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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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hat, den Etat mit aufstellt, die Verhütung eines Fehlbetrags wahrnimmt, die
Erhöhung der Umlagen, wenn sie nötig ist, mitbeschließt, um so weniger wird
er selbst, wenn er Rechte gegen seine Kasse zu verfolgen hat, übertreiben und
simulieren, um so strenger ist auch die unbezahlte, freiwillige und allerwirk-
smnste Beaufsichtigung der Arbeitsgenossen, Es giebt Simulanten aus In¬
telligenz und solche aus Dummheit, Es giebt bewußte und unbewußte. Durch
unsre Nersicherungsgesetze ist eine ganz neue Krankheit entstanden, die sehr
schwer und hartnäckig ja unheilbar sein kann: das Rentensiechtum. Es giebt
Menschen, die, nachdem sie einen Beinbruch erlitten hatten, der vielleicht nicht
als Betriebsunfall gelten kann, aus Rechthaberei uicht gesund werden wollen.
Während ein andrer Mensch nach einem Vierteljahr wieder vollständig her¬
gestellt ist, laufen diese jahrelang an Krücken, sind sich und ihren Angehörigen
eine Last, laufen von einem Arzt zum andern, von einem Prozeß in den andern
und ruhen nicht eher, als bis sie sich und ihre Familien durch Schulden und
Nichtsthun vollständig ruiniert haben. Sie sind zu geisteskranken Querulanten
geworden.

Es giebt andre, die aus Energielosigkeit in denselben Zustand geraten.
Zumal uuter unsern Gästen ans dem Osten giebt es Menschen, die sobald sie
durch einen Unfall für einige Monate ins Bett geraten sind, nur durch Hunger
und Kälte wieder herausgebracht werde" können. So lange aber Krankengeld
kommt oder eine Rente winkt, und sich irgend ein einflußreicher Mann, der
Gutsherr, der Arzt, der Pastor für sie interessiert, so lange ist nicht die ge¬
ringste Aussicht auf Besserung, sie fühlen sich thatsächlich elend, so lange sie
bemitleidet werden. Während ein andrer nach sechs Wochen von selbst auf¬
steht, werden sie immer elender. Nachdem sie ein halbes Jahr im Bett ge¬
legen haben, sind sie nicht mehr imstande, aufrecht zu stehn, also liegen sie
weiter, und wenn man ihnen schließlich in den großen Nervenheilanstalten der
Universitäten begegnet, so bieten sie ein bejammernswertes Bild körperlicher
und geistiger Schwäche, sie leiden an Nentensiechtum,

Der größte Schaden der Bersichernngsgesetzgelumg mit Zwang liegt darin,
daß sie im Einzelnen das Verantivortlichkeitsgefühl für seine Not und für die
Bedürftigkeit seiner Familie erstickt und in ihm planmäßig den Glauben groß
zieht, daß für alles Unglück, das ihn trifft, die Gesamtheit aufkommt, ja sogar
ihm das schuldig sei. Freilich, die menschliche Gesellschaft hat es seit langer
Zeit unter ihre Pflichten gerechnet, den notleidenden Mitmenschen zu pflegen,
Tu den katholischen Jahrhunderten war es die Aufgabe der Kirche, die Arme"
Und die Kranken zu pflegen; sie hatte im Lauf der Jahrhunderte große Kräfte
für diesen Zweck gesammelt, und sie gab so reichlich, daß man zuweilen geneigt
Wurde, Armut, Faulheit nud Bettelei für die Hätschelkinder der Kirche zu
erklären und sie nicht als den Gegenstand, sondern als die Folge des Almoscn-
gebens der Kirche und der Frommen einzusehn. Aber mit dem Kirchenvermögen
wurde in Deutschland und England zu der Zeit der Reformation, in Frankreich
und im katholischen Deutschland zu der Zeit der Revolution gründlich auf-


Gronzboten IV 1901 42

hat, den Etat mit aufstellt, die Verhütung eines Fehlbetrags wahrnimmt, die
Erhöhung der Umlagen, wenn sie nötig ist, mitbeschließt, um so weniger wird
er selbst, wenn er Rechte gegen seine Kasse zu verfolgen hat, übertreiben und
simulieren, um so strenger ist auch die unbezahlte, freiwillige und allerwirk-
smnste Beaufsichtigung der Arbeitsgenossen, Es giebt Simulanten aus In¬
telligenz und solche aus Dummheit, Es giebt bewußte und unbewußte. Durch
unsre Nersicherungsgesetze ist eine ganz neue Krankheit entstanden, die sehr
schwer und hartnäckig ja unheilbar sein kann: das Rentensiechtum. Es giebt
Menschen, die, nachdem sie einen Beinbruch erlitten hatten, der vielleicht nicht
als Betriebsunfall gelten kann, aus Rechthaberei uicht gesund werden wollen.
Während ein andrer Mensch nach einem Vierteljahr wieder vollständig her¬
gestellt ist, laufen diese jahrelang an Krücken, sind sich und ihren Angehörigen
eine Last, laufen von einem Arzt zum andern, von einem Prozeß in den andern
und ruhen nicht eher, als bis sie sich und ihre Familien durch Schulden und
Nichtsthun vollständig ruiniert haben. Sie sind zu geisteskranken Querulanten
geworden.

