Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der llampf um den Zolltarif

ablehnte, Bemerkeuswcrterweise bat der den Verhandlungen beiwohnende
Staatssekretär des Innern, Graf Posadvwskh, die Versammlung dringend,
diesen Weg der Beweisführung nicht zu verlassen, denn die Forderung höherer
Schutzzölle könne eventuell nur damit begründet werden, daß unsre Produktions¬
kosten derart gestiegen seien gegenüber den gezählten Getreidepreisen, daß mit
einer zu geringen Bilanz oder mit einer Unterbilanz produziert werde, und
diesen Beweis könne man durch Vertiefung der Frage erbringen: Wie stellen
sich ungefähr unsre eignen Produktionskosten in den verschiednen Gebieten
Deutschlands und wie im Verhältnis zu unsern Konknrrenzlündern? -- In
einem gewissen Sinne können sich die Agrarier auf diese Bitte des Staats¬
sekretärs berufen, wenn sie deu vorgeschlagnen Weg der Beweisführung sehr
eifrig verfolgt, auf ihm zu erschreckend geringen Bilanzen und zu unerhört
vielen Unterbilanzcn zu kommen verstanden haben und nun die Deckung der
heransgefundnen Differenz durch einen ausreichenden Zoll erwarten. Von
Interesse ist es übrigens, daß anch die Industriellen zum großen Teil, wie
Bueck in seiner Denkschrift über den Doppeltarif vom Juli 1900 mitteilt, die
Angabe der notwendigen Minimalhöhe für ihre Zölle nicht machen zu können
glauben und erklärt haben, daß die Regierung deshalb gar nicht in der Lage
sei, nach den Angaben der Interessenten einen Minimaltarif zu konstruiere",
der ohne Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im Sinne
der Befürworter eines solchen Tarifs gesetzlich festgestellt werden könnte.
Weder ans dem Kreise der praktischen Landwirte noch dem der praktischen
Industriellen heraus ist ursprünglich dem grünen Tisch die Festlegung von
Mindestzöllen suggeriert wordeu, im Gegenteil sind aus diesen Kreisen sehr
verständige praktische Bedenken dagegen geltend gemacht worden. Sogar Graf
Kcmitz hat das wenigstens in Bezug auf die Getreidezölle gethan. Wenn er
trotzdem das Melinische System des Doppeltarifs empfahl, so glaubte er im
Interesse der deutscheu Landwirte einen klugen politischen Schachzug zu thun.
Er glaubte dadurch in Deutschland, wie es Meline in Frankreich gelungen
war, das Bündnis zwischen den Agrar- und den Judustrieschutzzöllueru auf
dem Boden des damit proklamierten Prinzips der sogenannten "Solidarität
der protektiouistischen Interessen" für immer und noch fester zu schmieden.
