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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Eine neue Glaubenslehre

fortlebend zu denken sei, nur das sein könne, was die moderne Psychologie
als Seele bezeichnet und als das logische Subjekt der nicht auf physikalische
oder chemische Prozesse zurückführbaren Lebenserscheinungen definiert; er
definiert ferner das höchste und vollkommenste geistige Wesen selbst in ganz
analoger Weise, indem er sagt (S. 100): "Gott selbst kann unmöglich von
uns als ein einzelnes, aus Stoff und physischer Kraft bestehendes Wesen ge¬
dacht, sondern er muß gerade umgekehrt als der in der unendlichen Aus¬
dehnung sich einheitlich selbst gleichbleibende, intensiv das All zusammenhaltende
und durchdringende Geist gedacht werden."

Daraus aber folgt, daß ebensowenig wie Gott irgend eine "von Fleisch
und Blut entkleidete Persönlichkeit" (S, 78) einem Menschen sichtbar werden
kann, da unser Auge, ohne das ein wirkliches Sehen nicht möglich ist, nur
materielle Gegenstünde wahrzunehmen vermag. Es ist deshalb unzweifelhaft
eine mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen seines Systems absolut unver¬
trägliche Inkonsequenz, wenn Ziegler die von Paulus berichteten Erscheinungen
des Auferstandncn als objektive Thatsachen betrachtet wissen will, und diese
Inkonsequenz erscheint um so unerträglicher, als nach den Grundsätzen der
historischen Kritik der Stelle 1, Kor, 15, 1--8 die ihr von Ziegler beigelegte
Beweiskraft nicht einmal zukommt. Denn abgesehen davon, daß ein Schrift¬
steller als ein Zeuge ersten Ranges nur für das gelten kann, was er selbst
mit seinen Augen gesehen und mit seinen Ohren gehört hat -- und das ist
doch bei Paulus nur in Bezug aus eine der sechs angeführten Erscheinungen
Christi der Fall --, können selbst die Aussagen eines Augen- und Ohren-
zeugen, auch wenn an seiner Aufrichtigkeit nicht im geringsten gezweifelt
werden kann, nur dann als absolut zuverlässig gelten, wenn die gesamte
geistige Verfassung des Berichterstatters jede Möglichkeit einer Selbsttäuschung
ausschließt.

Das ist nun aber bei Paulus keineswegs der Fall, Denn der große
Heidenapostel teilte --- wie ans zahlreichen Stellen seiner Briefe hervorgeht --
mit der überwiegenden Mehrzahl seiner jüdischen und heidnische" Zeitgenossen
den Glauben an die Existenz guter und böser Geisterwesen, die teils -- wie
die guten Engel -- als Werkzeuge, teils -- wie die bösen Engel, der Teufel
und die Dämonen -- als Gegner Gottes den Weltlauf unausgesetzt beein¬
flussen und zuweilen mich in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt erscheinen. Er
gehörte ferner als Pharisäer einer Sekte an, zu deren wichtigsten Unterscheidnngs-
lehren der Glaube an die Auferstehung der Toten gehörte, eine Lehre, die in
unsern Evangelien gegen die Einwürfe der Sadducäer durch die Erklärung
verteidigt wird, daß man sich die Anferstandnen als "den Engeln gleich" vor¬
zustellen habe (Matth. 22, 30; Mark, 12, 25; Luk. 20, 36). Er war endlich
w einer Umgebung erzogen worden, die ans Grund von Daniel 7, 13 mit
Bestimmtheit erwartete, daß der Messias in menschenähnlicher Gestalt in den
Wolken des Himmels erscheinen werde. Kurz er lebte in einer Gedankenwelt,
deren auimistische und apokalyptische Voraussetzungen seine Auffassung des


Grenzboten III 1901 71
Eine neue Glaubenslehre

fortlebend zu denken sei, nur das sein könne, was die moderne Psychologie
als Seele bezeichnet und als das logische Subjekt der nicht auf physikalische
oder chemische Prozesse zurückführbaren Lebenserscheinungen definiert; er
definiert ferner das höchste und vollkommenste geistige Wesen selbst in ganz
analoger Weise, indem er sagt (S. 100): „Gott selbst kann unmöglich von
uns als ein einzelnes, aus Stoff und physischer Kraft bestehendes Wesen ge¬
dacht, sondern er muß gerade umgekehrt als der in der unendlichen Aus¬
dehnung sich einheitlich selbst gleichbleibende, intensiv das All zusammenhaltende
und durchdringende Geist gedacht werden."

Daraus aber folgt, daß ebensowenig wie Gott irgend eine „von Fleisch
und Blut entkleidete Persönlichkeit" (S, 78) einem Menschen sichtbar werden
kann, da unser Auge, ohne das ein wirkliches Sehen nicht möglich ist, nur
materielle Gegenstünde wahrzunehmen vermag. Es ist deshalb unzweifelhaft
eine mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen seines Systems absolut unver¬
trägliche Inkonsequenz, wenn Ziegler die von Paulus berichteten Erscheinungen
des Auferstandncn als objektive Thatsachen betrachtet wissen will, und diese
Inkonsequenz erscheint um so unerträglicher, als nach den Grundsätzen der
historischen Kritik der Stelle 1, Kor, 15, 1—8 die ihr von Ziegler beigelegte
Beweiskraft nicht einmal zukommt. Denn abgesehen davon, daß ein Schrift¬
steller als ein Zeuge ersten Ranges nur für das gelten kann, was er selbst
mit seinen Augen gesehen und mit seinen Ohren gehört hat — und das ist
doch bei Paulus nur in Bezug aus eine der sechs angeführten Erscheinungen
Christi der Fall —, können selbst die Aussagen eines Augen- und Ohren-
zeugen, auch wenn an seiner Aufrichtigkeit nicht im geringsten gezweifelt
werden kann, nur dann als absolut zuverlässig gelten, wenn die gesamte
geistige Verfassung des Berichterstatters jede Möglichkeit einer Selbsttäuschung
ausschließt.

