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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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das Ziel gemacht. Und so wenig wir die politische Konsequenz dieser Ent¬
wicklung, den modernen Konstitutionalismus aus unserm Staatsleben streichen
möchten, so wenig werden wir den Fortschritt der Pädagogik im protestan¬
tischen Geiste hemmen wollen. Die ganze neuere Entwicklung des Erziehungs¬
und Unterrichtswesens ist von diesem Geiste getragen. Die moderne Didaktik
und Methodenlehre mit ihrem gesteigerten Anspruch an die Selbstthätigkeit des
Lernenden ist germanisch-protestantisches Gewächs; die Pädagogik der romanisch¬
katholischen Länder ist noch heute von ihr fast gar nicht berührt. Ebenso ist
die protestantische Auffassung von der Selbständigkeit der Jugenderziehung,
als eiuer in sich abgeschlossene,: Aufgabe, der Entwicklung einer verhältnis¬
mäßig selbständigen Unterrichtsorganisation innerhalb des staatlichen Gesamt¬
organismus und dadurch einem ungeheuern Aufschwung der Volksbildung in
den germanisch-protestantischen Ländern zu gute gekommen, mit dem die Lüuder
des vorherrschend klerikalen Schulwesens mich nicht entfernt haben Schritt
halten können, wie der Prozentsatz der Analphabeten beweist. Und endlich
dürften auch unbefangne Katholiken kaum noch bestreiten, daß auf dem Grunde
der freien protestantischen Geistesbildung eine Blüte der Wissenschaft empor¬
gewachsen ist, wie sie der Boden des Katholizismus nirgends und niemals
gezeitigt hat.

Und doch wäre es sehr voreilig, zu meinen, daß nun die katholische Be-
vormnndungspädagogik aus dem Geistesleben der Menschheit ausgeschaltet
werden könnte. Solange es Arme im Geiste, solange es menschliche Schwäche
und Unzulänglichkeit giebt, solange ist vvrmundschaftliche Leitung in irgend
einer Form unentbehrlich. Das Bedürfnis danach macht sich heute immer
dringender geltend. Vor allem zeigt sich, daß der Jugendunterricht in der
Volksschule bei der Mehrzahl der Schüler das Ziel der sittlichen Reife nicht
entfernt zu erreichen vermag. Die Notwendigkeit eines besondern Fürsorgc-
erziehuugsgcsetzes, die Rufe nach Vermehrung der Erziehungsanstalten für
sittlich verwahrloste Kinder sind beachtenswerte Symptome. Auch die immer
lautere Forderung des obligatorischen Fortbildnngsuutcrrichts hat ihren Grund
weniger in trüben Erfahrungen bei den für deu praktischen Beruf nötigen
Kenntnissen, als vielmehr in der immer deutlicher zu Tage tretenden sittlichen
Unreife und Roheit der aus der Schule entlassenen Jngend. Man würde
sonst diesen Unterricht auf dem Lande weniger betonen; man würde sonst nicht
Vorschlägen, die Religion in den Lehrplan der Fortbildungsschule aufzunehmen.
Aber die Kriminalstatistik redet eben eine zu deutliche Sprache. Die eine
Thatsache, daß von den zum Militär ausgehöhlten jungen Männern fast jeder
fünfte (19,2 Prozent) schon bestraft ist, müßte die Gleichgiltigsten erschrecken.
Es ist auch kein müßiges oder sinnloses Gerede, daß die Achtung vor der
Autorität im Schwinden sei. Die Klage wäre selbstverständlich sinnlos, wenn
die äußere Autorität durch die Selbstgesetzgebung des sittlichen Bewußtseins
ersetzt würde. Daß dies nicht der Fall ist, ist ihr durchaus zutreffender Sinn.
