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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Die Ergebnisse der Kalevalaforschmig

sammen, die ihm als beste und ursprünglichste erschien, strich da und dort eine
Stelle, fügte da und dort eine hinzu, verfeinerte und verbesserte die Sprache
und das Metrum, Auf diese Weise entstanden ganz neue Nunen, die mit den
vom Volksmund überlieferten weder nach Form und Umfang, noch uach Inhalt
identisch waren. Die so erhaltnen Runen fügte Lönnrot schließlich zu einem
einheitlichen Ganzen zusammen nach einem Schema, das er sich in seiner
Phantasie gebildet hatte.

Wie Lönnrot bei der Schaffung der Kalevaladichtung zu Werke ging, ist
am besten an den sogenannten Schöpfungsrnnen, das sind die beiden ersten
Gesänge, zu erkennen. In der ersten Kalevalarune wird nach einer kurzen
Einleitung die Schöpfung der Welt erzählt: Die "Jungfrau der Luft" wird
der ewig einsamen Öde überdrüssig, läßt sich zum Meer herab und schwimmt
darauf umher. Eine Ente kommt geflogen und sucht nach einer Stelle, wo
sie ihr Nest bauen könnte. Da hebt die Jungfrnn der Luft ihr Knie aus
dem Meere, und die Ente baut darauf ihr Nest und legt sieben Eier hinein.
Die "Jungfrau der Luft" schaukelt mit dem Knie, die Eier fallen ins Meer
und zerbrechen. Aus den Bruchstücken entstehn Erde und Himmel, Sonne und
Mond, Sterne und Wolken! Darauf schafft sie Landzungen, Buchten und
Strand und gebärt schließlich Vmnämöinen, der lange auf dem Meere umher¬
irrt, bis er endlich ans Land steigt. In der zweiten Rune wird berichtet,
wie er Sampsa Pellervoinen ausschickt, Bäume und Sträucher nnzupslanzeu.
Unter anderen wächst eine Eiche, die schließlich so hoch und üppig wird, daß
man weder Sonne noch Mond sehen kann. Auf Väinämöinens Bitte sendet
seine Mutter einen kleinen Mann, der die Eiche fällt, sodaß die Sonne wieder
ihre Segen bringenden Strahlen über das Land verbreiten kann, Vüinä-
möincn fällt sodann Bäume, verbrennt sie mittels des Feuers, das ihm ein
Adler gebracht, sät Korn in die Asche und bittet um glückliches Wachstum
der Saat.

In den im Volksmund erhaltnen Varianten wird Väinämöinens Ge¬
burt niemals mit den Schöpfungsruneu verbunden, wie dies in der Kalevnla
geschieht. Seine Mutter wird Jro genannt oder auch Pohjolns Jungfrau, nur
in einigen Beschwörungsformeln wird sie "Jungfrau der Luft" genannt.
Rune zwei ist zusammengesetzt aus drei Runen, deren jede für sich gesungen
wurde, nämlich aus einer Rune über das Urbarmachen und Besäen der Erde,
einer über die große Eiche und einer über den Anbau des Korns. Die erste
Rune ist eigentlich eine Beschwörungsformel, die bei Verwundungen angewandt
wurde. Die Rune über den Anbau des Korns war eine Art Frühlingslied,
das bei einem halbheidnischen Frühlingsfeste von den Finnen Jngermanlands
gesungen zu werden pflegte.

Ein weiteres Beispiel, wie Lönnrot bei der Zusammensetzung seiner Kale-
vala vorging, liefern die Ainogesänge, Diese bestehn eigentlich aus drei Teilen:
dem Welt- oder Preissingen, dem eigentlichen Ainosang und dem Fischen uach
der ertrnnluen Amo, Das Wettsingen wurde vom Volk nie in Verbindung


Die Ergebnisse der Kalevalaforschmig

sammen, die ihm als beste und ursprünglichste erschien, strich da und dort eine
Stelle, fügte da und dort eine hinzu, verfeinerte und verbesserte die Sprache
und das Metrum, Auf diese Weise entstanden ganz neue Nunen, die mit den
vom Volksmund überlieferten weder nach Form und Umfang, noch uach Inhalt
identisch waren. Die so erhaltnen Runen fügte Lönnrot schließlich zu einem
einheitlichen Ganzen zusammen nach einem Schema, das er sich in seiner
Phantasie gebildet hatte.

Wie Lönnrot bei der Schaffung der Kalevaladichtung zu Werke ging, ist
am besten an den sogenannten Schöpfungsrnnen, das sind die beiden ersten
Gesänge, zu erkennen. In der ersten Kalevalarune wird nach einer kurzen
Einleitung die Schöpfung der Welt erzählt: Die „Jungfrau der Luft" wird
der ewig einsamen Öde überdrüssig, läßt sich zum Meer herab und schwimmt
darauf umher. Eine Ente kommt geflogen und sucht nach einer Stelle, wo
sie ihr Nest bauen könnte. Da hebt die Jungfrnn der Luft ihr Knie aus
dem Meere, und die Ente baut darauf ihr Nest und legt sieben Eier hinein.
Die „Jungfrau der Luft" schaukelt mit dem Knie, die Eier fallen ins Meer
und zerbrechen. Aus den Bruchstücken entstehn Erde und Himmel, Sonne und
Mond, Sterne und Wolken! Darauf schafft sie Landzungen, Buchten und
Strand und gebärt schließlich Vmnämöinen, der lange auf dem Meere umher¬
irrt, bis er endlich ans Land steigt. In der zweiten Rune wird berichtet,
wie er Sampsa Pellervoinen ausschickt, Bäume und Sträucher nnzupslanzeu.
Unter anderen wächst eine Eiche, die schließlich so hoch und üppig wird, daß
man weder Sonne noch Mond sehen kann. Auf Väinämöinens Bitte sendet
seine Mutter einen kleinen Mann, der die Eiche fällt, sodaß die Sonne wieder
ihre Segen bringenden Strahlen über das Land verbreiten kann, Vüinä-
möincn fällt sodann Bäume, verbrennt sie mittels des Feuers, das ihm ein
Adler gebracht, sät Korn in die Asche und bittet um glückliches Wachstum
der Saat.

