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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Hellenentum und Christentum

ein; daraus erklärt sich das häufige Vorkommen solcher in der ältesten
Bildnerei.

In Homer hat sich der griechische Geist über diese Schrecknisse schon er¬
hoben; sie treten nur selten in den Gesichtskreis seiner Helden, richten ver¬
hältnismäßig geringen Schaden an, und die Abneigung des hellenischen Geistes
vor allem Widerlicher und Häßlichen drückt sich darin aus, daß er sie nicht
beschreibt. Auch die Titanen sind keine bösen Götter. Einer, Atlas, wird
zwar Ä/too^",^ Unheil sinnend, genannt, aber den hundertarmigcn Brinrens
ruft Thetis sogar zum Schutze des Vater Zeus vor einer Verschwörung der
übrigen Olympier zu Hilfe. Die Titanen wohnen in der Unterwelt, aber nicht
als Gefangne oder bestrafte Verbrecher. Hades ist unerbittlich und gleich den
Keren allen Menschen verhaßt, aber er handelt nicht aus Bosheit, sondern
nur als Vollstrecker der Weltordnung, wenn er die Menschen, einen jeden nach
Ablauf seines Lebensfadens, in sein Reich aufnimmt. Wesen, deren Lust und
Lebenszweck es ist, Menschen unglücklich zu machen, scheinen Eris und Ate,
die Zwietracht und die Verblendung zu sein, aber sie tragen doch den Stempel
der Allegorie zu deutlich an der Stirn, als daß man ihre Personifizierung
ernst nehmen könnte. Das Volk hat freilich auch die Allegorien ernst ge¬
nommen, sodaß die allegorisiercndc Dichterphantasie eine unerschöpfliche Quelle
der Götterproduktion wurde; bei Homer treten schon die Nacht, der Schlaf,
die Träume, die Geburtswehen als Personen auf. Eine wmiderschöne Alle¬
gorie, die der christliche Prediger unverändert in seine Predigt aufnehmen
kann, legt er dem edeln Phönix in den Mund, der seinen Pflegcbefohlnen,
den zürnenden Achill, mahnt:


Zähne den heftigen Mut, o Achilleus! Nicht ja geziemt dir
Unbarmherziger Sinnz lenksam sind selber die Götter,
Die doch weit erhabner an Herrlichkeit, Ehr und Gewalt sind.
Diese vermag durch Räuchern und demnwolle Gelübde,
Durch Weinguß und Gedüft ein Sterblicher umzulenken,
Bittend mit Flehn, so sich einer versündiget oder gefehlet.
Denn die reuigen Bitten sind Zeus des Erhabenen Töchter,
Lahn und runzelig zwar, und seitwärts irrenden Auges,
Die da hinter der Schuld voll Sorge sich mühen zu wandeln.
Aber die Schuld ist frisch und hurtig zu Fuß; denn vor allen
Weithin läuft sie voraus, und zuvor in jegliches Land auch
Kommt sie, schabend den Menschen,- doch jene als Heilende folgen.
Wer nun mit Scheu aufnimmt die nahenden Töchter Kronions,
Diesem frommen sie sehr, und hören auch seine Gebete.
Doch wenn einer verschmäht und trotzigen Sinnes sich weigert,
Jetzo flehn die Bitten, dein Zeus Kronion sich nahend,
Daß ihm folge die Schuld, bis er durch Schaden gebüßet.

Freilich hat Voß die christliche Färbung der Stelle dadurch ein wenig ver¬
stärkt, daß er Ate durchweg mit Schuld übersetzt; beide Worte decken sich nur
sehr unvollkommen.


Hellenentum und Christentum

ein; daraus erklärt sich das häufige Vorkommen solcher in der ältesten
Bildnerei.

In Homer hat sich der griechische Geist über diese Schrecknisse schon er¬
hoben; sie treten nur selten in den Gesichtskreis seiner Helden, richten ver¬
hältnismäßig geringen Schaden an, und die Abneigung des hellenischen Geistes
vor allem Widerlicher und Häßlichen drückt sich darin aus, daß er sie nicht
beschreibt. Auch die Titanen sind keine bösen Götter. Einer, Atlas, wird
zwar Ä/too^«,^ Unheil sinnend, genannt, aber den hundertarmigcn Brinrens
ruft Thetis sogar zum Schutze des Vater Zeus vor einer Verschwörung der
übrigen Olympier zu Hilfe. Die Titanen wohnen in der Unterwelt, aber nicht
als Gefangne oder bestrafte Verbrecher. Hades ist unerbittlich und gleich den
Keren allen Menschen verhaßt, aber er handelt nicht aus Bosheit, sondern
nur als Vollstrecker der Weltordnung, wenn er die Menschen, einen jeden nach
Ablauf seines Lebensfadens, in sein Reich aufnimmt. Wesen, deren Lust und
Lebenszweck es ist, Menschen unglücklich zu machen, scheinen Eris und Ate,
die Zwietracht und die Verblendung zu sein, aber sie tragen doch den Stempel
der Allegorie zu deutlich an der Stirn, als daß man ihre Personifizierung
ernst nehmen könnte. Das Volk hat freilich auch die Allegorien ernst ge¬
nommen, sodaß die allegorisiercndc Dichterphantasie eine unerschöpfliche Quelle
der Götterproduktion wurde; bei Homer treten schon die Nacht, der Schlaf,
die Träume, die Geburtswehen als Personen auf. Eine wmiderschöne Alle¬
gorie, die der christliche Prediger unverändert in seine Predigt aufnehmen
kann, legt er dem edeln Phönix in den Mund, der seinen Pflegcbefohlnen,
den zürnenden Achill, mahnt:


