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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Rrankenversicherungsgesetz

Ein Arzt,*) der bei seiner Arbeit dieselben Beobachtungen gemacht hat,
hat vorgeschlagen, man solle doch die Kontrolle dieser leichten Fälle, wo der
vernünftige Mensch nicht gleich einen Arzt braucht -- er wählt als Beispiel
eine leichte Influenza --, nicht wie bisher von dem Arzte verlangen, der
vielleicht dazu -- er wählt als Beispiel das flache Land -- zehn Kilometer
zu fahren hat, sondern solle sich mit der Kontrolle durch geringere Beamte
oder Beauftragte begnügen. Der Augenschein z, B. eines an Lungenentzündung
Erkrankten würde auch einem Laien deutlich sein. Aber hierbei ist übersehen,
daß gerade wenn einer deutlich krank ist, er auch schwer krank ist und deshalb
den Arzt braucht, wenn er aber leicht krank ist, in den meisten Fällen die
Besichtigung durch einen Laien als Kontrolle nicht genügt, weil nur der Arzt
sehen kann, ob hier einer wirklich krank ist oder einer nur Krankengeld schinden
will. Außerdem ist der Übelstand nur vom Standpunkt des Arztes aus au¬
gesehen. Denn die Unzahl der kleinen Fälle vermehrt nicht nur in unwirt¬
schaftlicher Weise die Arbeit des Arztes, sondern auch die des Apothekers und
des Kasseubeamten und belastet den Etat des Krankengelds.

Die leichten Krankheiten sind nnn glücklicherweise die nllerhüufigsten.
Denn jeder Mensch erkrankt in seinem Leben zehnmal leicht, ehe er einmal
schwer erkrankt. Mail kann sich daraus ein Bild machen, wie es in dem
Sprechzimmer eiues viel beschäftigten Kassenarztes aussehen muß. Es giebt
Ärzte, die achtzig bis hundert Kranke in zwei Stunden abfertigen. Nun ist
nichts schwieriger als prüfen, ob einer, der Rheumatismus oder Magendrücken
oder Stiche zu haben behauptet, wirklich krank ist, und was ihm fehlt. Findet
man keine objektiven Symptome, ein Resultat, wozu eigentlich mindestens eine
halbe Stunde mühsamer Untersuchung gehört, so kann mau sich Wohl bei einem
andern Meuscheu auf die subjektiven Symptome verlassen, aber bei einen,
Kassenkranken nicht, denn es kann ja sein, daß er nnr Krankengeld haben will,
weil er keine Arbeit hat. Von dieser allergründlichsten Untersuchung kann
natürlich keine Rede sein. Dazu müßte die Zahl der Arzte verzehnfacht werden,
die Aufgabe eines tüchtigen Kasseuarztes ist es vielmehr, aus diesen achtzig
Menschen erstens die mit sicherm Blick herauszufinden, die gefährlich krank
sind, und bei denen nichts versäumt werden darf, vielleicht drei oder vier unter
allen, und zweitens, die paar wirklichen Drückeberger möglichst kräftig hinaus¬
zuwerfen und die große Masse der andern mit einem tröstenden Rezept, einem
Stück Papier, das Geld kostet, aber nichts leistet, nach Hause zu schicken!
Denn wenn es ihm wirklich einfallen sollte, sie alle zu untersuchen, so würde
es doch der Kasse nicht einfallen, andre Ärzte zu schicken, die für ihn über
Land fahren und die Stadtbesuche machen, also die Zahl der Ärzte zu ver¬
mehren, und angenommen sie thäten es allesamt doch, so wäre von diesem
Augenblick an der Kasseuzwang in Deutschland unmöglich. Denn das Volk



*) Conrads Jahrbücher, Mai 1901. or. Hesse, Zur Revision des Krankenversichcrungs-
"esetzes.
Über das Rrankenversicherungsgesetz

Ein Arzt,*) der bei seiner Arbeit dieselben Beobachtungen gemacht hat,
hat vorgeschlagen, man solle doch die Kontrolle dieser leichten Fälle, wo der
vernünftige Mensch nicht gleich einen Arzt braucht — er wählt als Beispiel
eine leichte Influenza —, nicht wie bisher von dem Arzte verlangen, der
vielleicht dazu — er wählt als Beispiel das flache Land — zehn Kilometer
zu fahren hat, sondern solle sich mit der Kontrolle durch geringere Beamte
oder Beauftragte begnügen. Der Augenschein z, B. eines an Lungenentzündung
Erkrankten würde auch einem Laien deutlich sein. Aber hierbei ist übersehen,
daß gerade wenn einer deutlich krank ist, er auch schwer krank ist und deshalb
den Arzt braucht, wenn er aber leicht krank ist, in den meisten Fällen die
Besichtigung durch einen Laien als Kontrolle nicht genügt, weil nur der Arzt
sehen kann, ob hier einer wirklich krank ist oder einer nur Krankengeld schinden
will. Außerdem ist der Übelstand nur vom Standpunkt des Arztes aus au¬
gesehen. Denn die Unzahl der kleinen Fälle vermehrt nicht nur in unwirt¬
schaftlicher Weise die Arbeit des Arztes, sondern auch die des Apothekers und
des Kasseubeamten und belastet den Etat des Krankengelds.

