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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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waren viele Stunden des Nachmittags dem regelmüßigen Unterricht im Latei¬
nischen, im Griechischen und in andern Gegenständen, besonders der Botanik
und Zoologie gewidmet. Später, als die Sorge um das Fortkommen der
Kinder nicht mehr drängte, blieb doch der Tenor des Miquelschen Familien¬
lebens derselbe. Zwei von den Töchtern waren nicht verheiratet: in keinem
Hanse herrschte ein regeres geistiges Leben als in dein kleinen Kreise, den
Johanna und Minna Miquel mit ihren Eltern bildeten.

Freilich nach außen hin drang davon nur wenig; auch wollen für ge¬
wöhnlich die Menschen ans einer erklärlichen Scheu von höherer Intelligenz
nicht gern etwas wissen. Dagegen erregte um so größeres Interesse alles, was
sich nicht innerhalb der vier Wände des Hauses halten ließ. Die ärztliche
Praxis des alten Doktors hatte sich mit der Zeit keineswegs vermindert. Den
größten Teil von ihr, der auf dein Lande lag, machte der Hofmedikus bis in
sein hohes Alter zu Pferde ub. Das war es besonders, was niemals auf¬
hörte, die Teilnahme nicht bloß der Nachbarschaft, sondern des ganzen Orts
rege zu halten. Oft ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, horchten die
Leute auf den Hufschlag seines Pferdes, und manche Thür und manches
Fenster öffnete sich, weil man den ausreiteudeu oder heimkehrenden Alten zu
sehen gewöhnt war. Besonders wir Jungen auf der Straße waren an
seinem Ausreiter und Zurückkommen mit mehr als bloßer Neugier beteiligt.
Die Erscheinung war allein schon danach. Je nach dem das Wetter war, in
einfachem Rocke oder bei Regen und Wind wie zur Winterszeit mit einem
langen Mantel angethan, auf dem Kopfe eine spitze Mütze, die zur Abhaltung
der Kälte mit Ohrenklappen versehen war, so saß er Tag für Tag aufrecht
und gehobnen Haupts im Sattel, eine Ehrfurcht gebietende Gestalt.

Gern Hütten wir ihm beim Ans- und Absteigen das Pferd oder den Steig¬
bügel gehalten, aber wir wagten es nicht, uns anzubieten, anch Hütte er uns
nicht zugelassen. Die einzige Hilfe, die er entgegennahm, ging von einem
Dienstmädchen aus, denn einen Knecht hatte er nicht, und zwar in früherer
Zeit aus Sparsamkeitsrücksichten, und später weil es einmal Gewohnheit ge¬
worden war. Die Magd mußte das Pferd aus dem Stalle holen und es
dahin zurückbringen. Sie that es mit derselben Bedächtigkeit, wie der Vier¬
füßler den einen Fuß vor den andern setzte, und der Hofmedikus das Bein
zum Aufsteigen vom Boden hob. Der Reiter, das Roß und die Magd ge¬
hörten einmal zusammen, sie sind auch miteinander alt geworden.

Ja, und mit ihnen wurde auch die Frau Hvfmedikns alt, alt in der Liebe
ihres Mannes und ihrer Kinder. Wenn es wahr ist, daß das die besten
Frauen sind, mit denen sich die Öffentlichkeit am wenigsten beschäftigt, so hätte
man schon daraus auf eine hohe Vortrefflichkeit schließen können, aber es war
allgemein bekannt, daß sie eine ebenso gute Frau wie sorgliche Mutter war.
Über die Grenzen ihres Hauses und ihres Gartens trat die alte Dame nur
selten hinaus, es war schon etwas, wenn man sie an der offnen Hausthür
dem Wegreiten ihres Mannes zuschauen sah. Trotzdem erfreute sie sich der
Zuneigung aller ihrer Nachbarn in seltnem Maße. Folgender Vorfall legt


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waren viele Stunden des Nachmittags dem regelmüßigen Unterricht im Latei¬
nischen, im Griechischen und in andern Gegenständen, besonders der Botanik
und Zoologie gewidmet. Später, als die Sorge um das Fortkommen der
Kinder nicht mehr drängte, blieb doch der Tenor des Miquelschen Familien¬
lebens derselbe. Zwei von den Töchtern waren nicht verheiratet: in keinem
Hanse herrschte ein regeres geistiges Leben als in dein kleinen Kreise, den
Johanna und Minna Miquel mit ihren Eltern bildeten.

Freilich nach außen hin drang davon nur wenig; auch wollen für ge¬
wöhnlich die Menschen ans einer erklärlichen Scheu von höherer Intelligenz
nicht gern etwas wissen. Dagegen erregte um so größeres Interesse alles, was
sich nicht innerhalb der vier Wände des Hauses halten ließ. Die ärztliche
Praxis des alten Doktors hatte sich mit der Zeit keineswegs vermindert. Den
größten Teil von ihr, der auf dein Lande lag, machte der Hofmedikus bis in
sein hohes Alter zu Pferde ub. Das war es besonders, was niemals auf¬
hörte, die Teilnahme nicht bloß der Nachbarschaft, sondern des ganzen Orts
rege zu halten. Oft ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, horchten die
Leute auf den Hufschlag seines Pferdes, und manche Thür und manches
Fenster öffnete sich, weil man den ausreiteudeu oder heimkehrenden Alten zu
sehen gewöhnt war. Besonders wir Jungen auf der Straße waren an
seinem Ausreiter und Zurückkommen mit mehr als bloßer Neugier beteiligt.
Die Erscheinung war allein schon danach. Je nach dem das Wetter war, in
einfachem Rocke oder bei Regen und Wind wie zur Winterszeit mit einem
langen Mantel angethan, auf dem Kopfe eine spitze Mütze, die zur Abhaltung
der Kälte mit Ohrenklappen versehen war, so saß er Tag für Tag aufrecht
und gehobnen Haupts im Sattel, eine Ehrfurcht gebietende Gestalt.