Aber darin verfuhr er durchaus doktrinär, indem er vergaß, daß die Verhält¬
nisse in Deutschland am Ende des letzten Jahrzehnts ganz anders lagen als
in Frankreich zu Anfang, daß -- von allen sonstigen Unterschieden abgesehen --
es in Frankreich damals noch galt, vielleicht auch heute noch gilt, eine zurück-
geblielme, angeblich zum Teil notleidende Industrie zugleich mit einer un¬
zufriednen, dem technischen Fortschritt abholden Landwirtschaft für den extremen
Protektionismus zu vereinigen, in Deutschland aber eine sich im kräftigstell
Aufschwung fühlende, nach außen drängende Industrie mit einer Landwirtschaft,
die trotz großer technischer Fortschritte vielfach in schwerem Notstand ist. Graf
Kcmitz war sich dabei klar bewußt, ebenso wie Meline einen ausgesprochnen
Bruch mit der Handelsvertragspolitik überhaupt und den Übergang zur national-


Der llampf um den Zolltarif

ablehnte, Bemerkeuswcrterweise bat der den Verhandlungen beiwohnende
Staatssekretär des Innern, Graf Posadvwskh, die Versammlung dringend,
diesen Weg der Beweisführung nicht zu verlassen, denn die Forderung höherer
Schutzzölle könne eventuell nur damit begründet werden, daß unsre Produktions¬
kosten derart gestiegen seien gegenüber den gezählten Getreidepreisen, daß mit
einer zu geringen Bilanz oder mit einer Unterbilanz produziert werde, und
diesen Beweis könne man durch Vertiefung der Frage erbringen: Wie stellen
sich ungefähr unsre eignen Produktionskosten in den verschiednen Gebieten
Deutschlands und wie im Verhältnis zu unsern Konknrrenzlündern? — In
einem gewissen Sinne können sich die Agrarier auf diese Bitte des Staats¬
sekretärs berufen, wenn sie deu vorgeschlagnen Weg der Beweisführung sehr
eifrig verfolgt, auf ihm zu erschreckend geringen Bilanzen und zu unerhört
vielen Unterbilanzcn zu kommen verstanden haben und nun die Deckung der
heransgefundnen Differenz durch einen ausreichenden Zoll erwarten. Von
Interesse ist es übrigens, daß anch die Industriellen zum großen Teil, wie
Bueck in seiner Denkschrift über den Doppeltarif vom Juli 1900 mitteilt, die
Angabe der notwendigen Minimalhöhe für ihre Zölle nicht machen zu können
glauben und erklärt haben, daß die Regierung deshalb gar nicht in der Lage
sei, nach den Angaben der Interessenten einen Minimaltarif zu konstruiere»,
der ohne Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im Sinne
der Befürworter eines solchen Tarifs gesetzlich festgestellt werden könnte.
Weder ans dem Kreise der praktischen Landwirte noch dem der praktischen
Industriellen heraus ist ursprünglich dem grünen Tisch die Festlegung von
Mindestzöllen suggeriert wordeu, im Gegenteil sind aus diesen Kreisen sehr
verständige praktische Bedenken dagegen geltend gemacht worden. Sogar Graf
Kcmitz hat das wenigstens in Bezug auf die Getreidezölle gethan. Wenn er
trotzdem das Melinische System des Doppeltarifs empfahl, so glaubte er im
Interesse der deutscheu Landwirte einen klugen politischen Schachzug zu thun.
Er glaubte dadurch in Deutschland, wie es Meline in Frankreich gelungen
war, das Bündnis zwischen den Agrar- und den Judustrieschutzzöllueru auf
dem Boden des damit proklamierten Prinzips der sogenannten „Solidarität
der protektiouistischen Interessen" für immer und noch fester zu schmieden.
Aber darin verfuhr er durchaus doktrinär, indem er vergaß, daß die Verhält¬
nisse in Deutschland am Ende des letzten Jahrzehnts ganz anders lagen als
in Frankreich zu Anfang, daß — von allen sonstigen Unterschieden abgesehen —
es in Frankreich damals noch galt, vielleicht auch heute noch gilt, eine zurück-
geblielme, angeblich zum Teil notleidende Industrie zugleich mit einer un¬
zufriednen, dem technischen Fortschritt abholden Landwirtschaft für den extremen
