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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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sollte der Abt in wichtigen Angelegenheiten die Gemeinschaft befragen. Außer
für Beratungen diente der große herrliche Versammlungsraum auch der
Repräsentation bei Besuchen. Ju den kriegerischen Zeiten des vierzehnten
und des fünfzehnten Jahrhunderts schlief dort die zahlreiche Garnison des
Bergs. Seit der Gründung des Michaelsordens 1469 zum Kapitelsaal er¬
hoben, sah er manches glänzende höfische Nitterfest. Später wurde er zum
Aufenthaltsort für die Strafgefciugnen entwürdigt. Wie in der Kirche wurden
hier rücksichtslos Löcher in die Säulen gestemmt, Balken und Bretterver¬
schläge für die einzelnen Abteilungen der Gefangnen gezogen, die hier Wolle
spannen.

Im dritten Stockwerk liegen die leichtesten Räume. Das jetzt sogenannte
clortoir enthält keine Säulen mehr. Die Mauern sind in gotische Nischen auf¬
gelöst, die durch schmucke Säulen in der Fläche der Wand begrenzt werde".
Der ganze Raum wird elastisch von einem Tonnengewölbe überspannt und
wirkt sehr harmonisch als einheitliches Ganze. Er war ursprünglich der Speise¬
saal der Mönche, wie sich daraus ergiebt, daß in einer tiefen Nische noch der
für den Vorleser bestimmte Tisch steht. Während des Mahles durfte nicht
gesprochen werden. Mau lauschte den Stellen aus der Heiligen Schrift, aus
den Kirchenväter" oder Heiligenleben. Die Wirkung der Lektüre wurde durch
malerischen Schmuck an den Wänden erhöht. Häufig findet sich in Refektorien
der Cluniaeeuser das jüngste Gericht dargestellt. Man liebte es, wie es auch
die byzantinische Malordnung direkt vorschreibt, von dein Laster der Unmäßig-
keit und Üppigkeit abzuschrecken, und malte Szenen, in denen die Sünder bei
dem Versuch, auf der Himmelsleiter zu den Engeln emporzuklimmen, ausgleiten
und jählings in den gähnenden Schlund des Drachens abstürzen.

Solchen Schilderungen gegenüber mußte der Kreuzgang mit seiner heitern
lebensfreudigen Kunst wie ein Paradies erscheinen. In luftige Höhe ist hier
der Wandelgang für die Mönche verlegt; an andrer Stelle ließ sich dem Berge
kein Raum abgewinnen. Und uur da konnte er zugleich die für deu Berg
höchst wichtige Funktion des Rcgensnmmlers erfüllen. Diese doppelte Be¬
stimmung prägt sich in seiner Architektur aus. Der ganze rechteckige Raum
Kor 25 Metern Länge und 14 Metern Breite zerfällt in den bedeckten Umgang
und den Innenraum, der unter freiem Himmel liegt. Dieser ist mit Blei-
Platten belegt, die sich leicht dem Rande zu neige". Alles Regenwasser, das
bei der außerordentliche" Regeichöhe des Orts sehr reichlich fällt, fließt nach
dein Rande ab in Röhren und dnrch diese in die große Cisterne unter der
Kirche.

Für den Umgang, der sich nach dem Innenraum zu i" luftigen Galerien
öffnet, war maßgebend, daß er ans die Wölbungen und nicht auf die Säulen
des darunterliegenden Rittersaals zu steh" kam. Deshalb die anßergcwöhn-
^'he Leichtigkeit der Arkade". Das mit farbige" Ziegel" gedeckte Dach wird
^on 220 Granitsäulchen getragen. Hundert vou ihnen, etwas roher aus¬
geführt, ziehn sich die Mauer entlang, durch die nur sehr enge rechtecäge


sollte der Abt in wichtigen Angelegenheiten die Gemeinschaft befragen. Außer
für Beratungen diente der große herrliche Versammlungsraum auch der
Repräsentation bei Besuchen. Ju den kriegerischen Zeiten des vierzehnten
und des fünfzehnten Jahrhunderts schlief dort die zahlreiche Garnison des
Bergs. Seit der Gründung des Michaelsordens 1469 zum Kapitelsaal er¬
hoben, sah er manches glänzende höfische Nitterfest. Später wurde er zum
Aufenthaltsort für die Strafgefciugnen entwürdigt. Wie in der Kirche wurden
hier rücksichtslos Löcher in die Säulen gestemmt, Balken und Bretterver¬
schläge für die einzelnen Abteilungen der Gefangnen gezogen, die hier Wolle
spannen.

Im dritten Stockwerk liegen die leichtesten Räume. Das jetzt sogenannte
clortoir enthält keine Säulen mehr. Die Mauern sind in gotische Nischen auf¬
gelöst, die durch schmucke Säulen in der Fläche der Wand begrenzt werde».
Der ganze Raum wird elastisch von einem Tonnengewölbe überspannt und
wirkt sehr harmonisch als einheitliches Ganze. Er war ursprünglich der Speise¬
saal der Mönche, wie sich daraus ergiebt, daß in einer tiefen Nische noch der
für den Vorleser bestimmte Tisch steht. Während des Mahles durfte nicht
gesprochen werden. Mau lauschte den Stellen aus der Heiligen Schrift, aus
den Kirchenväter» oder Heiligenleben. Die Wirkung der Lektüre wurde durch
malerischen Schmuck an den Wänden erhöht. Häufig findet sich in Refektorien
der Cluniaeeuser das jüngste Gericht dargestellt. Man liebte es, wie es auch
die byzantinische Malordnung direkt vorschreibt, von dein Laster der Unmäßig-
keit und Üppigkeit abzuschrecken, und malte Szenen, in denen die Sünder bei
dem Versuch, auf der Himmelsleiter zu den Engeln emporzuklimmen, ausgleiten
und jählings in den gähnenden Schlund des Drachens abstürzen.

Solchen Schilderungen gegenüber mußte der Kreuzgang mit seiner heitern
lebensfreudigen Kunst wie ein Paradies erscheinen. In luftige Höhe ist hier
der Wandelgang für die Mönche verlegt; an andrer Stelle ließ sich dem Berge
kein Raum abgewinnen. Und uur da konnte er zugleich die für deu Berg
höchst wichtige Funktion des Rcgensnmmlers erfüllen. Diese doppelte Be¬
stimmung prägt sich in seiner Architektur aus. Der ganze rechteckige Raum
Kor 25 Metern Länge und 14 Metern Breite zerfällt in den bedeckten Umgang
und den Innenraum, der unter freiem Himmel liegt. Dieser ist mit Blei-
Platten belegt, die sich leicht dem Rande zu neige». Alles Regenwasser, das
bei der außerordentliche» Regeichöhe des Orts sehr reichlich fällt, fließt nach
dein Rande ab in Röhren und dnrch diese in die große Cisterne unter der
Kirche.

Für den Umgang, der sich nach dem Innenraum zu i» luftigen Galerien
öffnet, war maßgebend, daß er ans die Wölbungen und nicht auf die Säulen
des darunterliegenden Rittersaals zu steh» kam. Deshalb die anßergcwöhn-
^'he Leichtigkeit der Arkade». Das mit farbige» Ziegel» gedeckte Dach wird
^on 220 Granitsäulchen getragen. Hundert vou ihnen, etwas roher aus¬
geführt, ziehn sich die Mauer entlang, durch die nur sehr enge rechtecäge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/203>, abgerufen am 01.09.2024.