand nach der Frau Hofmedikus gesehen habe, und daß eine dritte das eigne Haus im Stiche ließ, um unter strömendem Regen in das Miquelsche zu eilen. So war die nahe, nähere und nächste Umgebung beschaffen, in der wie die ältern Geschwister das jüngste der Miquelschen Kinder aufwuchs. Es ist für jemand, der eine Zeit lang mit dem Verewigten dieselbe Heimat gemein hatte, natürlich, daß die Erinnerung an alle die Dinge, von denen die Rede war, in seinem Leben dauernd von einigem Belang war. Nicht immer von derselben Stärke, wurde sie jedesmal dann wieder frisch und lebendig, wenn eine hervorragende Wendung im Leben des großen Staatsmanns die Auf¬ merksamkeit der Meuschen auf sich zog. Vollends damals, als es sich vor Monaten bewahrheitete, daß der Kaiser seinen Finanzminister entlassen hatte. Würde er Aufzeichnungen machen, und wenn er es that, würde er es allein thun oder jemand anders zuziehn? Sein Leben hatte ihn mit vielen hervor¬ ragenden Männern von der Feder in Berührung gebracht; wer war berufen, den Memoiren Miguels die gehörige Fassung zu geben? Mit den alten Er¬ innerungen gepaart gingen diese Gedanken durch mein Gehirn, da kam die von niemand erwartete Nachricht, daß der eben in den Ruhestand versetzte Staats¬ mann gestorben sei. Der Tod zieht den Strich uuter die Rechnung der Meuschen, aber häufig ist sei» Eintreten auch der Anstoß zu einer neuen Bewegung. Kaum hatte ich mich über das Ereignis, das mir die Quelle wirklicher Betrübnis gewesen war, beruhigt, als ich plötzlich von der Pflicht, einen nahen Verwandten zu Grabe zu geleiten, in die bentheimische Heimat gerufen wurde. Da lag denn das alte Neuenhaus wieder im Sonnenschein des warmen Septembertags vor meinen Augen. War es denn noch das alte? — Ja und nein. Nein, weil ich nicht mehr von zwei Postpferden über die holprige Straße in das Innere gezogen wurde, sondern weil mich die neue Kreisbahn draußen auf einem modernen Bahnhofe abgesetzt hatte. Von niemand anders als vom „Staats¬ minister von Miguel" selbst war ich an den Ort meiner Bestimmung befördert worden. Waren da nicht auch ein paar ganz neue Häuser auf dem Wege nach der Stadt? Ja, und in dieser selbst hatten mehrere alte die wurm¬ stichigen Hvlzgiebel abgeworfen und dafür frische steinerne hochgezogen. Auch das Geburtshaus des jetzt gestorbnen glänzte in diesem Schmucke, es trug überhaupt kein Zeichen der Trauer. Sonst aber war alles genau so, wie ich es vor fünfzig Jahren zum ersten¬ mal gesehen hatte. Aus alleu alten Ecken und Winkeln drang die Erinnerung auf mich ein, auch durch das Trauergelüute schallte sie in meine Ohren. Als ich hinter der Leiche herschritt, die auf ihrem letzten Wege von mir begleitet wurde, kam mir erneut der Gedanke, daß ich gewiß noch mehr Erinnerungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/395>, abgerufen am 01.09.2024.