Zähne den heftigen Mut, o Achilleus! Nicht ja geziemt dir
Unbarmherziger Sinnz lenksam sind selber die Götter,
Die doch weit erhabner an Herrlichkeit, Ehr und Gewalt sind.
Diese vermag durch Räuchern und demnwolle Gelübde,
Durch Weinguß und Gedüft ein Sterblicher umzulenken,
Bittend mit Flehn, so sich einer versündiget oder gefehlet.
Denn die reuigen Bitten sind Zeus des Erhabenen Töchter,
Lahn und runzelig zwar, und seitwärts irrenden Auges,
Die da hinter der Schuld voll Sorge sich mühen zu wandeln.
Aber die Schuld ist frisch und hurtig zu Fuß; denn vor allen
Weithin läuft sie voraus, und zuvor in jegliches Land auch
Kommt sie, schabend den Menschen,- doch jene als Heilende folgen.
Wer nun mit Scheu aufnimmt die nahenden Töchter Kronions,
Diesem frommen sie sehr, und hören auch seine Gebete.
Doch wenn einer verschmäht und trotzigen Sinnes sich weigert,
Jetzo flehn die Bitten, dein Zeus Kronion sich nahend,
Daß ihm folge die Schuld, bis er durch Schaden gebüßet.

Freilich hat Voß die christliche Färbung der Stelle dadurch ein wenig ver¬
stärkt, daß er Ate durchweg mit Schuld übersetzt; beide Worte decken sich nur
sehr unvollkommen.


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[0298] Hellenentum und Christentum ein; daraus erklärt sich das häufige Vorkommen solcher in der ältesten Bildnerei. In Homer hat sich der griechische Geist über diese Schrecknisse schon er¬ hoben; sie treten nur selten in den Gesichtskreis seiner Helden, richten ver¬ hältnismäßig geringen Schaden an, und die Abneigung des hellenischen Geistes vor allem Widerlicher und Häßlichen drückt sich darin aus, daß er sie nicht beschreibt. Auch die Titanen sind keine bösen Götter. Einer, Atlas, wird zwar Ä/too^«,^ Unheil sinnend, genannt, aber den hundertarmigcn Brinrens ruft Thetis sogar zum Schutze des Vater Zeus vor einer Verschwörung der übrigen Olympier zu Hilfe. Die Titanen wohnen in der Unterwelt, aber nicht als Gefangne oder bestrafte Verbrecher. Hades ist unerbittlich und gleich den Keren allen Menschen verhaßt, aber er handelt nicht aus Bosheit, sondern nur als Vollstrecker der Weltordnung, wenn er die Menschen, einen jeden nach Ablauf seines Lebensfadens, in sein Reich aufnimmt. Wesen, deren Lust und Lebenszweck es ist, Menschen unglücklich zu machen, scheinen Eris und Ate, die Zwietracht und die Verblendung zu sein, aber sie tragen doch den Stempel der Allegorie zu deutlich an der Stirn, als daß man ihre Personifizierung ernst nehmen könnte. Das Volk hat freilich auch die Allegorien ernst ge¬ nommen, sodaß die allegorisiercndc Dichterphantasie eine unerschöpfliche Quelle der Götterproduktion wurde; bei Homer treten schon die Nacht, der Schlaf, die Träume, die Geburtswehen als Personen auf. Eine wmiderschöne Alle¬ gorie, die der christliche Prediger unverändert in seine Predigt aufnehmen kann, legt er dem edeln Phönix in den Mund, der seinen Pflegcbefohlnen, den zürnenden Achill, mahnt: Zähne den heftigen Mut, o Achilleus! Nicht ja geziemt dir Unbarmherziger Sinnz lenksam sind selber die Götter, Die doch weit erhabner an Herrlichkeit, Ehr und Gewalt sind. Diese vermag durch Räuchern und demnwolle Gelübde, Durch Weinguß und Gedüft ein Sterblicher umzulenken, Bittend mit Flehn, so sich einer versündiget oder gefehlet. Denn die reuigen Bitten sind Zeus des Erhabenen Töchter, Lahn und runzelig zwar, und seitwärts irrenden Auges, Die da hinter der Schuld voll Sorge sich mühen zu wandeln. Aber die Schuld ist frisch und hurtig zu Fuß; denn vor allen Weithin läuft sie voraus, und zuvor in jegliches Land auch Kommt sie, schabend den Menschen,- doch jene als Heilende folgen. Wer nun mit Scheu aufnimmt die nahenden Töchter Kronions, Diesem frommen sie sehr, und hören auch seine Gebete. Doch wenn einer verschmäht und trotzigen Sinnes sich weigert, Jetzo flehn die Bitten, dein Zeus Kronion sich nahend, Daß ihm folge die Schuld, bis er durch Schaden gebüßet. Freilich hat Voß die christliche Färbung der Stelle dadurch ein wenig ver¬ stärkt, daß er Ate durchweg mit Schuld übersetzt; beide Worte decken sich nur sehr unvollkommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/298>, abgerufen am 01.09.2024.