Mag die Zahl der Geistesmündigen in stetem Wachsen sein; noch ist die Zahl
der ans irgend einem Grunde Unmündigen groß genug. Folglich kann die


das Ziel gemacht. Und so wenig wir die politische Konsequenz dieser Ent¬
wicklung, den modernen Konstitutionalismus aus unserm Staatsleben streichen
möchten, so wenig werden wir den Fortschritt der Pädagogik im protestan¬
tischen Geiste hemmen wollen. Die ganze neuere Entwicklung des Erziehungs¬
und Unterrichtswesens ist von diesem Geiste getragen. Die moderne Didaktik
und Methodenlehre mit ihrem gesteigerten Anspruch an die Selbstthätigkeit des
Lernenden ist germanisch-protestantisches Gewächs; die Pädagogik der romanisch¬
katholischen Länder ist noch heute von ihr fast gar nicht berührt. Ebenso ist
die protestantische Auffassung von der Selbständigkeit der Jugenderziehung,
als eiuer in sich abgeschlossene,: Aufgabe, der Entwicklung einer verhältnis¬
mäßig selbständigen Unterrichtsorganisation innerhalb des staatlichen Gesamt¬
organismus und dadurch einem ungeheuern Aufschwung der Volksbildung in
den germanisch-protestantischen Ländern zu gute gekommen, mit dem die Lüuder
des vorherrschend klerikalen Schulwesens mich nicht entfernt haben Schritt
halten können, wie der Prozentsatz der Analphabeten beweist. Und endlich
dürften auch unbefangne Katholiken kaum noch bestreiten, daß auf dem Grunde
der freien protestantischen Geistesbildung eine Blüte der Wissenschaft empor¬
gewachsen ist, wie sie der Boden des Katholizismus nirgends und niemals
gezeitigt hat.

Und doch wäre es sehr voreilig, zu meinen, daß nun die katholische Be-
vormnndungspädagogik aus dem Geistesleben der Menschheit ausgeschaltet
werden könnte. Solange es Arme im Geiste, solange es menschliche Schwäche
und Unzulänglichkeit giebt, solange ist vvrmundschaftliche Leitung in irgend
einer Form unentbehrlich. Das Bedürfnis danach macht sich heute immer
dringender geltend. Vor allem zeigt sich, daß der Jugendunterricht in der
Volksschule bei der Mehrzahl der Schüler das Ziel der sittlichen Reife nicht
entfernt zu erreichen vermag. Die Notwendigkeit eines besondern Fürsorgc-
erziehuugsgcsetzes, die Rufe nach Vermehrung der Erziehungsanstalten für
sittlich verwahrloste Kinder sind beachtenswerte Symptome. Auch die immer
lautere Forderung des obligatorischen Fortbildnngsuutcrrichts hat ihren Grund
weniger in trüben Erfahrungen bei den für deu praktischen Beruf nötigen
Kenntnissen, als vielmehr in der immer deutlicher zu Tage tretenden sittlichen
Unreife und Roheit der aus der Schule entlassenen Jngend. Man würde
sonst diesen Unterricht auf dem Lande weniger betonen; man würde sonst nicht
Vorschlägen, die Religion in den Lehrplan der Fortbildungsschule aufzunehmen.
Aber die Kriminalstatistik redet eben eine zu deutliche Sprache. Die eine
Thatsache, daß von den zum Militär ausgehöhlten jungen Männern fast jeder
fünfte (19,2 Prozent) schon bestraft ist, müßte die Gleichgiltigsten erschrecken.
Es ist auch kein müßiges oder sinnloses Gerede, daß die Achtung vor der
Autorität im Schwinden sei. Die Klage wäre selbstverständlich sinnlos, wenn
die äußere Autorität durch die Selbstgesetzgebung des sittlichen Bewußtseins
ersetzt würde. Daß dies nicht der Fall ist, ist ihr durchaus zutreffender Sinn.