Protektionismus zu vereinigen, in Deutschland aber eine sich im kräftigstell
Aufschwung fühlende, nach außen drängende Industrie mit einer Landwirtschaft,
die trotz großer technischer Fortschritte vielfach in schwerem Notstand ist. Graf
Kcmitz war sich dabei klar bewußt, ebenso wie Meline einen ausgesprochnen
Bruch mit der Handelsvertragspolitik überhaupt und den Übergang zur national-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235940"/>
          <fw type="header" place="top"> Der llampf um den Zolltarif</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_430" prev="#ID_429" next="#ID_431"> ablehnte, Bemerkeuswcrterweise bat der den Verhandlungen beiwohnende<lb/>
Staatssekretär des Innern, Graf Posadvwskh, die Versammlung dringend,<lb/>
diesen Weg der Beweisführung nicht zu verlassen, denn die Forderung höherer<lb/>
Schutzzölle könne eventuell nur damit begründet werden, daß unsre Produktions¬<lb/>
kosten derart gestiegen seien gegenüber den gezählten Getreidepreisen, daß mit<lb/>
einer zu geringen Bilanz oder mit einer Unterbilanz produziert werde, und<lb/>
diesen Beweis könne man durch Vertiefung der Frage erbringen: Wie stellen<lb/>
sich ungefähr unsre eignen Produktionskosten in den verschiednen Gebieten<lb/>
Deutschlands und wie im Verhältnis zu unsern Konknrrenzlündern? &#x2014; In<lb/>
einem gewissen Sinne können sich die Agrarier auf diese Bitte des Staats¬<lb/>
sekretärs berufen, wenn sie deu vorgeschlagnen Weg der Beweisführung sehr<lb/>
eifrig verfolgt, auf ihm zu erschreckend geringen Bilanzen und zu unerhört<lb/>
vielen Unterbilanzcn zu kommen verstanden haben und nun die Deckung der<lb/>
heransgefundnen Differenz durch einen ausreichenden Zoll erwarten. Von<lb/>
Interesse ist es übrigens, daß anch die Industriellen zum großen Teil, wie<lb/>
Bueck in seiner Denkschrift über den Doppeltarif vom Juli 1900 mitteilt, die<lb/>
Angabe der notwendigen Minimalhöhe für ihre Zölle nicht machen zu können<lb/>
glauben und erklärt haben, daß die Regierung deshalb gar nicht in der Lage<lb/>
sei, nach den Angaben der Interessenten einen Minimaltarif zu konstruiere»,<lb/>
der ohne Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im Sinne<lb/>
der Befürworter eines solchen Tarifs gesetzlich festgestellt werden könnte.<lb/>
Weder ans dem Kreise der praktischen Landwirte noch dem der praktischen<lb/>
Industriellen heraus ist ursprünglich dem grünen Tisch die Festlegung von<lb/>
Mindestzöllen suggeriert wordeu, im Gegenteil sind aus diesen Kreisen sehr<lb/>
verständige praktische Bedenken dagegen geltend gemacht worden. Sogar Graf<lb/>
Kcmitz hat das wenigstens in Bezug auf die Getreidezölle gethan. Wenn er<lb/>
trotzdem das Melinische System des Doppeltarifs empfahl, so glaubte er im<lb/>
Interesse der deutscheu Landwirte einen klugen politischen Schachzug zu thun.<lb/>
Er glaubte dadurch in Deutschland, wie es Meline in Frankreich gelungen<lb/>
war, das Bündnis zwischen den Agrar- und den Judustrieschutzzöllueru auf<lb/>
dem Boden des damit proklamierten Prinzips der sogenannten &#x201E;Solidarität<lb/>
der protektiouistischen Interessen" für immer und noch fester zu schmieden.<lb/>
Aber darin verfuhr er durchaus doktrinär, indem er vergaß, daß die Verhält¬<lb/>
nisse in Deutschland am Ende des letzten Jahrzehnts ganz anders lagen als<lb/>
in Frankreich zu Anfang, daß &#x2014; von allen sonstigen Unterschieden abgesehen &#x2014;<lb/>
es in Frankreich damals noch galt, vielleicht auch heute noch gilt, eine zurück-<lb/>
geblielme, angeblich zum Teil notleidende Industrie zugleich mit einer un¬<lb/>
zufriednen, dem technischen Fortschritt abholden Landwirtschaft für den extremen<lb/>
Protektionismus zu vereinigen, in Deutschland aber eine sich im kräftigstell<lb/>
