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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

Bahn dem Katholizismus in die Arme läuft, mit dem er wetteifern will. Er
muß seine Stärke auf der entgegengesetzten Seite suchen und sich damit trösten,
daß die volle Blüte der echten Sittlichkeit nur auf dem Boden der von
ihm gepflegten Freiheit hcrvorsprießen kann. Die protestantische Pädagogik
mag oft scheitern, wo die katholische noch beachtenswerte äußere Erfolge
ausweisen kann. Aber wo die protestantische Pädagogik überhaupt zu arbeiten
vermag, da vermag sie Höheres und Besseres als die katholische hervorzu¬
bringen.

Denn die katholische Pädagogik ist ihrem Wesen nach genügsam. Weil
das Ideal nicht immer und überall erreicht werden kann, verzichtet sie ganz
darauf. Dadurch, daß die katholische Anschauung die Leitnngsbedürftigkeit der
Masse zur dauernden Unmündigkeit der Menschheit überhaupt übertreibt, er¬
scheint die göttliche Leitung, deren letzte Zwecke für uns unergründlich sind,
als Selbstzweck und letzter Wert, den der Mensch in williger Unterwerfung
anznert'euren hat. Folgerichtig wird dann auch das beauftragte Werkzeug der
göttlichen Leitung ihre Autorität für seine Arbeit und Person in Anspruch nehmen,
und Autorität und Führung bedeutete schließlich für diese Auffassung etwas in
seinem Sinn und Wert durchaus Selbstverständliches. Auch die Jugenderziehung
ist durch ihre Einordnung in die pädagogische Arbeit der Kirche und weiterhin in
die göttliche Menschheitserziehung nichts als ein Teil der Leitung der Seelen,
die ihren Zweck in sich selbst hat. So ist der einzige Wert, den diese Erziehung
schaffen kann, der Gehorsam. Und was dem Protestanten unentbehrliches
Mittel der Erziehung ist, wird dem Katholiken, da er der Leitung und Zucht
von außen niemals entwächst, zum grundlegenden sittlichen Wert überhaupt.
So haftet der katholischen Sittlichkeit notwendig der Charakter der Unfreiheit
um. Die katholische Pädagogik wird niemals die volle Selbstthätigkeit und
Selbständigkeit wecken, auch da nicht, wo sie geweckt werden könnte. Gewiß
muß auch der Blinde gehn, wenn er geführt sein will, aber er kann doch
niemals die Leitung entbehren. So soll nach der Absicht der katholischen Päda¬
gogik der Mensch niemals ganz unabhängig werden und sich der Aufsicht und
Leitung entziehn. Eine Leistung aber, die immerfort der Anregung und Auf¬
sicht von außen bedarf, ist das Ziel alles Drills, aller Abrichtung. Wie nahe
die Gefahr der Dressur für die katholische Erziehung liegt, beweist ihre konse¬
quenteste Ausbildung im Jesuitismus. Gerade als Dressur wird die katholische
Pädagogik, die ihrem Wesen nach die Äußerlichkeit der Handlung betonen muß,
bessere äußere Erfolge aufzuweisen haben. Aber wo die protestantische Er¬
ziehung ihr Ziel erreicht, werden ihre Erfolge ganz anders und viel tiefer
begründet sein, weil sie sich an die innere Gesinnung und die freie Entschließung
des Menschen wendet.

Auf das Ideal, das die protestantische Pädagogik aufstellt, kann nicht ver¬
zichtet werden, weil es das Wesen der Sittlichkeit selbst bezeichnet. Wem es
einmal aufgeleuchtet ist, dem kann es nicht wieder verblassen. Unverkennbar
hat auch das Ideal der geistigen Mündigkeit die moderne Entwicklung be¬
herrscht, und unleugbar hat die Menschheit Fortschritte in der Richtung auf


Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

Bahn dem Katholizismus in die Arme läuft, mit dem er wetteifern will. Er
muß seine Stärke auf der entgegengesetzten Seite suchen und sich damit trösten,
daß die volle Blüte der echten Sittlichkeit nur auf dem Boden der von
ihm gepflegten Freiheit hcrvorsprießen kann. Die protestantische Pädagogik
mag oft scheitern, wo die katholische noch beachtenswerte äußere Erfolge
ausweisen kann. Aber wo die protestantische Pädagogik überhaupt zu arbeiten
vermag, da vermag sie Höheres und Besseres als die katholische hervorzu¬
bringen.

