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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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ZMlmgers zweite Lebenshcilftc

ivorbnc Fertigkeit, die rechten Werkzeuge, die rechten Forschnngsmittel und
Methoden anzuwenden, um in der Nntnr oder in der Geschichte die verborgne
Wahrheit zu entdecken, sie ans Licht zu ziehen, sie mit andern schon bekannten
Wahrheiten in Zusammenhang zu bringen, sie von jedem anklebenden Irrtum
abzulösen; es ist die schwere Kunst, mit völliger Unbefangenheit, ja mit Selbst¬
verleugnung, mit Fernhaltung vorgefaßter Meinungen, Systeme oder Wunsche,
die Phänomene oder Thatsachen möglichst adäquat zu erklären und darzustellen.
Er ist also etwas Göttliches, das wir nie ganz erreichen, worin wir uns und
andern nie volles Genüge thun, dem wir uns nur allmählich, ans weiter
Ferne, anzunähern vermögen." Einmal erkannte Wahrheiten offen nuszn-
sprccheu, auf jede Abschwächung und Verhüllung zu verzichten, das sei leicht
für den Mathematiker, den Physiker, oft sehr schwer aber auf allen ethischen
Gebieten. Statt ethische Gebiete wird man sagen: Gebiete, die ein Lebens-
interesse betreffen; denn auch Physiker haben einen schweren Stand, wenn sie
Entdeckungen aussprechen sollen, die entweder, mit einem herrschenden religiösen
Glauben zu kollidieren scheinen oder durch ihre technische Anwendung indu¬
strielle Unternehmungen mit Entwertung bedrohn. Doch nicht die äußern
Hindernisse, die der Widerstand der Interessen bereitet, sind die am schwersten
zu überwindenden; für einen Döllinger, der, um der Wissenschaft treu zu
bleiben, ans die ihm angebotnen erzbischöflichen Stühle von Salzburg und
München verzichtet hat, waren sie gar nicht vorhanden. An Lauterkeit des
Willens und an Feinheit des wissenschaftlichen Gewissens hat ihn gewiß kein
Forscher übertroffen. Und dennoch! Im Jahre 1870 schreibt er an Michelis:
"So lange wir nnter dem Banne des Autoritätsglaubens standen, das heißt,
es für Gewissenspflicht hielten, in keinem Fall und um leinen Preis es auf
ein Zerwürfnis mit Bischof und Papst ankommen zu lassen, lieber im falschen
Vertrauen auf Gottes nachfolgende Providenz der fortschreitenden Korruption
in der ganzen Kirche ruhig zuzuschauen und die Hände passiv ergeben in den
Schoß zu legen -- so lange waren unsre Augen mit einer Binde verhüllt;
wenn wir auch die gröbsten Verunstaltungen des Heiligen zu sehen nicht umhin
konnten, die tiefer liegenden Quellen dieser Monstrositäten sahen wir nicht,
und in der Kunst des Vertuschens und Veschönigens übten wir uns fleißig --
wenn nicht vor der Welt, doch vor unserm eignen theologisch-kirchlichen Gewissen."
Döllinger ist aber die Binde niemals völlig losgeworden, sonst würde er er¬
kannt und offen bekannt haben, daß die alten Konzilien und -- Paulus so
wenig unfehlbar gewesen siud, wie der Papst es ist, daß es ein vergebliches
Bemühen war, die alte Kirche wiederherstellen zu wollen, da die Kirchen jeder¬
zeit historische Produkte sind und was einmal vergangen ist, niemals wieder
zum Leben erweckt werden kann, und daß es eine Kirche in seinem Sinn weder
jemals gegeben hat noch jemals geben wird.

