Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.liber das Urankenversicherungsgosetz könnte diese unsinnige Last nicht tragen. Die Unzahl der kleinen Fälle ver¬ Die Zwaugsversicherung hat aber noch einen zweiten großen Nachteil: Würde man keine Kassenärzte anstellen, sondern den Versicherten über¬ Freilich ganz so billig wie die Einrichtung der fest angestellten Kassen¬ liber das Urankenversicherungsgosetz könnte diese unsinnige Last nicht tragen. Die Unzahl der kleinen Fälle ver¬ Die Zwaugsversicherung hat aber noch einen zweiten großen Nachteil: Würde man keine Kassenärzte anstellen, sondern den Versicherten über¬ Freilich ganz so billig wie die Einrichtung der fest angestellten Kassen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236114"/> <fw type="header" place="top"> liber das Urankenversicherungsgosetz</fw><lb/> <p xml:id="ID_1142" prev="#ID_1141"> könnte diese unsinnige Last nicht tragen. Die Unzahl der kleinen Fälle ver¬<lb/> anlaßt Fehlkosten bei jeder Kassenorganisation. Wie hoch mögen sich diese<lb/> nutzlosen aber unvermeidlichen Kassenleistnngen belaufen — ich glaube sie<lb/> werden zwanzig Prozent erreichen. Sie sind eine Last aus der Volkswirtschaft,<lb/> die erst durch das Versicherungsgesetz entstanden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1143"> Die Zwaugsversicherung hat aber noch einen zweiten großen Nachteil:<lb/> das ist das Mißtrauen, das die Versicherten gegen die ihnen zugewiesenen, fest<lb/> angestellten Kassenärzte haben. Dieses ist so allgemein, daß der Titel Kassen¬<lb/> arzt schon einen abfälligen Beiklang im Munde des Volkes hat. Das natür¬<lb/> liche Verhältnis zwischen Kranken und Arzt ist das Vertrauen, das die<lb/> Voraussetzung ist für die Ersprießlichkeit der ärztlichen Arbeit. Vertrauen<lb/> schenkt der Kranke und die Mutter eines kranken Kindes nur dem Arzt, den<lb/> sie selbst gewählt hat. Ein Arzt aber, den man ihr vorschreibt, den hat sie<lb/> nicht gewählt, und darum erhält er kein Vertrauen. In einer kleinen Stadt,<lb/> wo wir drei Ärzte waren, und alle eine» Kassenbezirk hatten, kamen die<lb/> Kranken aus dein Bezirk meiner Kollegen häufig zu mir, und die meinigen<lb/> gingen zu ihnen. Sie bezahlten doppelt, erstens ihren Kassenarzt durch ihre<lb/> Kassenbeiträge und zweitens ^den Arzt ihres Vertrauens. Das gehört auch<lb/> zu den Fehlkosten der Zwangsversicherung, aber freilich sie werden nicht in<lb/> den Kassenbüchern als Unkosten gebucht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1144"> Würde man keine Kassenärzte anstellen, sondern den Versicherten über¬<lb/> lassen, den Arzt ihres Vertrauens zu wählen, so würden diese Fehlkosten freilich<lb/> verschwinden, und das wäre ein materieller Gewinn für die Versicherten, wenn<lb/> er sich auch nicht berechnen läßt. Aber es besteht die Gefahr, daß die Kosten<lb/> der Kasse in das Unberechenbare steigen würden. Das Interesse eines Arztes,<lb/> der noch nicht Praxis genug hat und froh ist, wenn er Besuche macheu kaun,<lb/> für die er Bezahlung erhalt, kann sich mit dem Interesse eines Versicherten,<lb/> der nicht krank ist, aber Krankengeld beziehn möchte, und mit dem Interesse<lb/> eines Apothekers, der gern teuer und viel verkaufen möchte, verbinden, die<lb/> Kasse zu plündern. Nun giebt es aber schon eine Einrichtung, die diese Nach¬<lb/> teile vermeidet, nämlich die der beschränkt freien Arztwahl. Eine große Kasse<lb/> stellt den Versicherten die Wahl unter den sechs bis zehn oder zwanzig bei<lb/> ihr „zugelassenen" Ärzten frei. Es besteht dann einige Wahrscheinlichkeit, daß<lb/> der Kranke einen, dem er volles Vertrauen schenkt, wählen kann. Die Kasse<lb/> stellt der Gesamtheit der Ärzte eine Summe zur Verfügung, in die sie sich<lb/> nach eignen Statuten je nach dem Maße von Arbeit, das sie gehabt haben,<lb/> zu teilen haben. Die Kasse kann damit ihren Etat gegen jede Gefahr sichern,<lb/> das Fixum ist aber für die Ärzte ausreichend in den gesunden Jahren, unzu¬<lb/> reichend in den Jahren gehäufter Krankheiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1145" next="#ID_1146"> Freilich ganz so billig wie die Einrichtung der fest angestellten Kassen¬<lb/> ärzte ist die beschränkt freie Arztwahl nicht. Denn wenn die Ärzte aus ihrer<lb/> Kasscuführung der Kasse vorrechnen, daß sie für einen Besuch fünfzig Pfennige<lb/> und für die Konsultation fünfzehn Pfennige bezogen haben, so wird die Kasse</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0292]
liber das Urankenversicherungsgosetz
könnte diese unsinnige Last nicht tragen. Die Unzahl der kleinen Fälle ver¬
anlaßt Fehlkosten bei jeder Kassenorganisation. Wie hoch mögen sich diese
nutzlosen aber unvermeidlichen Kassenleistnngen belaufen — ich glaube sie
werden zwanzig Prozent erreichen. Sie sind eine Last aus der Volkswirtschaft,
die erst durch das Versicherungsgesetz entstanden ist.
