Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

der mit größter Pietät und Sorgfalt all seine Aufzeichnungen aufbewahrt
hatte. Dadurch wurde es möglich, jede Rune in der mehr oder weniger aus¬
gebildeten Form, in der sie sich in den verschiednen Gegenden des Landes er¬
halten hatte -- und diese Varianten gehn ins unendliche --, zu studieren,
nach ihrem Alter, Ursprung usw. zu forschen.

Im folgenden mögen die Ergebnisse der Kalevalaforschung auf Grund
der Broschüre: Om Zlslsvala, I?inlmriuzs irirtionglsxos 00I1 torsKninZarng. rörlmäv
"lcitWinrng, X. 1Z, ^Vildrmä (MrsninASir HsimäcUs kolkskriktvr 71,
?. ^. U'ol'stsät voir söirsrs KMA, LtcxMiolm, 1901), Dozenten der finnischen
und lappischer Sprache an der Universität Upsala, mitgeteilt und erörtert
werden.

Die Ergebnisse der Kalevalaforschung sind kurz folgende: 1. Die Haupt¬
handlung in der Kalevala und der ganze Gang der Schilderungen rührt nicht
vom Volke her, ist nicht nur auf Grund des von Lönnrot vvrgefnndnen
Materials "zusammengestellt," sondern direkt von ihm verfaßt; mithin ist die
Kalevala kein Volkepos. 2. Das Alter der Dichtung fällt zusammen mit dein
Druckjahr. 3. Ihr Entstehungsort ist Lönnrvts Schreibtisch. 4. Die dereinst
in den Himmel erhobne Dichtung hat bedeutende Mängel aufzuweisen.

Daß die Kalevala kein Volksepos ist, ergiebt sich zunächst daraus, daß
die einzelnen Runen, aus denen die von Lönnrot herausgegebne Dichtung
besteht, von den verschiednen Volkssängern, aus deren Munde er sie gehört
und nach deren Mitteilungen er sie aufgezeichnet hat, nicht nur in verschiedner
Reihenfolge, sondern auch verschieden nach Form, Umfang (die im Volksmund
erhaltnen Runen sind alle ziemlich kurz und erreichen bei weitem nicht den
Umfang eines der gedruckten Kalevalaliedcr) und Inhalt vorgetragen wurden;
daß in ein und derselben Rune dieser Volkssänger bald der eine, bald der
andre der vielen Kalevalahelden zur Hauptperson wird, und daß, was die
Hauptsache ist, die Volkssänger, auch die bessern von ihnen, keine Ahnung
hatten von einem innern Zusammenhang der von ihnen gesnnguen Runen;
daß ihnen ein gewisses Grundmotiv der Dichtung, wie sie gegenwärtig vor¬
liegt, das sich gleichsam als "roter Faden" durch all die Runen hindurch¬
gezogen und sie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hätte -- unbeschadet
der Variationen, die die einzelnen Gesänge im Laufe der Zeit und in den
verschiednen Gegenden des Landes natürlicherweise erlitten hatten --, ganz un¬
bekannt war.

Wäre dieser "rote Faden" vorhanden gewesen, der Lönnrot als Führer
bei Zusammenstellung der Kalevaladichtnng hätte dienen können, wäre also
die Handlung in ihren Grundzügen vom Volke selbst gegeben gewesen, dann
könnte man die Kalevala als Volksepos erklären. Jeder Volkssänger verfuhr
mit den einzelnen Runen nach eignem Gutdünken, und Lönnrot, der ja eine
weit größere Anzahl Runen kannte als irgend einer der Sänger, machte es
in gutem Glauben ebenso. Aus deu verschiednett Varianten, in denen eine
Rune aufgezeichnet war, stellte er die betreffende Rune in der Gestalt zu-


der mit größter Pietät und Sorgfalt all seine Aufzeichnungen aufbewahrt
hatte. Dadurch wurde es möglich, jede Rune in der mehr oder weniger aus¬
gebildeten Form, in der sie sich in den verschiednen Gegenden des Landes er¬
halten hatte — und diese Varianten gehn ins unendliche —, zu studieren,
nach ihrem Alter, Ursprung usw. zu forschen.