Mag die Zahl der Geistesmündigen in stetem Wachsen sein; noch ist die Zahl
der ans irgend einem Grunde Unmündigen groß genug. Folglich kann die


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[0237] das Ziel gemacht. Und so wenig wir die politische Konsequenz dieser Ent¬ wicklung, den modernen Konstitutionalismus aus unserm Staatsleben streichen möchten, so wenig werden wir den Fortschritt der Pädagogik im protestan¬ tischen Geiste hemmen wollen. Die ganze neuere Entwicklung des Erziehungs¬ und Unterrichtswesens ist von diesem Geiste getragen. Die moderne Didaktik und Methodenlehre mit ihrem gesteigerten Anspruch an die Selbstthätigkeit des Lernenden ist germanisch-protestantisches Gewächs; die Pädagogik der romanisch¬ katholischen Länder ist noch heute von ihr fast gar nicht berührt. Ebenso ist die protestantische Auffassung von der Selbständigkeit der Jugenderziehung, als eiuer in sich abgeschlossene,: Aufgabe, der Entwicklung einer verhältnis¬ mäßig selbständigen Unterrichtsorganisation innerhalb des staatlichen Gesamt¬ organismus und dadurch einem ungeheuern Aufschwung der Volksbildung in den germanisch-protestantischen Ländern zu gute gekommen, mit dem die Lüuder des vorherrschend klerikalen Schulwesens mich nicht entfernt haben Schritt halten können, wie der Prozentsatz der Analphabeten beweist. Und endlich dürften auch unbefangne Katholiken kaum noch bestreiten, daß auf dem Grunde der freien protestantischen Geistesbildung eine Blüte der Wissenschaft empor¬ gewachsen ist, wie sie der Boden des Katholizismus nirgends und niemals gezeitigt hat. Und doch wäre es sehr voreilig, zu meinen, daß nun die katholische Be- vormnndungspädagogik aus dem Geistesleben der Menschheit ausgeschaltet werden könnte. Solange es Arme im Geiste, solange es menschliche Schwäche und Unzulänglichkeit giebt, solange ist vvrmundschaftliche Leitung in irgend einer Form unentbehrlich. Das Bedürfnis danach macht sich heute immer dringender geltend. Vor allem zeigt sich, daß der Jugendunterricht in der Volksschule bei der Mehrzahl der Schüler das Ziel der sittlichen Reife nicht entfernt zu erreichen vermag. Die Notwendigkeit eines besondern Fürsorgc- erziehuugsgcsetzes, die Rufe nach Vermehrung der Erziehungsanstalten für sittlich verwahrloste Kinder sind beachtenswerte Symptome. Auch die immer lautere Forderung des obligatorischen Fortbildnngsuutcrrichts hat ihren Grund weniger in trüben Erfahrungen bei den für deu praktischen Beruf nötigen Kenntnissen, als vielmehr in der immer deutlicher zu Tage tretenden sittlichen Unreife und Roheit der aus der Schule entlassenen Jngend. Man würde sonst diesen Unterricht auf dem Lande weniger betonen; man würde sonst nicht Vorschlägen, die Religion in den Lehrplan der Fortbildungsschule aufzunehmen. Aber die Kriminalstatistik redet eben eine zu deutliche Sprache. Die eine Thatsache, daß von den zum Militär ausgehöhlten jungen Männern fast jeder fünfte (19,2 Prozent) schon bestraft ist, müßte die Gleichgiltigsten erschrecken. Es ist auch kein müßiges oder sinnloses Gerede, daß die Achtung vor der Autorität im Schwinden sei. Die Klage wäre selbstverständlich sinnlos, wenn die äußere Autorität durch die Selbstgesetzgebung des sittlichen Bewußtseins ersetzt würde. Daß dies nicht der Fall ist, ist ihr durchaus zutreffender Sinn. Mag die Zahl der Geistesmündigen in stetem Wachsen sein; noch ist die Zahl der ans irgend einem Grunde Unmündigen groß genug. Folglich kann die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/237>, abgerufen am 01.09.2024.