Es giebt andre, die aus Energielosigkeit in denselben Zustand geraten.
Zumal uuter unsern Gästen ans dem Osten giebt es Menschen, die sobald sie
durch einen Unfall für einige Monate ins Bett geraten sind, nur durch Hunger
und Kälte wieder herausgebracht werde» können. So lange aber Krankengeld
kommt oder eine Rente winkt, und sich irgend ein einflußreicher Mann, der
Gutsherr, der Arzt, der Pastor für sie interessiert, so lange ist nicht die ge¬
ringste Aussicht auf Besserung, sie fühlen sich thatsächlich elend, so lange sie
bemitleidet werden. Während ein andrer nach sechs Wochen von selbst auf¬
steht, werden sie immer elender. Nachdem sie ein halbes Jahr im Bett ge¬
legen haben, sind sie nicht mehr imstande, aufrecht zu stehn, also liegen sie
weiter, und wenn man ihnen schließlich in den großen Nervenheilanstalten der
Universitäten begegnet, so bieten sie ein bejammernswertes Bild körperlicher
und geistiger Schwäche, sie leiden an Nentensiechtum,

Der größte Schaden der Bersichernngsgesetzgelumg mit Zwang liegt darin,
daß sie im Einzelnen das Verantivortlichkeitsgefühl für seine Not und für die
Bedürftigkeit seiner Familie erstickt und in ihm planmäßig den Glauben groß
zieht, daß für alles Unglück, das ihn trifft, die Gesamtheit aufkommt, ja sogar
ihm das schuldig sei. Freilich, die menschliche Gesellschaft hat es seit langer
Zeit unter ihre Pflichten gerechnet, den notleidenden Mitmenschen zu pflegen,
Tu den katholischen Jahrhunderten war es die Aufgabe der Kirche, die Arme«
Und die Kranken zu pflegen; sie hatte im Lauf der Jahrhunderte große Kräfte
für diesen Zweck gesammelt, und sie gab so reichlich, daß man zuweilen geneigt
Wurde, Armut, Faulheit nud Bettelei für die Hätschelkinder der Kirche zu
erklären und sie nicht als den Gegenstand, sondern als die Folge des Almoscn-
gebens der Kirche und der Frommen einzusehn. Aber mit dem Kirchenvermögen
wurde in Deutschland und England zu der Zeit der Reformation, in Frankreich
und im katholischen Deutschland zu der Zeit der Revolution gründlich auf-


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[0337] hat, den Etat mit aufstellt, die Verhütung eines Fehlbetrags wahrnimmt, die Erhöhung der Umlagen, wenn sie nötig ist, mitbeschließt, um so weniger wird er selbst, wenn er Rechte gegen seine Kasse zu verfolgen hat, übertreiben und simulieren, um so strenger ist auch die unbezahlte, freiwillige und allerwirk- smnste Beaufsichtigung der Arbeitsgenossen, Es giebt Simulanten aus In¬ telligenz und solche aus Dummheit, Es giebt bewußte und unbewußte. Durch unsre Nersicherungsgesetze ist eine ganz neue Krankheit entstanden, die sehr schwer und hartnäckig ja unheilbar sein kann: das Rentensiechtum. Es giebt Menschen, die, nachdem sie einen Beinbruch erlitten hatten, der vielleicht nicht als Betriebsunfall gelten kann, aus Rechthaberei uicht gesund werden wollen. Während ein andrer Mensch nach einem Vierteljahr wieder vollständig her¬ gestellt ist, laufen diese jahrelang an Krücken, sind sich und ihren Angehörigen eine Last, laufen von einem Arzt zum andern, von einem Prozeß in den andern und ruhen nicht eher, als bis sie sich und ihre Familien durch Schulden und Nichtsthun vollständig ruiniert haben. Sie sind zu geisteskranken Querulanten geworden. Es giebt andre, die aus Energielosigkeit in denselben Zustand geraten. Zumal uuter unsern Gästen ans dem Osten giebt es Menschen, die sobald sie durch einen Unfall für einige Monate ins Bett geraten sind, nur durch Hunger und Kälte wieder herausgebracht werde» können. So lange aber Krankengeld kommt oder eine Rente winkt, und sich irgend ein einflußreicher Mann, der Gutsherr, der Arzt, der Pastor für sie interessiert, so lange ist nicht die ge¬ ringste Aussicht auf Besserung, sie fühlen sich thatsächlich elend, so lange sie bemitleidet werden. Während ein andrer nach sechs Wochen von selbst auf¬ steht, werden sie immer elender. Nachdem sie ein halbes Jahr im Bett ge¬ legen haben, sind sie nicht mehr imstande, aufrecht zu stehn, also liegen sie weiter, und wenn man ihnen schließlich in den großen Nervenheilanstalten der Universitäten begegnet, so bieten sie ein bejammernswertes Bild körperlicher und geistiger Schwäche, sie leiden an Nentensiechtum, Der größte Schaden der Bersichernngsgesetzgelumg mit Zwang liegt darin, daß sie im Einzelnen das Verantivortlichkeitsgefühl für seine Not und für die Bedürftigkeit seiner Familie erstickt und in ihm planmäßig den Glauben groß zieht, daß für alles Unglück, das ihn trifft, die Gesamtheit aufkommt, ja sogar ihm das schuldig sei. Freilich, die menschliche Gesellschaft hat es seit langer Zeit unter ihre Pflichten gerechnet, den notleidenden Mitmenschen zu pflegen, Tu den katholischen Jahrhunderten war es die Aufgabe der Kirche, die Arme« Und die Kranken zu pflegen; sie hatte im Lauf der Jahrhunderte große Kräfte für diesen Zweck gesammelt, und sie gab so reichlich, daß man zuweilen geneigt Wurde, Armut, Faulheit nud Bettelei für die Hätschelkinder der Kirche zu erklären und sie nicht als den Gegenstand, sondern als die Folge des Almoscn- gebens der Kirche und der Frommen einzusehn. Aber mit dem Kirchenvermögen wurde in Deutschland und England zu der Zeit der Reformation, in Frankreich und im katholischen Deutschland zu der Zeit der Revolution gründlich auf- Gronzboten IV 1901 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/337>, abgerufen am 28.07.2024.