Im folgenden mögen die Ergebnisse der Kalevalaforschung auf Grund
der Broschüre: Om Zlslsvala, I?inlmriuzs irirtionglsxos 00I1 torsKninZarng. rörlmäv
«lcitWinrng, X. 1Z, ^Vildrmä (MrsninASir HsimäcUs kolkskriktvr 71,
?. ^. U'ol'stsät voir söirsrs KMA, LtcxMiolm, 1901), Dozenten der finnischen
und lappischer Sprache an der Universität Upsala, mitgeteilt und erörtert
werden.

Die Ergebnisse der Kalevalaforschung sind kurz folgende: 1. Die Haupt¬
handlung in der Kalevala und der ganze Gang der Schilderungen rührt nicht
vom Volke her, ist nicht nur auf Grund des von Lönnrot vvrgefnndnen
Materials „zusammengestellt," sondern direkt von ihm verfaßt; mithin ist die
Kalevala kein Volkepos. 2. Das Alter der Dichtung fällt zusammen mit dein
Druckjahr. 3. Ihr Entstehungsort ist Lönnrvts Schreibtisch. 4. Die dereinst
in den Himmel erhobne Dichtung hat bedeutende Mängel aufzuweisen.

Daß die Kalevala kein Volksepos ist, ergiebt sich zunächst daraus, daß
die einzelnen Runen, aus denen die von Lönnrot herausgegebne Dichtung
besteht, von den verschiednen Volkssängern, aus deren Munde er sie gehört
und nach deren Mitteilungen er sie aufgezeichnet hat, nicht nur in verschiedner
Reihenfolge, sondern auch verschieden nach Form, Umfang (die im Volksmund
erhaltnen Runen sind alle ziemlich kurz und erreichen bei weitem nicht den
Umfang eines der gedruckten Kalevalaliedcr) und Inhalt vorgetragen wurden;
daß in ein und derselben Rune dieser Volkssänger bald der eine, bald der
andre der vielen Kalevalahelden zur Hauptperson wird, und daß, was die
Hauptsache ist, die Volkssänger, auch die bessern von ihnen, keine Ahnung
hatten von einem innern Zusammenhang der von ihnen gesnnguen Runen;
daß ihnen ein gewisses Grundmotiv der Dichtung, wie sie gegenwärtig vor¬
liegt, das sich gleichsam als „roter Faden" durch all die Runen hindurch¬
gezogen und sie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hätte — unbeschadet
der Variationen, die die einzelnen Gesänge im Laufe der Zeit und in den
verschiednen Gegenden des Landes natürlicherweise erlitten hatten —, ganz un¬
bekannt war.