Denn die katholische Pädagogik ist ihrem Wesen nach genügsam. Weil
das Ideal nicht immer und überall erreicht werden kann, verzichtet sie ganz
darauf. Dadurch, daß die katholische Anschauung die Leitnngsbedürftigkeit der
Masse zur dauernden Unmündigkeit der Menschheit überhaupt übertreibt, er¬
scheint die göttliche Leitung, deren letzte Zwecke für uns unergründlich sind,
als Selbstzweck und letzter Wert, den der Mensch in williger Unterwerfung
anznert'euren hat. Folgerichtig wird dann auch das beauftragte Werkzeug der
göttlichen Leitung ihre Autorität für seine Arbeit und Person in Anspruch nehmen,
und Autorität und Führung bedeutete schließlich für diese Auffassung etwas in
seinem Sinn und Wert durchaus Selbstverständliches. Auch die Jugenderziehung
ist durch ihre Einordnung in die pädagogische Arbeit der Kirche und weiterhin in
die göttliche Menschheitserziehung nichts als ein Teil der Leitung der Seelen,
die ihren Zweck in sich selbst hat. So ist der einzige Wert, den diese Erziehung
schaffen kann, der Gehorsam. Und was dem Protestanten unentbehrliches
Mittel der Erziehung ist, wird dem Katholiken, da er der Leitung und Zucht
von außen niemals entwächst, zum grundlegenden sittlichen Wert überhaupt.
So haftet der katholischen Sittlichkeit notwendig der Charakter der Unfreiheit
um. Die katholische Pädagogik wird niemals die volle Selbstthätigkeit und
Selbständigkeit wecken, auch da nicht, wo sie geweckt werden könnte. Gewiß
muß auch der Blinde gehn, wenn er geführt sein will, aber er kann doch
niemals die Leitung entbehren. So soll nach der Absicht der katholischen Päda¬
gogik der Mensch niemals ganz unabhängig werden und sich der Aufsicht und
Leitung entziehn. Eine Leistung aber, die immerfort der Anregung und Auf¬
sicht von außen bedarf, ist das Ziel alles Drills, aller Abrichtung. Wie nahe
die Gefahr der Dressur für die katholische Erziehung liegt, beweist ihre konse¬
quenteste Ausbildung im Jesuitismus. Gerade als Dressur wird die katholische
Pädagogik, die ihrem Wesen nach die Äußerlichkeit der Handlung betonen muß,
bessere äußere Erfolge aufzuweisen haben. Aber wo die protestantische Er¬
ziehung ihr Ziel erreicht, werden ihre Erfolge ganz anders und viel tiefer
begründet sein, weil sie sich an die innere Gesinnung und die freie Entschließung
des Menschen wendet.

Auf das Ideal, das die protestantische Pädagogik aufstellt, kann nicht ver¬
zichtet werden, weil es das Wesen der Sittlichkeit selbst bezeichnet. Wem es
einmal aufgeleuchtet ist, dem kann es nicht wieder verblassen. Unverkennbar
hat auch das Ideal der geistigen Mündigkeit die moderne Entwicklung be¬
herrscht, und unleugbar hat die Menschheit Fortschritte in der Richtung auf


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[0236] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? Bahn dem Katholizismus in die Arme läuft, mit dem er wetteifern will. Er muß seine Stärke auf der entgegengesetzten Seite suchen und sich damit trösten, daß die volle Blüte der echten Sittlichkeit nur auf dem Boden der von ihm gepflegten Freiheit hcrvorsprießen kann. Die protestantische Pädagogik mag oft scheitern, wo die katholische noch beachtenswerte äußere Erfolge ausweisen kann. Aber wo die protestantische Pädagogik überhaupt zu arbeiten vermag, da vermag sie Höheres und Besseres als die katholische hervorzu¬ bringen. Denn die katholische Pädagogik ist ihrem Wesen nach genügsam. Weil das Ideal nicht immer und überall erreicht werden kann, verzichtet sie ganz darauf. Dadurch, daß die katholische Anschauung die Leitnngsbedürftigkeit der Masse zur dauernden Unmündigkeit der Menschheit überhaupt übertreibt, er¬ scheint die göttliche Leitung, deren letzte Zwecke für uns unergründlich sind, als Selbstzweck und letzter Wert, den der Mensch in williger Unterwerfung anznert'euren hat. Folgerichtig wird dann auch das beauftragte Werkzeug der göttlichen Leitung ihre Autorität für seine Arbeit und Person in Anspruch nehmen, und Autorität und Führung bedeutete schließlich für diese Auffassung etwas in seinem Sinn und Wert durchaus Selbstverständliches. Auch die Jugenderziehung ist durch ihre Einordnung in die pädagogische Arbeit der Kirche und weiterhin in die göttliche Menschheitserziehung nichts als ein Teil der Leitung der Seelen, die ihren Zweck in sich selbst hat. So ist der einzige Wert, den diese Erziehung schaffen kann, der Gehorsam. Und was dem Protestanten unentbehrliches Mittel der Erziehung ist, wird dem Katholiken, da er der Leitung und Zucht von außen niemals entwächst, zum grundlegenden sittlichen Wert überhaupt. So haftet der katholischen Sittlichkeit notwendig der Charakter der Unfreiheit um. Die katholische Pädagogik wird niemals die volle Selbstthätigkeit und Selbständigkeit wecken, auch da nicht, wo sie geweckt werden könnte. Gewiß muß auch der Blinde gehn, wenn er geführt sein will, aber er kann doch niemals die Leitung entbehren. So soll nach der Absicht der katholischen Päda¬ gogik der Mensch niemals ganz unabhängig werden und sich der Aufsicht und Leitung entziehn. Eine Leistung aber, die immerfort der Anregung und Auf¬ sicht von außen bedarf, ist das Ziel alles Drills, aller Abrichtung. Wie nahe die Gefahr der Dressur für die katholische Erziehung liegt, beweist ihre konse¬ quenteste Ausbildung im Jesuitismus. Gerade als Dressur wird die katholische Pädagogik, die ihrem Wesen nach die Äußerlichkeit der Handlung betonen muß, bessere äußere Erfolge aufzuweisen haben. Aber wo die protestantische Er¬ ziehung ihr Ziel erreicht, werden ihre Erfolge ganz anders und viel tiefer begründet sein, weil sie sich an die innere Gesinnung und die freie Entschließung des Menschen wendet. Auf das Ideal, das die protestantische Pädagogik aufstellt, kann nicht ver¬ zichtet werden, weil es das Wesen der Sittlichkeit selbst bezeichnet. Wem es einmal aufgeleuchtet ist, dem kann es nicht wieder verblassen. Unverkennbar hat auch das Ideal der geistigen Mündigkeit die moderne Entwicklung be¬ herrscht, und unleugbar hat die Menschheit Fortschritte in der Richtung auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/236>, abgerufen am 15.01.2025.