Gern Hütten wir ihm beim Ans- und Absteigen das Pferd oder den Steig¬
bügel gehalten, aber wir wagten es nicht, uns anzubieten, anch Hütte er uns
nicht zugelassen. Die einzige Hilfe, die er entgegennahm, ging von einem
Dienstmädchen aus, denn einen Knecht hatte er nicht, und zwar in früherer
Zeit aus Sparsamkeitsrücksichten, und später weil es einmal Gewohnheit ge¬
worden war. Die Magd mußte das Pferd aus dem Stalle holen und es
dahin zurückbringen. Sie that es mit derselben Bedächtigkeit, wie der Vier¬
füßler den einen Fuß vor den andern setzte, und der Hofmedikus das Bein
zum Aufsteigen vom Boden hob. Der Reiter, das Roß und die Magd ge¬
hörten einmal zusammen, sie sind auch miteinander alt geworden.

Ja, und mit ihnen wurde auch die Frau Hvfmedikns alt, alt in der Liebe
ihres Mannes und ihrer Kinder. Wenn es wahr ist, daß das die besten
Frauen sind, mit denen sich die Öffentlichkeit am wenigsten beschäftigt, so hätte
man schon daraus auf eine hohe Vortrefflichkeit schließen können, aber es war
allgemein bekannt, daß sie eine ebenso gute Frau wie sorgliche Mutter war.
Über die Grenzen ihres Hauses und ihres Gartens trat die alte Dame nur
selten hinaus, es war schon etwas, wenn man sie an der offnen Hausthür
dem Wegreiten ihres Mannes zuschauen sah. Trotzdem erfreute sie sich der
Zuneigung aller ihrer Nachbarn in seltnem Maße. Folgender Vorfall legt


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[0394] Ans der Heimat INiqnels waren viele Stunden des Nachmittags dem regelmüßigen Unterricht im Latei¬ nischen, im Griechischen und in andern Gegenständen, besonders der Botanik und Zoologie gewidmet. Später, als die Sorge um das Fortkommen der Kinder nicht mehr drängte, blieb doch der Tenor des Miquelschen Familien¬ lebens derselbe. Zwei von den Töchtern waren nicht verheiratet: in keinem Hanse herrschte ein regeres geistiges Leben als in dein kleinen Kreise, den Johanna und Minna Miquel mit ihren Eltern bildeten. Freilich nach außen hin drang davon nur wenig; auch wollen für ge¬ wöhnlich die Menschen ans einer erklärlichen Scheu von höherer Intelligenz nicht gern etwas wissen. Dagegen erregte um so größeres Interesse alles, was sich nicht innerhalb der vier Wände des Hauses halten ließ. Die ärztliche Praxis des alten Doktors hatte sich mit der Zeit keineswegs vermindert. Den größten Teil von ihr, der auf dein Lande lag, machte der Hofmedikus bis in sein hohes Alter zu Pferde ub. Das war es besonders, was niemals auf¬ hörte, die Teilnahme nicht bloß der Nachbarschaft, sondern des ganzen Orts rege zu halten. Oft ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, horchten die Leute auf den Hufschlag seines Pferdes, und manche Thür und manches Fenster öffnete sich, weil man den ausreiteudeu oder heimkehrenden Alten zu sehen gewöhnt war. Besonders wir Jungen auf der Straße waren an seinem Ausreiter und Zurückkommen mit mehr als bloßer Neugier beteiligt. Die Erscheinung war allein schon danach. Je nach dem das Wetter war, in einfachem Rocke oder bei Regen und Wind wie zur Winterszeit mit einem langen Mantel angethan, auf dem Kopfe eine spitze Mütze, die zur Abhaltung der Kälte mit Ohrenklappen versehen war, so saß er Tag für Tag aufrecht und gehobnen Haupts im Sattel, eine Ehrfurcht gebietende Gestalt. Gern Hütten wir ihm beim Ans- und Absteigen das Pferd oder den Steig¬ bügel gehalten, aber wir wagten es nicht, uns anzubieten, anch Hütte er uns nicht zugelassen. Die einzige Hilfe, die er entgegennahm, ging von einem Dienstmädchen aus, denn einen Knecht hatte er nicht, und zwar in früherer Zeit aus Sparsamkeitsrücksichten, und später weil es einmal Gewohnheit ge¬ worden war. Die Magd mußte das Pferd aus dem Stalle holen und es dahin zurückbringen. Sie that es mit derselben Bedächtigkeit, wie der Vier¬ füßler den einen Fuß vor den andern setzte, und der Hofmedikus das Bein zum Aufsteigen vom Boden hob. Der Reiter, das Roß und die Magd ge¬ hörten einmal zusammen, sie sind auch miteinander alt geworden. Ja, und mit ihnen wurde auch die Frau Hvfmedikns alt, alt in der Liebe ihres Mannes und ihrer Kinder. Wenn es wahr ist, daß das die besten Frauen sind, mit denen sich die Öffentlichkeit am wenigsten beschäftigt, so hätte man schon daraus auf eine hohe Vortrefflichkeit schließen können, aber es war allgemein bekannt, daß sie eine ebenso gute Frau wie sorgliche Mutter war. Über die Grenzen ihres Hauses und ihres Gartens trat die alte Dame nur selten hinaus, es war schon etwas, wenn man sie an der offnen Hausthür dem Wegreiten ihres Mannes zuschauen sah. Trotzdem erfreute sie sich der Zuneigung aller ihrer Nachbarn in seltnem Maße. Folgender Vorfall legt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/394>, abgerufen am 01.09.2024.