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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont Se. Michel und der Michaelskultus

sorgfältig gearbeiteten hohen gotischen Wölbungen über. An mehreren Stellei?
mußten erst, daß genügende Bausläche geschaffen wurde, ausgedehnte Auf¬
mauerungen vorgenommen werden. Denn eine ausgedehnte Kirche braucht
der Berg, weniger für seine Bewohner als für die zahlreichen Gläubigen, die
in immer größern Massen zu dem Wallfahrtsort strömen. Dem Zweck der
Raumgewinnnug war darum der ganze Plan untergeordnet. Das Schiff der
Kirche besteht nach dem romanischen Grundriß aus dem Hauptschiff und zwei
durch je sechs Säulen abgetrennten Nebenschiffen. Die Vierung wird von
vier starken Säulen getragen. Der Chor dagegen wurde fünfschiffig angelegt
mit einem Haupt- und zwei Seitenschiffen zu jeder Seite. Ju der Kirche
fehlen die sonst in großen Kathedralen üblichen Kapellen, während im Chor
an dem halbkreisförmigen Abschluß des Hauptschiffs fünf Apsiden angebaut
sind. Die Säulen wurden verdünnt, die innern Stützen möglichst bescheiden
angelegt, jedoch von außen viel Strebewerk angebracht. Säulen und Türmchen,
Gesimse und Wimperge, das Stab- und Maßwerk überziehn besonders auf
der Westseite den ganzen Bau spitzenartig.

Der im sogenannten se/Jo Ilainboyaiit ausgeführte Chor und die Apsiden
gehören zu deu bedeutendsten und vollendetsten der Spätgotik. Während sie
nämlich in der Regel sowohl die ältesten als mich die einfachsten und festesten
Teile der Kirche bilden, weil dort meist die Konstruktion der Kirche begonnen
wurde, und der Druck der Gewölbe noch nicht von andern Bauteilen mitgetragen
werden konnte, wurden sie hier bei der Wiederherstellung nach dem Brand im fünf¬
zehnten Jahrhundert an das noch bestehende Hauptschiff angelehnt und konnten
eine reiche Durchbildung erfahren. Sie erinnern durch ihren leichten eleganten
Aufbau und die prachtvolle Dekoration in mancher Beziehung an Se. Maclon
in Rouen, die glänzendste Probe dieser Nachblüte der Gotik in der Normandie.
Die Fenster zeigen die spätgotische bewegte Form der züngelnden Flammen
oder der Fischblase; das Triforium, die um den Chor herumlaufende Säuleu¬
galerie in rosa Granit, wirkt besonders anmutig. In der Ornamentation
macht sich das Streben nach größerer Naturwahrheit in den Formen der
Blätter und Blumen geltend. Sie verzichtet öfter auf den engen Zusammen¬
hang mit der zu Grunde liegenden Architektur. Ebensowenig find mit dieser
einige Einzelheiten der Ornamentation verwachsen, die von der nach Karls VIII.
italienischem Zug auch in Frankreich langsam eindringenden Renaissancekunst
übernommen wurden, Arabesken, seltne Blnmenfvrmen, antike Kapitale oder
der Antike nachgeahmte Köpfe. Dasselbe gilt von einigen niedersächsischen
Motiven, für deren Herkunft noch der direkte Nachweis fehlt.

Von Bildwerken ist außer einigen merkwürdigen bemalten Basreliefs
im Innern das Bogenfeld des Portals wohl das älteste. In naiver Weise
weist es auf die Bedeutung der Kirche hin. Der Legende folgend ist der Erz¬
engel dargestellt, wie er dem heiligen Autpert im Schlafe erscheint und seinen
Finger in den Schädel eindrückt mit dem Befehl, eine Kirche auf dem Felsen
zu errichten. Wer konnte noch um der Wirklichkeit des Vorgangs zweifeln,


Mont Se. Michel und der Michaelskultus

sorgfältig gearbeiteten hohen gotischen Wölbungen über. An mehreren Stellei?
mußten erst, daß genügende Bausläche geschaffen wurde, ausgedehnte Auf¬
mauerungen vorgenommen werden. Denn eine ausgedehnte Kirche braucht
der Berg, weniger für seine Bewohner als für die zahlreichen Gläubigen, die
in immer größern Massen zu dem Wallfahrtsort strömen. Dem Zweck der
Raumgewinnnug war darum der ganze Plan untergeordnet. Das Schiff der
Kirche besteht nach dem romanischen Grundriß aus dem Hauptschiff und zwei
durch je sechs Säulen abgetrennten Nebenschiffen. Die Vierung wird von
vier starken Säulen getragen. Der Chor dagegen wurde fünfschiffig angelegt
mit einem Haupt- und zwei Seitenschiffen zu jeder Seite. Ju der Kirche
fehlen die sonst in großen Kathedralen üblichen Kapellen, während im Chor
an dem halbkreisförmigen Abschluß des Hauptschiffs fünf Apsiden angebaut
sind. Die Säulen wurden verdünnt, die innern Stützen möglichst bescheiden
angelegt, jedoch von außen viel Strebewerk angebracht. Säulen und Türmchen,
Gesimse und Wimperge, das Stab- und Maßwerk überziehn besonders auf
der Westseite den ganzen Bau spitzenartig.