Das ist nun aber bei Paulus keineswegs der Fall, Denn der große
Heidenapostel teilte --- wie ans zahlreichen Stellen seiner Briefe hervorgeht —
mit der überwiegenden Mehrzahl seiner jüdischen und heidnische» Zeitgenossen
den Glauben an die Existenz guter und böser Geisterwesen, die teils — wie
die guten Engel — als Werkzeuge, teils — wie die bösen Engel, der Teufel
und die Dämonen — als Gegner Gottes den Weltlauf unausgesetzt beein¬
flussen und zuweilen mich in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt erscheinen. Er
gehörte ferner als Pharisäer einer Sekte an, zu deren wichtigsten Unterscheidnngs-
lehren der Glaube an die Auferstehung der Toten gehörte, eine Lehre, die in
unsern Evangelien gegen die Einwürfe der Sadducäer durch die Erklärung
verteidigt wird, daß man sich die Anferstandnen als „den Engeln gleich" vor¬
zustellen habe (Matth. 22, 30; Mark, 12, 25; Luk. 20, 36). Er war endlich
w einer Umgebung erzogen worden, die ans Grund von Daniel 7, 13 mit
Bestimmtheit erwartete, daß der Messias in menschenähnlicher Gestalt in den
Wolken des Himmels erscheinen werde. Kurz er lebte in einer Gedankenwelt,
deren auimistische und apokalyptische Voraussetzungen seine Auffassung des


Grenzboten III 1901 71
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[0569] Eine neue Glaubenslehre fortlebend zu denken sei, nur das sein könne, was die moderne Psychologie als Seele bezeichnet und als das logische Subjekt der nicht auf physikalische oder chemische Prozesse zurückführbaren Lebenserscheinungen definiert; er definiert ferner das höchste und vollkommenste geistige Wesen selbst in ganz analoger Weise, indem er sagt (S. 100): „Gott selbst kann unmöglich von uns als ein einzelnes, aus Stoff und physischer Kraft bestehendes Wesen ge¬ dacht, sondern er muß gerade umgekehrt als der in der unendlichen Aus¬ dehnung sich einheitlich selbst gleichbleibende, intensiv das All zusammenhaltende und durchdringende Geist gedacht werden." Daraus aber folgt, daß ebensowenig wie Gott irgend eine „von Fleisch und Blut entkleidete Persönlichkeit" (S, 78) einem Menschen sichtbar werden kann, da unser Auge, ohne das ein wirkliches Sehen nicht möglich ist, nur materielle Gegenstünde wahrzunehmen vermag. Es ist deshalb unzweifelhaft eine mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen seines Systems absolut unver¬ trägliche Inkonsequenz, wenn Ziegler die von Paulus berichteten Erscheinungen des Auferstandncn als objektive Thatsachen betrachtet wissen will, und diese Inkonsequenz erscheint um so unerträglicher, als nach den Grundsätzen der historischen Kritik der Stelle 1, Kor, 15, 1—8 die ihr von Ziegler beigelegte Beweiskraft nicht einmal zukommt. Denn abgesehen davon, daß ein Schrift¬ steller als ein Zeuge ersten Ranges nur für das gelten kann, was er selbst mit seinen Augen gesehen und mit seinen Ohren gehört hat — und das ist doch bei Paulus nur in Bezug aus eine der sechs angeführten Erscheinungen Christi der Fall —, können selbst die Aussagen eines Augen- und Ohren- zeugen, auch wenn an seiner Aufrichtigkeit nicht im geringsten gezweifelt werden kann, nur dann als absolut zuverlässig gelten, wenn die gesamte geistige Verfassung des Berichterstatters jede Möglichkeit einer Selbsttäuschung ausschließt. Das ist nun aber bei Paulus keineswegs der Fall, Denn der große Heidenapostel teilte --- wie ans zahlreichen Stellen seiner Briefe hervorgeht — mit der überwiegenden Mehrzahl seiner jüdischen und heidnische» Zeitgenossen den Glauben an die Existenz guter und böser Geisterwesen, die teils — wie die guten Engel — als Werkzeuge, teils — wie die bösen Engel, der Teufel und die Dämonen — als Gegner Gottes den Weltlauf unausgesetzt beein¬ flussen und zuweilen mich in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt erscheinen. Er gehörte ferner als Pharisäer einer Sekte an, zu deren wichtigsten Unterscheidnngs- lehren der Glaube an die Auferstehung der Toten gehörte, eine Lehre, die in unsern Evangelien gegen die Einwürfe der Sadducäer durch die Erklärung verteidigt wird, daß man sich die Anferstandnen als „den Engeln gleich" vor¬ zustellen habe (Matth. 22, 30; Mark, 12, 25; Luk. 20, 36). Er war endlich w einer Umgebung erzogen worden, die ans Grund von Daniel 7, 13 mit Bestimmtheit erwartete, daß der Messias in menschenähnlicher Gestalt in den Wolken des Himmels erscheinen werde. Kurz er lebte in einer Gedankenwelt, deren auimistische und apokalyptische Voraussetzungen seine Auffassung des Grenzboten III 1901 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/569>, abgerufen am 22.07.2024.