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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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hier aus Perspektiven auf die großen Zusammenhänge der sozialen Entwicklung,
ja geschichtsphilosophische Ausblicke auf die innere Dialektik der Menschheits¬
geschichte, die das Herz weit und groß machen. Darum lohnt es sich, den
grundsätzlichen Fragen der Pädagogik nachzugehn. Durch die genaue Betrach¬
tung der Züge des kleinen Bildes wird der Blick geschärft für die richtige
Auffassung derselben Linien in der großen Wirklichkeit des gesamten Geistes¬
lebens. Die Gefahr der Kurzsichtigkeit wird durch den sich überall aufdrängenden
Ausblick aus der Enge des Jugeudunterrichts auf die Entwicklung der Gesell¬
schaft und ihres Geisteslebens im großen gänzlich unschädlich gemacht. Die
sozialpädagogische und allgemeine philosophische Betrachtung ist das sich fast
von selbst darbietende Mittel, das Auge des auf dem Gebiete der Pädagogik
theoretisch oder praktisch Arbeitenden vor Stumpfheit zu bewahren.

Wir wollen hier in diesem Geiste versuchen, den Gegensatz zwischen kleri¬
kaler und protestantisch-liberaler Pädagogik und Schulpolitik auf eine etwas
breitere Grundlage zu stellen, um ihn in seinem Ursprung aus den Gegen¬
sätzen des Geisteslebens zu begreifen und in seiner Tragweite für die gesamte
Geistesentwicklung richtig abzuschätzen.

Prinzipielle Gegensätze drücken sich ans dem Gebiet der Erziehung und
der Schule wie auderwnrts als Parteigegeusätze aus, aber sie gehn hier so
wenig wie anderwärts in ihnen auf. Will man sie in ihrem Sinn und Wesen
verstehn, so darf der Blick nicht an der äußern Firma haften bleiben; er muß
tiefer dringen. Die Firma vermag uur als Wegweiserin zur Sache zu dienen,
sie ist nicht die Sache. Der Klerikalismus ist bekanntlich auch der evangelischen
Kirche nicht fremd geblieben, obwohl er in schroffem Gegensatz zum ernsten
Protestantismus steht, dessen reine Darstellung eben die evangelische Kirche
keineswegs ist oder mich nur sein kann, wie wir sehen werden. Jedenfalls
wächst der Klerikalismus nur auf dem Boden einer katholischem oder doch
katholisiereuden Grnudnuschauung. Wir werden also berechtigt sein, den ge¬
meinten pädagogischen Gegensatz vorläufig als den der katholischen und der
Protestantischen Pädagogik hinzustellen und zu fragen, ob sich vielleicht ein
wesentlicher Unterschied der Auffassung in Bezug auf das Ziel der Erziehung
angeben läßt, der sich ans dem Unterschied der katholischen und der protestan¬
tische" Weltanschauung notwendig ergiebt.

Es reicht nicht aus, zur Antwort auf die religiösen oder kirchlichen Zwecke
des klerikalen Unterrichts zu verweisen. Was die Wertschätzung des Religions¬
unterrichts anbelangt, so sind darin heute ziemlich alle pädagogischen Rich-
tungen einig. Ist die religiös-sittliche oder, wenn man weniger sagen will,
die geistig-sittliche Persönlichkeit das Ziel der Erziehung, so ist es für den
erfahrnen Pädagogen keine Frage, daß diesem Ziel der Religionsunterricht in
viel unmittelbarerer Weise als irgend ein andrer Unterricht zu dienen vermag:
er ist von unersetzbarem Wert. Ob der Religionsunterricht bestimmte kirchliche
Ziele verfolgt oder nicht, bedeutet allerdings einen wesentlichen Unterschied der
Pädagogischen Arbeit. Aber für den redlichen und intelligenten Vertreter der


hier aus Perspektiven auf die großen Zusammenhänge der sozialen Entwicklung,
ja geschichtsphilosophische Ausblicke auf die innere Dialektik der Menschheits¬
geschichte, die das Herz weit und groß machen. Darum lohnt es sich, den
grundsätzlichen Fragen der Pädagogik nachzugehn. Durch die genaue Betrach¬
tung der Züge des kleinen Bildes wird der Blick geschärft für die richtige
Auffassung derselben Linien in der großen Wirklichkeit des gesamten Geistes¬
lebens. Die Gefahr der Kurzsichtigkeit wird durch den sich überall aufdrängenden
Ausblick aus der Enge des Jugeudunterrichts auf die Entwicklung der Gesell¬
schaft und ihres Geisteslebens im großen gänzlich unschädlich gemacht. Die
sozialpädagogische und allgemeine philosophische Betrachtung ist das sich fast
von selbst darbietende Mittel, das Auge des auf dem Gebiete der Pädagogik
theoretisch oder praktisch Arbeitenden vor Stumpfheit zu bewahren.

Wir wollen hier in diesem Geiste versuchen, den Gegensatz zwischen kleri¬
kaler und protestantisch-liberaler Pädagogik und Schulpolitik auf eine etwas
breitere Grundlage zu stellen, um ihn in seinem Ursprung aus den Gegen¬
sätzen des Geisteslebens zu begreifen und in seiner Tragweite für die gesamte
Geistesentwicklung richtig abzuschätzen.

Prinzipielle Gegensätze drücken sich ans dem Gebiet der Erziehung und
der Schule wie auderwnrts als Parteigegeusätze aus, aber sie gehn hier so
wenig wie anderwärts in ihnen auf. Will man sie in ihrem Sinn und Wesen
verstehn, so darf der Blick nicht an der äußern Firma haften bleiben; er muß
tiefer dringen. Die Firma vermag uur als Wegweiserin zur Sache zu dienen,
sie ist nicht die Sache. Der Klerikalismus ist bekanntlich auch der evangelischen
Kirche nicht fremd geblieben, obwohl er in schroffem Gegensatz zum ernsten
Protestantismus steht, dessen reine Darstellung eben die evangelische Kirche
keineswegs ist oder mich nur sein kann, wie wir sehen werden. Jedenfalls
wächst der Klerikalismus nur auf dem Boden einer katholischem oder doch
katholisiereuden Grnudnuschauung. Wir werden also berechtigt sein, den ge¬
meinten pädagogischen Gegensatz vorläufig als den der katholischen und der
Protestantischen Pädagogik hinzustellen und zu fragen, ob sich vielleicht ein
wesentlicher Unterschied der Auffassung in Bezug auf das Ziel der Erziehung
angeben läßt, der sich ans dem Unterschied der katholischen und der protestan¬
tische» Weltanschauung notwendig ergiebt.

Es reicht nicht aus, zur Antwort auf die religiösen oder kirchlichen Zwecke
des klerikalen Unterrichts zu verweisen. Was die Wertschätzung des Religions¬
unterrichts anbelangt, so sind darin heute ziemlich alle pädagogischen Rich-
tungen einig. Ist die religiös-sittliche oder, wenn man weniger sagen will,
die geistig-sittliche Persönlichkeit das Ziel der Erziehung, so ist es für den
erfahrnen Pädagogen keine Frage, daß diesem Ziel der Religionsunterricht in
viel unmittelbarerer Weise als irgend ein andrer Unterricht zu dienen vermag:
er ist von unersetzbarem Wert. Ob der Religionsunterricht bestimmte kirchliche
Ziele verfolgt oder nicht, bedeutet allerdings einen wesentlichen Unterschied der
Pädagogischen Arbeit. Aber für den redlichen und intelligenten Vertreter der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/183>, abgerufen am 27.07.2024.