In den im Volksmund erhaltnen Varianten wird Väinämöinens Ge¬
burt niemals mit den Schöpfungsruneu verbunden, wie dies in der Kalevnla
geschieht. Seine Mutter wird Jro genannt oder auch Pohjolns Jungfrau, nur
in einigen Beschwörungsformeln wird sie „Jungfrau der Luft" genannt.
Rune zwei ist zusammengesetzt aus drei Runen, deren jede für sich gesungen
wurde, nämlich aus einer Rune über das Urbarmachen und Besäen der Erde,
einer über die große Eiche und einer über den Anbau des Korns. Die erste
Rune ist eigentlich eine Beschwörungsformel, die bei Verwundungen angewandt
wurde. Die Rune über den Anbau des Korns war eine Art Frühlingslied,
das bei einem halbheidnischen Frühlingsfeste von den Finnen Jngermanlands
gesungen zu werden pflegte.

Ein weiteres Beispiel, wie Lönnrot bei der Zusammensetzung seiner Kale-
vala vorging, liefern die Ainogesänge, Diese bestehn eigentlich aus drei Teilen:
dem Welt- oder Preissingen, dem eigentlichen Ainosang und dem Fischen uach
der ertrnnluen Amo, Das Wettsingen wurde vom Volk nie in Verbindung


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[0191] Die Ergebnisse der Kalevalaforschmig sammen, die ihm als beste und ursprünglichste erschien, strich da und dort eine Stelle, fügte da und dort eine hinzu, verfeinerte und verbesserte die Sprache und das Metrum, Auf diese Weise entstanden ganz neue Nunen, die mit den vom Volksmund überlieferten weder nach Form und Umfang, noch uach Inhalt identisch waren. Die so erhaltnen Runen fügte Lönnrot schließlich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen nach einem Schema, das er sich in seiner Phantasie gebildet hatte. Wie Lönnrot bei der Schaffung der Kalevaladichtung zu Werke ging, ist am besten an den sogenannten Schöpfungsrnnen, das sind die beiden ersten Gesänge, zu erkennen. In der ersten Kalevalarune wird nach einer kurzen Einleitung die Schöpfung der Welt erzählt: Die „Jungfrau der Luft" wird der ewig einsamen Öde überdrüssig, läßt sich zum Meer herab und schwimmt darauf umher. Eine Ente kommt geflogen und sucht nach einer Stelle, wo sie ihr Nest bauen könnte. Da hebt die Jungfrnn der Luft ihr Knie aus dem Meere, und die Ente baut darauf ihr Nest und legt sieben Eier hinein. Die „Jungfrau der Luft" schaukelt mit dem Knie, die Eier fallen ins Meer und zerbrechen. Aus den Bruchstücken entstehn Erde und Himmel, Sonne und Mond, Sterne und Wolken! Darauf schafft sie Landzungen, Buchten und Strand und gebärt schließlich Vmnämöinen, der lange auf dem Meere umher¬ irrt, bis er endlich ans Land steigt. In der zweiten Rune wird berichtet, wie er Sampsa Pellervoinen ausschickt, Bäume und Sträucher nnzupslanzeu. Unter anderen wächst eine Eiche, die schließlich so hoch und üppig wird, daß man weder Sonne noch Mond sehen kann. Auf Väinämöinens Bitte sendet seine Mutter einen kleinen Mann, der die Eiche fällt, sodaß die Sonne wieder ihre Segen bringenden Strahlen über das Land verbreiten kann, Vüinä- möincn fällt sodann Bäume, verbrennt sie mittels des Feuers, das ihm ein Adler gebracht, sät Korn in die Asche und bittet um glückliches Wachstum der Saat. In den im Volksmund erhaltnen Varianten wird Väinämöinens Ge¬ burt niemals mit den Schöpfungsruneu verbunden, wie dies in der Kalevnla geschieht. Seine Mutter wird Jro genannt oder auch Pohjolns Jungfrau, nur in einigen Beschwörungsformeln wird sie „Jungfrau der Luft" genannt. Rune zwei ist zusammengesetzt aus drei Runen, deren jede für sich gesungen wurde, nämlich aus einer Rune über das Urbarmachen und Besäen der Erde, einer über die große Eiche und einer über den Anbau des Korns. Die erste Rune ist eigentlich eine Beschwörungsformel, die bei Verwundungen angewandt wurde. Die Rune über den Anbau des Korns war eine Art Frühlingslied, das bei einem halbheidnischen Frühlingsfeste von den Finnen Jngermanlands gesungen zu werden pflegte. Ein weiteres Beispiel, wie Lönnrot bei der Zusammensetzung seiner Kale- vala vorging, liefern die Ainogesänge, Diese bestehn eigentlich aus drei Teilen: dem Welt- oder Preissingen, dem eigentlichen Ainosang und dem Fischen uach der ertrnnluen Amo, Das Wettsingen wurde vom Volk nie in Verbindung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/191>, abgerufen am 28.07.2024.