Am 21. April 1882 sprach Döllinger in der ersten Kammer gegen den
Beschluß der zweite,? Kanuner, daß der Geschichtsunterricht in der Regel kon¬
fessionell sein solle. Er führte ganz richtig aus, daß es zweihundert Jahre


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ivorbnc Fertigkeit, die rechten Werkzeuge, die rechten Forschnngsmittel und
Methoden anzuwenden, um in der Nntnr oder in der Geschichte die verborgne
Wahrheit zu entdecken, sie ans Licht zu ziehen, sie mit andern schon bekannten
Wahrheiten in Zusammenhang zu bringen, sie von jedem anklebenden Irrtum
abzulösen; es ist die schwere Kunst, mit völliger Unbefangenheit, ja mit Selbst¬
verleugnung, mit Fernhaltung vorgefaßter Meinungen, Systeme oder Wunsche,
die Phänomene oder Thatsachen möglichst adäquat zu erklären und darzustellen.
Er ist also etwas Göttliches, das wir nie ganz erreichen, worin wir uns und
andern nie volles Genüge thun, dem wir uns nur allmählich, ans weiter
Ferne, anzunähern vermögen." Einmal erkannte Wahrheiten offen nuszn-
sprccheu, auf jede Abschwächung und Verhüllung zu verzichten, das sei leicht
für den Mathematiker, den Physiker, oft sehr schwer aber auf allen ethischen
Gebieten. Statt ethische Gebiete wird man sagen: Gebiete, die ein Lebens-
interesse betreffen; denn auch Physiker haben einen schweren Stand, wenn sie
Entdeckungen aussprechen sollen, die entweder, mit einem herrschenden religiösen
Glauben zu kollidieren scheinen oder durch ihre technische Anwendung indu¬
strielle Unternehmungen mit Entwertung bedrohn. Doch nicht die äußern
Hindernisse, die der Widerstand der Interessen bereitet, sind die am schwersten
zu überwindenden; für einen Döllinger, der, um der Wissenschaft treu zu
bleiben, ans die ihm angebotnen erzbischöflichen Stühle von Salzburg und
München verzichtet hat, waren sie gar nicht vorhanden. An Lauterkeit des
Willens und an Feinheit des wissenschaftlichen Gewissens hat ihn gewiß kein
Forscher übertroffen. Und dennoch! Im Jahre 1870 schreibt er an Michelis:
„So lange wir nnter dem Banne des Autoritätsglaubens standen, das heißt,
es für Gewissenspflicht hielten, in keinem Fall und um leinen Preis es auf
ein Zerwürfnis mit Bischof und Papst ankommen zu lassen, lieber im falschen
Vertrauen auf Gottes nachfolgende Providenz der fortschreitenden Korruption
in der ganzen Kirche ruhig zuzuschauen und die Hände passiv ergeben in den
Schoß zu legen — so lange waren unsre Augen mit einer Binde verhüllt;
wenn wir auch die gröbsten Verunstaltungen des Heiligen zu sehen nicht umhin
konnten, die tiefer liegenden Quellen dieser Monstrositäten sahen wir nicht,
und in der Kunst des Vertuschens und Veschönigens übten wir uns fleißig —
wenn nicht vor der Welt, doch vor unserm eignen theologisch-kirchlichen Gewissen."
Döllinger ist aber die Binde niemals völlig losgeworden, sonst würde er er¬
kannt und offen bekannt haben, daß die alten Konzilien und — Paulus so
wenig unfehlbar gewesen siud, wie der Papst es ist, daß es ein vergebliches
Bemühen war, die alte Kirche wiederherstellen zu wollen, da die Kirchen jeder¬
zeit historische Produkte sind und was einmal vergangen ist, niemals wieder
zum Leben erweckt werden kann, und daß es eine Kirche in seinem Sinn weder
jemals gegeben hat noch jemals geben wird.

Am 21. April 1882 sprach Döllinger in der ersten Kammer gegen den
Beschluß der zweite,? Kanuner, daß der Geschichtsunterricht in der Regel kon¬
fessionell sein solle. Er führte ganz richtig aus, daß es zweihundert Jahre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/142>, abgerufen am 01.09.2024.