Wäre dieser „rote Faden" vorhanden gewesen, der Lönnrot als Führer
bei Zusammenstellung der Kalevaladichtnng hätte dienen können, wäre also
die Handlung in ihren Grundzügen vom Volke selbst gegeben gewesen, dann
könnte man die Kalevala als Volksepos erklären. Jeder Volkssänger verfuhr
mit den einzelnen Runen nach eignem Gutdünken, und Lönnrot, der ja eine
weit größere Anzahl Runen kannte als irgend einer der Sänger, machte es
in gutem Glauben ebenso. Aus deu verschiednett Varianten, in denen eine
Rune aufgezeichnet war, stellte er die betreffende Rune in der Gestalt zu-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0190" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236012"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_703" prev="#ID_702"> der mit größter Pietät und Sorgfalt all seine Aufzeichnungen aufbewahrt<lb/>
hatte. Dadurch wurde es möglich, jede Rune in der mehr oder weniger aus¬<lb/>
gebildeten Form, in der sie sich in den verschiednen Gegenden des Landes er¬<lb/>
halten hatte &#x2014; und diese Varianten gehn ins unendliche &#x2014;, zu studieren,<lb/>
nach ihrem Alter, Ursprung usw. zu forschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_704"> Im folgenden mögen die Ergebnisse der Kalevalaforschung auf Grund<lb/>
der Broschüre: Om Zlslsvala, I?inlmriuzs irirtionglsxos 00I1 torsKninZarng. rörlmäv<lb/>
«lcitWinrng, X. 1Z, ^Vildrmä (MrsninASir HsimäcUs kolkskriktvr 71,<lb/>
?. ^. U'ol'stsät voir söirsrs KMA, LtcxMiolm, 1901), Dozenten der finnischen<lb/>
und lappischer Sprache an der Universität Upsala, mitgeteilt und erörtert<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_705"> Die Ergebnisse der Kalevalaforschung sind kurz folgende: 1. Die Haupt¬<lb/>
handlung in der Kalevala und der ganze Gang der Schilderungen rührt nicht<lb/>
vom Volke her, ist nicht nur auf Grund des von Lönnrot vvrgefnndnen<lb/>
Materials &#x201E;zusammengestellt," sondern direkt von ihm verfaßt; mithin ist die<lb/>
Kalevala kein Volkepos. 2. Das Alter der Dichtung fällt zusammen mit dein<lb/>
Druckjahr. 3. Ihr Entstehungsort ist Lönnrvts Schreibtisch. 4. Die dereinst<lb/>
in den Himmel erhobne Dichtung hat bedeutende Mängel aufzuweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_706"> Daß die Kalevala kein Volksepos ist, ergiebt sich zunächst daraus, daß<lb/>
die einzelnen Runen, aus denen die von Lönnrot herausgegebne Dichtung<lb/>
besteht, von den verschiednen Volkssängern, aus deren Munde er sie gehört<lb/>
und nach deren Mitteilungen er sie aufgezeichnet hat, nicht nur in verschiedner<lb/>
Reihenfolge, sondern auch verschieden nach Form, Umfang (die im Volksmund<lb/>
erhaltnen Runen sind alle ziemlich kurz und erreichen bei weitem nicht den<lb/>
Umfang eines der gedruckten Kalevalaliedcr) und Inhalt vorgetragen wurden;<lb/>
daß in ein und derselben Rune dieser Volkssänger bald der eine, bald der<lb/>
andre der vielen Kalevalahelden zur Hauptperson wird, und daß, was die<lb/>
Hauptsache ist, die Volkssänger, auch die bessern von ihnen, keine Ahnung<lb/>
hatten von einem innern Zusammenhang der von ihnen gesnnguen Runen;<lb/>
daß ihnen ein gewisses Grundmotiv der Dichtung, wie sie gegenwärtig vor¬<lb/>
liegt, das sich gleichsam als &#x201E;roter Faden" durch all die Runen hindurch¬<lb/>
gezogen und sie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hätte &#x2014; unbeschadet<lb/>
der Variationen, die die einzelnen Gesänge im Laufe der Zeit und in den<lb/>
verschiednen Gegenden des Landes natürlicherweise erlitten hatten &#x2014;, ganz un¬<lb/>
bekannt war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_707" next="#ID_708"> Wäre dieser &#x201E;rote Faden" vorhanden gewesen, der Lönnrot als Führer<lb/>
