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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont Se. Michel und der Michaelskultus

an den Felsen anlehnen, der in diesem Niveau etwa zwei Drittel der ganzen
Fläche einnimmt und noch wie ein Kern in das darüber liegende Stockwerk
reicht. Zur ersten Verteidigung der beiden Zugänge zur Abtei dient ein kleiner
Vorhof. Jeder Besucher hatte nach einem königlichen Befehl von 1377 die
Waffen an der Pforte abzulegen. Ausgenommen waren nur Prinzen von
königlichem Geblüt, später auch Ritter des Michaelsordeus und solche, die
ausdrücklich die Erlaubnis des Abts hatten. Trotzdem gelang es 1577 einigen
Hugenotten als Pilger mit versteckten Waffen Eingang zu erlangen und den
mon8 virg'o wenigstens auf einen Tag in ihre Hand zu bringen. Die eigent¬
liche Zugangsbefestigung, das "Chatelet," ist eine der vollständigste" und
schönsten in Frankreich ungefähr von 1260. Das gewaltige Eingangsthor ist
durch zwei hohe chlinderförmige Türme eingerahmt, die zugleich zum Aufstieg
und zur Verteidigung eingerichtet waren. Sie siud durch einen Saal für die
Wachen verbunden und durch eine Plattform abgeschlossen, die den Verteidigern
Bewegungsfreiheit gaben.

Zwischen ihnen hindurch führt eine Treppe aufwärts, die an einer Biegung
wieder durch Fallgatter und erkerartige Ausbauten geschützt ist. Dahinter ist
in dem östlichen Hauptgebäude, der "Belle Chaise," der Eingangssaal, der fest¬
gewölbte weite Saal für die Garden, von dem ans der Zugang beherrscht
wird. Hier und in der darttberliegenden mit Schießscharten und Erkern ver¬
sehenen Schutzwehr erwartete den Feind ein furchtbarer Empfang. Auch von
da führen nur verborgne Pförtchen und enge winklige Treppen in das Kloster.
Die übrigen Baulichkeiten des untersten Geschosses sind am Südostabhang des
Gipfels die Keller der Abt- und Fremdenwohnung, westlich Gefängnisse und
Verteidigungswerke, nördlich die beiden untersten Säle der Merveille.

Über diesen Grundlagen gewinnen die Gebäude größere Ausdehnung und
Bedeutuug, da der Felsen mehr und mehr zurücktritt.

Zu den obern Geschossen gelangt man vom Eingangssanl auf der breite"
"Abtstrcppe," die anfangs aus dem Felsen herausgehauen, zwischen den mäch¬
tigen Unterbauten der Kirche und der Abt- und Fremdenwohnung aufwärts
führt, auch hier noch gesichert durch eine befestigte Brücke, die sie überspannt.
Der letzte Teil der Treppe, "die große Stufe," mündet in der Höhe von
75 Metern über dem Meere auf eine Plattform aus, den Sand-Gnultier. Sie
soll ihren Namen von einem Bildhauer haben, der sich von da in die Tiefe
stürzte. Passender würde man sie wegen ihrer schönen Aussicht auf die tief
unten liegende Stadt, die Sandbänke, auf denen einst unter den Augen der
Mönche die Ritter ihre Turuierübuugen und Festlichkeiten abhielten, und auf
die anmutige lcichtgewellte normännische Landschaft wieder mit dein alten
Namen Benuregard bezeichnen. Jenseits erhebt sich das Gebäude des Chartrier,
für die Aufbewahrung der Urkunden um 1400 zugleich mit dem Krankenhaus
erbaut. Mehr uoch diente die geräumige Bibliothek in der Nähe den geistigen
Interessen der Klosterbewohner, zumal seitdem sie mit der Universität Paris
in Verbindung traten. Noch sind die Manuskripte und Schätze der Bibliothek


Mont Se. Michel und der Michaelskultus

an den Felsen anlehnen, der in diesem Niveau etwa zwei Drittel der ganzen
Fläche einnimmt und noch wie ein Kern in das darüber liegende Stockwerk
reicht. Zur ersten Verteidigung der beiden Zugänge zur Abtei dient ein kleiner
Vorhof. Jeder Besucher hatte nach einem königlichen Befehl von 1377 die
Waffen an der Pforte abzulegen. Ausgenommen waren nur Prinzen von
königlichem Geblüt, später auch Ritter des Michaelsordeus und solche, die
ausdrücklich die Erlaubnis des Abts hatten. Trotzdem gelang es 1577 einigen
Hugenotten als Pilger mit versteckten Waffen Eingang zu erlangen und den
mon8 virg'o wenigstens auf einen Tag in ihre Hand zu bringen. Die eigent¬
liche Zugangsbefestigung, das „Chatelet," ist eine der vollständigste» und
schönsten in Frankreich ungefähr von 1260. Das gewaltige Eingangsthor ist
durch zwei hohe chlinderförmige Türme eingerahmt, die zugleich zum Aufstieg
und zur Verteidigung eingerichtet waren. Sie siud durch einen Saal für die
Wachen verbunden und durch eine Plattform abgeschlossen, die den Verteidigern
Bewegungsfreiheit gaben.

Zwischen ihnen hindurch führt eine Treppe aufwärts, die an einer Biegung
wieder durch Fallgatter und erkerartige Ausbauten geschützt ist. Dahinter ist
in dem östlichen Hauptgebäude, der „Belle Chaise," der Eingangssaal, der fest¬
gewölbte weite Saal für die Garden, von dem ans der Zugang beherrscht
wird. Hier und in der darttberliegenden mit Schießscharten und Erkern ver¬
sehenen Schutzwehr erwartete den Feind ein furchtbarer Empfang. Auch von
da führen nur verborgne Pförtchen und enge winklige Treppen in das Kloster.
Die übrigen Baulichkeiten des untersten Geschosses sind am Südostabhang des
Gipfels die Keller der Abt- und Fremdenwohnung, westlich Gefängnisse und
Verteidigungswerke, nördlich die beiden untersten Säle der Merveille.

Über diesen Grundlagen gewinnen die Gebäude größere Ausdehnung und
Bedeutuug, da der Felsen mehr und mehr zurücktritt.

Zu den obern Geschossen gelangt man vom Eingangssanl auf der breite»
„Abtstrcppe," die anfangs aus dem Felsen herausgehauen, zwischen den mäch¬
tigen Unterbauten der Kirche und der Abt- und Fremdenwohnung aufwärts
führt, auch hier noch gesichert durch eine befestigte Brücke, die sie überspannt.
Der letzte Teil der Treppe, „die große Stufe," mündet in der Höhe von
75 Metern über dem Meere auf eine Plattform aus, den Sand-Gnultier. Sie
soll ihren Namen von einem Bildhauer haben, der sich von da in die Tiefe
stürzte. Passender würde man sie wegen ihrer schönen Aussicht auf die tief
unten liegende Stadt, die Sandbänke, auf denen einst unter den Augen der
Mönche die Ritter ihre Turuierübuugen und Festlichkeiten abhielten, und auf
die anmutige lcichtgewellte normännische Landschaft wieder mit dein alten
Namen Benuregard bezeichnen. Jenseits erhebt sich das Gebäude des Chartrier,
für die Aufbewahrung der Urkunden um 1400 zugleich mit dem Krankenhaus
erbaut. Mehr uoch diente die geräumige Bibliothek in der Nähe den geistigen
Interessen der Klosterbewohner, zumal seitdem sie mit der Universität Paris
in Verbindung traten. Noch sind die Manuskripte und Schätze der Bibliothek


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/154>, abgerufen am 01.09.2024.