Aufschwung fühlende, nach außen drängende Industrie mit einer Landwirtschaft,<lb/>
die trotz großer technischer Fortschritte vielfach in schwerem Notstand ist. Graf<lb/>
Kcmitz war sich dabei klar bewußt, ebenso wie Meline einen ausgesprochnen<lb/>
Bruch mit der Handelsvertragspolitik überhaupt und den Übergang zur national-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Der llampf um den Zolltarif ablehnte, Bemerkeuswcrterweise bat der den Verhandlungen beiwohnende Staatssekretär des Innern, Graf Posadvwskh, die Versammlung dringend, diesen Weg der Beweisführung nicht zu verlassen, denn die Forderung höherer Schutzzölle könne eventuell nur damit begründet werden, daß unsre Produktions¬ kosten derart gestiegen seien gegenüber den gezählten Getreidepreisen, daß mit einer zu geringen Bilanz oder mit einer Unterbilanz produziert werde, und diesen Beweis könne man durch Vertiefung der Frage erbringen: Wie stellen sich ungefähr unsre eignen Produktionskosten in den verschiednen Gebieten Deutschlands und wie im Verhältnis zu unsern Konknrrenzlündern? — In einem gewissen Sinne können sich die Agrarier auf diese Bitte des Staats¬ sekretärs berufen, wenn sie deu vorgeschlagnen Weg der Beweisführung sehr eifrig verfolgt, auf ihm zu erschreckend geringen Bilanzen und zu unerhört vielen Unterbilanzcn zu kommen verstanden haben und nun die Deckung der heransgefundnen Differenz durch einen ausreichenden Zoll erwarten. Von Interesse ist es übrigens, daß anch die Industriellen zum großen Teil, wie Bueck in seiner Denkschrift über den Doppeltarif vom Juli 1900 mitteilt, die Angabe der notwendigen Minimalhöhe für ihre Zölle nicht machen zu können glauben und erklärt haben, daß die Regierung deshalb gar nicht in der Lage sei, nach den Angaben der Interessenten einen Minimaltarif zu konstruiere», der ohne Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im Sinne der Befürworter eines solchen Tarifs gesetzlich festgestellt werden könnte. Weder ans dem Kreise der praktischen Landwirte noch dem der praktischen Industriellen heraus ist ursprünglich dem grünen Tisch die Festlegung von Mindestzöllen suggeriert wordeu, im Gegenteil sind aus diesen Kreisen sehr verständige praktische Bedenken dagegen geltend gemacht worden. Sogar Graf Kcmitz hat das wenigstens in Bezug auf die Getreidezölle gethan. Wenn er trotzdem das Melinische System des Doppeltarifs empfahl, so glaubte er im Interesse der deutscheu Landwirte einen klugen politischen Schachzug zu thun. Er glaubte dadurch in Deutschland, wie es Meline in Frankreich gelungen war, das Bündnis zwischen den Agrar- und den Judustrieschutzzöllueru auf dem Boden des damit proklamierten Prinzips der sogenannten „Solidarität der protektiouistischen Interessen" für immer und noch fester zu schmieden. Aber darin verfuhr er durchaus doktrinär, indem er vergaß, daß die Verhält¬ nisse in Deutschland am Ende des letzten Jahrzehnts ganz anders lagen als in Frankreich zu Anfang, daß — von allen sonstigen Unterschieden abgesehen — es in Frankreich damals noch galt, vielleicht auch heute noch gilt, eine zurück- geblielme, angeblich zum Teil notleidende Industrie zugleich mit einer un¬ zufriednen, dem technischen Fortschritt abholden Landwirtschaft für den extremen Protektionismus zu vereinigen, in Deutschland aber eine sich im kräftigstell Aufschwung fühlende, nach außen drängende Industrie mit einer Landwirtschaft, die trotz großer technischer Fortschritte vielfach in schwerem Notstand ist. Graf Kcmitz war sich dabei klar bewußt, ebenso wie Meline einen ausgesprochnen Bruch mit der Handelsvertragspolitik überhaupt und den Übergang zur national-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/118
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/118>, abgerufen am 28.07.2024.