Die Zwaugsversicherung hat aber noch einen zweiten großen Nachteil:
das ist das Mißtrauen, das die Versicherten gegen die ihnen zugewiesenen, fest
angestellten Kassenärzte haben. Dieses ist so allgemein, daß der Titel Kassen¬
arzt schon einen abfälligen Beiklang im Munde des Volkes hat. Das natür¬
liche Verhältnis zwischen Kranken und Arzt ist das Vertrauen, das die
Voraussetzung ist für die Ersprießlichkeit der ärztlichen Arbeit. Vertrauen
schenkt der Kranke und die Mutter eines kranken Kindes nur dem Arzt, den
sie selbst gewählt hat. Ein Arzt aber, den man ihr vorschreibt, den hat sie
nicht gewählt, und darum erhält er kein Vertrauen. In einer kleinen Stadt,
wo wir drei Ärzte waren, und alle eine» Kassenbezirk hatten, kamen die
Kranken aus dein Bezirk meiner Kollegen häufig zu mir, und die meinigen
gingen zu ihnen. Sie bezahlten doppelt, erstens ihren Kassenarzt durch ihre
Kassenbeiträge und zweitens ^den Arzt ihres Vertrauens. Das gehört auch
zu den Fehlkosten der Zwangsversicherung, aber freilich sie werden nicht in
den Kassenbüchern als Unkosten gebucht.
Würde man keine Kassenärzte anstellen, sondern den Versicherten über¬
lassen, den Arzt ihres Vertrauens zu wählen, so würden diese Fehlkosten freilich
verschwinden, und das wäre ein materieller Gewinn für die Versicherten, wenn
er sich auch nicht berechnen läßt. Aber es besteht die Gefahr, daß die Kosten
der Kasse in das Unberechenbare steigen würden. Das Interesse eines Arztes,
der noch nicht Praxis genug hat und froh ist, wenn er Besuche macheu kaun,
für die er Bezahlung erhalt, kann sich mit dem Interesse eines Versicherten,
der nicht krank ist, aber Krankengeld beziehn möchte, und mit dem Interesse
eines Apothekers, der gern teuer und viel verkaufen möchte, verbinden, die
Kasse zu plündern. Nun giebt es aber schon eine Einrichtung, die diese Nach¬
teile vermeidet, nämlich die der beschränkt freien Arztwahl. Eine große Kasse
stellt den Versicherten die Wahl unter den sechs bis zehn oder zwanzig bei
ihr „zugelassenen" Ärzten frei. Es besteht dann einige Wahrscheinlichkeit, daß
der Kranke einen, dem er volles Vertrauen schenkt, wählen kann. Die Kasse
stellt der Gesamtheit der Ärzte eine Summe zur Verfügung, in die sie sich
nach eignen Statuten je nach dem Maße von Arbeit, das sie gehabt haben,
zu teilen haben. Die Kasse kann damit ihren Etat gegen jede Gefahr sichern,
das Fixum ist aber für die Ärzte ausreichend in den gesunden Jahren, unzu¬
reichend in den Jahren gehäufter Krankheiten.
Freilich ganz so billig wie die Einrichtung der fest angestellten Kassen¬
ärzte ist die beschränkt freie Arztwahl nicht. Denn wenn die Ärzte aus ihrer
Kasscuführung der Kasse vorrechnen, daß sie für einen Besuch fünfzig Pfennige
und für die Konsultation fünfzehn Pfennige bezogen haben, so wird die Kasse
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