bei Zusammenstellung der Kalevaladichtnng hätte dienen können, wäre also<lb/>
die Handlung in ihren Grundzügen vom Volke selbst gegeben gewesen, dann<lb/>
könnte man die Kalevala als Volksepos erklären. Jeder Volkssänger verfuhr<lb/>
mit den einzelnen Runen nach eignem Gutdünken, und Lönnrot, der ja eine<lb/>
weit größere Anzahl Runen kannte als irgend einer der Sänger, machte es<lb/>
in gutem Glauben ebenso. Aus deu verschiednett Varianten, in denen eine<lb/>
Rune aufgezeichnet war, stellte er die betreffende Rune in der Gestalt zu-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0190] der mit größter Pietät und Sorgfalt all seine Aufzeichnungen aufbewahrt hatte. Dadurch wurde es möglich, jede Rune in der mehr oder weniger aus¬ gebildeten Form, in der sie sich in den verschiednen Gegenden des Landes er¬ halten hatte — und diese Varianten gehn ins unendliche —, zu studieren, nach ihrem Alter, Ursprung usw. zu forschen. Im folgenden mögen die Ergebnisse der Kalevalaforschung auf Grund der Broschüre: Om Zlslsvala, I?inlmriuzs irirtionglsxos 00I1 torsKninZarng. rörlmäv «lcitWinrng, X. 1Z, ^Vildrmä (MrsninASir HsimäcUs kolkskriktvr 71, ?. ^. U'ol'stsät voir söirsrs KMA, LtcxMiolm, 1901), Dozenten der finnischen und lappischer Sprache an der Universität Upsala, mitgeteilt und erörtert werden. Die Ergebnisse der Kalevalaforschung sind kurz folgende: 1. Die Haupt¬ handlung in der Kalevala und der ganze Gang der Schilderungen rührt nicht vom Volke her, ist nicht nur auf Grund des von Lönnrot vvrgefnndnen Materials „zusammengestellt," sondern direkt von ihm verfaßt; mithin ist die Kalevala kein Volkepos. 2. Das Alter der Dichtung fällt zusammen mit dein Druckjahr. 3. Ihr Entstehungsort ist Lönnrvts Schreibtisch. 4. Die dereinst in den Himmel erhobne Dichtung hat bedeutende Mängel aufzuweisen. Daß die Kalevala kein Volksepos ist, ergiebt sich zunächst daraus, daß die einzelnen Runen, aus denen die von Lönnrot herausgegebne Dichtung besteht, von den verschiednen Volkssängern, aus deren Munde er sie gehört und nach deren Mitteilungen er sie aufgezeichnet hat, nicht nur in verschiedner Reihenfolge, sondern auch verschieden nach Form, Umfang (die im Volksmund erhaltnen Runen sind alle ziemlich kurz und erreichen bei weitem nicht den Umfang eines der gedruckten Kalevalaliedcr) und Inhalt vorgetragen wurden; daß in ein und derselben Rune dieser Volkssänger bald der eine, bald der andre der vielen Kalevalahelden zur Hauptperson wird, und daß, was die Hauptsache ist, die Volkssänger, auch die bessern von ihnen, keine Ahnung hatten von einem innern Zusammenhang der von ihnen gesnnguen Runen; daß ihnen ein gewisses Grundmotiv der Dichtung, wie sie gegenwärtig vor¬ liegt, das sich gleichsam als „roter Faden" durch all die Runen hindurch¬ gezogen und sie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hätte — unbeschadet der Variationen, die die einzelnen Gesänge im Laufe der Zeit und in den verschiednen Gegenden des Landes natürlicherweise erlitten hatten —, ganz un¬ bekannt war. Wäre dieser „rote Faden" vorhanden gewesen, der Lönnrot als Führer bei Zusammenstellung der Kalevaladichtnng hätte dienen können, wäre also die Handlung in ihren Grundzügen vom Volke selbst gegeben gewesen, dann könnte man die Kalevala als Volksepos erklären. Jeder Volkssänger verfuhr mit den einzelnen Runen nach eignem Gutdünken, und Lönnrot, der ja eine weit größere Anzahl Runen kannte als irgend einer der Sänger, machte es in gutem Glauben ebenso. Aus deu verschiednett Varianten, in denen eine Rune aufgezeichnet war, stellte er die betreffende Rune in der Gestalt zu-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/190
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/190>, abgerufen am 28.07.2024.