Die leichten Krankheiten sind nnn glücklicherweise die nllerhüufigsten.
Denn jeder Mensch erkrankt in seinem Leben zehnmal leicht, ehe er einmal
schwer erkrankt. Mail kann sich daraus ein Bild machen, wie es in dem
Sprechzimmer eiues viel beschäftigten Kassenarztes aussehen muß. Es giebt
Ärzte, die achtzig bis hundert Kranke in zwei Stunden abfertigen. Nun ist
nichts schwieriger als prüfen, ob einer, der Rheumatismus oder Magendrücken
oder Stiche zu haben behauptet, wirklich krank ist, und was ihm fehlt. Findet
man keine objektiven Symptome, ein Resultat, wozu eigentlich mindestens eine
halbe Stunde mühsamer Untersuchung gehört, so kann mau sich Wohl bei einem
andern Meuscheu auf die subjektiven Symptome verlassen, aber bei einen,
Kassenkranken nicht, denn es kann ja sein, daß er nnr Krankengeld haben will,
weil er keine Arbeit hat. Von dieser allergründlichsten Untersuchung kann
natürlich keine Rede sein. Dazu müßte die Zahl der Arzte verzehnfacht werden,
die Aufgabe eines tüchtigen Kasseuarztes ist es vielmehr, aus diesen achtzig
Menschen erstens die mit sicherm Blick herauszufinden, die gefährlich krank
sind, und bei denen nichts versäumt werden darf, vielleicht drei oder vier unter
allen, und zweitens, die paar wirklichen Drückeberger möglichst kräftig hinaus¬
zuwerfen und die große Masse der andern mit einem tröstenden Rezept, einem
Stück Papier, das Geld kostet, aber nichts leistet, nach Hause zu schicken!
Denn wenn es ihm wirklich einfallen sollte, sie alle zu untersuchen, so würde
es doch der Kasse nicht einfallen, andre Ärzte zu schicken, die für ihn über
Land fahren und die Stadtbesuche machen, also die Zahl der Ärzte zu ver¬
mehren, und angenommen sie thäten es allesamt doch, so wäre von diesem
Augenblick an der Kasseuzwang in Deutschland unmöglich. Denn das Volk



*) Conrads Jahrbücher, Mai 1901. or. Hesse, Zur Revision des Krankenversichcrungs-
»esetzes.
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[0291] Über das Rrankenversicherungsgesetz Ein Arzt,*) der bei seiner Arbeit dieselben Beobachtungen gemacht hat, hat vorgeschlagen, man solle doch die Kontrolle dieser leichten Fälle, wo der vernünftige Mensch nicht gleich einen Arzt braucht — er wählt als Beispiel eine leichte Influenza —, nicht wie bisher von dem Arzte verlangen, der vielleicht dazu — er wählt als Beispiel das flache Land — zehn Kilometer zu fahren hat, sondern solle sich mit der Kontrolle durch geringere Beamte oder Beauftragte begnügen. Der Augenschein z, B. eines an Lungenentzündung Erkrankten würde auch einem Laien deutlich sein. Aber hierbei ist übersehen, daß gerade wenn einer deutlich krank ist, er auch schwer krank ist und deshalb den Arzt braucht, wenn er aber leicht krank ist, in den meisten Fällen die Besichtigung durch einen Laien als Kontrolle nicht genügt, weil nur der Arzt sehen kann, ob hier einer wirklich krank ist oder einer nur Krankengeld schinden will. Außerdem ist der Übelstand nur vom Standpunkt des Arztes aus au¬ gesehen. Denn die Unzahl der kleinen Fälle vermehrt nicht nur in unwirt¬ schaftlicher Weise die Arbeit des Arztes, sondern auch die des Apothekers und des Kasseubeamten und belastet den Etat des Krankengelds. Die leichten Krankheiten sind nnn glücklicherweise die nllerhüufigsten. Denn jeder Mensch erkrankt in seinem Leben zehnmal leicht, ehe er einmal schwer erkrankt. Mail kann sich daraus ein Bild machen, wie es in dem Sprechzimmer eiues viel beschäftigten Kassenarztes aussehen muß. Es giebt Ärzte, die achtzig bis hundert Kranke in zwei Stunden abfertigen. Nun ist nichts schwieriger als prüfen, ob einer, der Rheumatismus oder Magendrücken oder Stiche zu haben behauptet, wirklich krank ist, und was ihm fehlt. Findet man keine objektiven Symptome, ein Resultat, wozu eigentlich mindestens eine halbe Stunde mühsamer Untersuchung gehört, so kann mau sich Wohl bei einem andern Meuscheu auf die subjektiven Symptome verlassen, aber bei einen, Kassenkranken nicht, denn es kann ja sein, daß er nnr Krankengeld haben will, weil er keine Arbeit hat. Von dieser allergründlichsten Untersuchung kann natürlich keine Rede sein. Dazu müßte die Zahl der Arzte verzehnfacht werden, die Aufgabe eines tüchtigen Kasseuarztes ist es vielmehr, aus diesen achtzig Menschen erstens die mit sicherm Blick herauszufinden, die gefährlich krank sind, und bei denen nichts versäumt werden darf, vielleicht drei oder vier unter allen, und zweitens, die paar wirklichen Drückeberger möglichst kräftig hinaus¬ zuwerfen und die große Masse der andern mit einem tröstenden Rezept, einem Stück Papier, das Geld kostet, aber nichts leistet, nach Hause zu schicken! Denn wenn es ihm wirklich einfallen sollte, sie alle zu untersuchen, so würde es doch der Kasse nicht einfallen, andre Ärzte zu schicken, die für ihn über Land fahren und die Stadtbesuche machen, also die Zahl der Ärzte zu ver¬ mehren, und angenommen sie thäten es allesamt doch, so wäre von diesem Augenblick an der Kasseuzwang in Deutschland unmöglich. Denn das Volk *) Conrads Jahrbücher, Mai 1901. or. Hesse, Zur Revision des Krankenversichcrungs- »esetzes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/291>, abgerufen am 27.07.2024.