Der im sogenannten se/Jo Ilainboyaiit ausgeführte Chor und die Apsiden
gehören zu deu bedeutendsten und vollendetsten der Spätgotik. Während sie
nämlich in der Regel sowohl die ältesten als mich die einfachsten und festesten
Teile der Kirche bilden, weil dort meist die Konstruktion der Kirche begonnen
wurde, und der Druck der Gewölbe noch nicht von andern Bauteilen mitgetragen
werden konnte, wurden sie hier bei der Wiederherstellung nach dem Brand im fünf¬
zehnten Jahrhundert an das noch bestehende Hauptschiff angelehnt und konnten
eine reiche Durchbildung erfahren. Sie erinnern durch ihren leichten eleganten
Aufbau und die prachtvolle Dekoration in mancher Beziehung an Se. Maclon
in Rouen, die glänzendste Probe dieser Nachblüte der Gotik in der Normandie.
Die Fenster zeigen die spätgotische bewegte Form der züngelnden Flammen
oder der Fischblase; das Triforium, die um den Chor herumlaufende Säuleu¬
galerie in rosa Granit, wirkt besonders anmutig. In der Ornamentation
macht sich das Streben nach größerer Naturwahrheit in den Formen der
Blätter und Blumen geltend. Sie verzichtet öfter auf den engen Zusammen¬
hang mit der zu Grunde liegenden Architektur. Ebensowenig find mit dieser
einige Einzelheiten der Ornamentation verwachsen, die von der nach Karls VIII.
italienischem Zug auch in Frankreich langsam eindringenden Renaissancekunst
übernommen wurden, Arabesken, seltne Blnmenfvrmen, antike Kapitale oder
der Antike nachgeahmte Köpfe. Dasselbe gilt von einigen niedersächsischen
Motiven, für deren Herkunft noch der direkte Nachweis fehlt.

Von Bildwerken ist außer einigen merkwürdigen bemalten Basreliefs
im Innern das Bogenfeld des Portals wohl das älteste. In naiver Weise
weist es auf die Bedeutung der Kirche hin. Der Legende folgend ist der Erz¬
engel dargestellt, wie er dem heiligen Autpert im Schlafe erscheint und seinen
Finger in den Schädel eindrückt mit dem Befehl, eine Kirche auf dem Felsen
zu errichten. Wer konnte noch um der Wirklichkeit des Vorgangs zweifeln,


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[0200] Mont Se. Michel und der Michaelskultus sorgfältig gearbeiteten hohen gotischen Wölbungen über. An mehreren Stellei? mußten erst, daß genügende Bausläche geschaffen wurde, ausgedehnte Auf¬ mauerungen vorgenommen werden. Denn eine ausgedehnte Kirche braucht der Berg, weniger für seine Bewohner als für die zahlreichen Gläubigen, die in immer größern Massen zu dem Wallfahrtsort strömen. Dem Zweck der Raumgewinnnug war darum der ganze Plan untergeordnet. Das Schiff der Kirche besteht nach dem romanischen Grundriß aus dem Hauptschiff und zwei durch je sechs Säulen abgetrennten Nebenschiffen. Die Vierung wird von vier starken Säulen getragen. Der Chor dagegen wurde fünfschiffig angelegt mit einem Haupt- und zwei Seitenschiffen zu jeder Seite. Ju der Kirche fehlen die sonst in großen Kathedralen üblichen Kapellen, während im Chor an dem halbkreisförmigen Abschluß des Hauptschiffs fünf Apsiden angebaut sind. Die Säulen wurden verdünnt, die innern Stützen möglichst bescheiden angelegt, jedoch von außen viel Strebewerk angebracht. Säulen und Türmchen, Gesimse und Wimperge, das Stab- und Maßwerk überziehn besonders auf der Westseite den ganzen Bau spitzenartig. Der im sogenannten se/Jo Ilainboyaiit ausgeführte Chor und die Apsiden gehören zu deu bedeutendsten und vollendetsten der Spätgotik. Während sie nämlich in der Regel sowohl die ältesten als mich die einfachsten und festesten Teile der Kirche bilden, weil dort meist die Konstruktion der Kirche begonnen wurde, und der Druck der Gewölbe noch nicht von andern Bauteilen mitgetragen werden konnte, wurden sie hier bei der Wiederherstellung nach dem Brand im fünf¬ zehnten Jahrhundert an das noch bestehende Hauptschiff angelehnt und konnten eine reiche Durchbildung erfahren. Sie erinnern durch ihren leichten eleganten Aufbau und die prachtvolle Dekoration in mancher Beziehung an Se. Maclon in Rouen, die glänzendste Probe dieser Nachblüte der Gotik in der Normandie. Die Fenster zeigen die spätgotische bewegte Form der züngelnden Flammen oder der Fischblase; das Triforium, die um den Chor herumlaufende Säuleu¬ galerie in rosa Granit, wirkt besonders anmutig. In der Ornamentation macht sich das Streben nach größerer Naturwahrheit in den Formen der Blätter und Blumen geltend. Sie verzichtet öfter auf den engen Zusammen¬ hang mit der zu Grunde liegenden Architektur. Ebensowenig find mit dieser einige Einzelheiten der Ornamentation verwachsen, die von der nach Karls VIII. italienischem Zug auch in Frankreich langsam eindringenden Renaissancekunst übernommen wurden, Arabesken, seltne Blnmenfvrmen, antike Kapitale oder der Antike nachgeahmte Köpfe. Dasselbe gilt von einigen niedersächsischen Motiven, für deren Herkunft noch der direkte Nachweis fehlt. Von Bildwerken ist außer einigen merkwürdigen bemalten Basreliefs im Innern das Bogenfeld des Portals wohl das älteste. In naiver Weise weist es auf die Bedeutung der Kirche hin. Der Legende folgend ist der Erz¬ engel dargestellt, wie er dem heiligen Autpert im Schlafe erscheint und seinen Finger in den Schädel eindrückt mit dem Befehl, eine Kirche auf dem Felsen zu errichten. Wer konnte noch um der Wirklichkeit des Vorgangs zweifeln,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/200>, abgerufen am 01.09.2024.