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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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damaligen Judentums als die Voraussetzung und den Ausgangspunkt der reli¬
giöse" Entwicklung Christi hinstellt.

Jesus ist ihm buchstäblich das, als was er sich in der Bergpredigt
selbst bezeichnet, der "Vollender des Gesetzes und der Propheten," der Fort¬
setze der alttestamentlichen Offenbarung, "derjenige, in welchem diese Offen¬
barung zur allgemein menschlichen Bedeutung, weil zur vollen Klarheit
über den Willen Gottes gelangt" (S 72). Jesus hat um, so meint
Ziegler, diese Aufgabe dadurch gelöst, daß er 1. deu schwachen Punkt der
alttestamentlichen Gottesvorstellung, nämlich den ungelösten Gegensatz zwischen
der Heiligkeit und der Barmherzigkeit Gottes, mit scharfem Blick ent¬
deckte is. 69); daß er 2. kraft seiner einzigartigen religiösen Begabung, die
g.) (negativ) durch "das Fehlen der Angst vor Gott und der damit zusammen¬
hängenden Neigung, sich dein heiligen Gotte zu entziehe", indem man möglichst
schnell über den Gedanken an ihn hinweggeht, möglichst wenig Ernst damit
macht," b) (positiv) durch "ein ununterbrvchnes Trachten und Suchen nach Gott
und nach der Gemeinschaft der Seele mit ihm als dem alleinigen Mittelpunkte,
der allein festen Grundlage des eignen Lebens und Wesens" is. 52) charakte¬
risiert wird, als erster zu einer befriedigenden Lösung dieses Gegensatzes gelangte,
indem er sich in allmählicher Entwicklung zu der Überzeugung durchrang, daß er
persönlich zu Gott in demselben Verhältnisse stehe, wie ein geliebter Sohn zu
seinem Vater <S. 54); daß er 3. ans Grund dieser Überzeugung "im sich fort
und fort steigernde", klärenden, kraftvollen Verkehr mit seinem Vater im
Himmel" zu dem Bewußtsein kam, daß er der im Alten Testament verheißene
und von seinem Volke sehnsüchtig erwartete Messias sei (S. 60), daß er sich
4. kraft dieses "Bewußtseins seines himmlischen Berufs zum Christus seines
Volkes" (S. 60) erniedrigte, d. h. die ihm gewordne Erkenntnis nicht hoch¬
mütig und egoistisch für sich behielt, sondern seine ganze Persönlichkeit und
sein Leben daran setzte, sie zum Gemeingut aller Menschen, zunächst seines
eignen Volkes zu machen.

"Jesus Christus, sagt Ziegler wörtlich (S. 57), erniedrigte sich selbst, aber
wahrhaftig uicht durch seine menschliche Geburt und sein menschliches Wesen
und Leben, sondern dadurch, daß er sich um keinen Preis durch das Bewußt¬
sein, welches ihn hoch über alle seine Brüder stellte, von diesen trennen ließ,
sondern dem Willen des Vaters, mit dein er als Sohn verkehrte, gehorsam
ward bis zum Kreuze, ja zum Tode am Kreuze und mit voller, gänzlich un¬
eingeschränkter Persönlichkeit sich der furchtbaren Gewalt des Bösen entgegen¬
stellte," die hochmütigen und selbstgerechten (S. 73) "Vertreter der Finsternis"
"aus ihren vornehmen Häusern und amtlichen Verschanzungen, aus ihren
frömmelnden Verkleidungen und ihrem überlegnen Schweigen" herausnötigte
und "Auge in Auge mit ihnen, öffentlich vor allem Volk" "Gehorsam gegen
die göttliche Wahrheit, Buße und Glauben, Demütigung vor Gott und Be¬
schreibung des neuen Wegs, auf dem Gott sich in ihm den, Volke offenbart,"
von ihnen verlangte (S. 76).


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damaligen Judentums als die Voraussetzung und den Ausgangspunkt der reli¬
giöse» Entwicklung Christi hinstellt.

Jesus ist ihm buchstäblich das, als was er sich in der Bergpredigt
selbst bezeichnet, der „Vollender des Gesetzes und der Propheten," der Fort¬
setze der alttestamentlichen Offenbarung, „derjenige, in welchem diese Offen¬
barung zur allgemein menschlichen Bedeutung, weil zur vollen Klarheit
über den Willen Gottes gelangt" (S 72). Jesus hat um, so meint
Ziegler, diese Aufgabe dadurch gelöst, daß er 1. deu schwachen Punkt der
alttestamentlichen Gottesvorstellung, nämlich den ungelösten Gegensatz zwischen
der Heiligkeit und der Barmherzigkeit Gottes, mit scharfem Blick ent¬
deckte is. 69); daß er 2. kraft seiner einzigartigen religiösen Begabung, die
g.) (negativ) durch „das Fehlen der Angst vor Gott und der damit zusammen¬
hängenden Neigung, sich dein heiligen Gotte zu entziehe», indem man möglichst
schnell über den Gedanken an ihn hinweggeht, möglichst wenig Ernst damit
macht," b) (positiv) durch „ein ununterbrvchnes Trachten und Suchen nach Gott
und nach der Gemeinschaft der Seele mit ihm als dem alleinigen Mittelpunkte,
der allein festen Grundlage des eignen Lebens und Wesens" is. 52) charakte¬
risiert wird, als erster zu einer befriedigenden Lösung dieses Gegensatzes gelangte,
indem er sich in allmählicher Entwicklung zu der Überzeugung durchrang, daß er
persönlich zu Gott in demselben Verhältnisse stehe, wie ein geliebter Sohn zu
seinem Vater <S. 54); daß er 3. ans Grund dieser Überzeugung „im sich fort
und fort steigernde«, klärenden, kraftvollen Verkehr mit seinem Vater im
Himmel" zu dem Bewußtsein kam, daß er der im Alten Testament verheißene
und von seinem Volke sehnsüchtig erwartete Messias sei (S. 60), daß er sich
4. kraft dieses „Bewußtseins seines himmlischen Berufs zum Christus seines
Volkes" (S. 60) erniedrigte, d. h. die ihm gewordne Erkenntnis nicht hoch¬
mütig und egoistisch für sich behielt, sondern seine ganze Persönlichkeit und
sein Leben daran setzte, sie zum Gemeingut aller Menschen, zunächst seines
eignen Volkes zu machen.

„Jesus Christus, sagt Ziegler wörtlich (S. 57), erniedrigte sich selbst, aber
wahrhaftig uicht durch seine menschliche Geburt und sein menschliches Wesen
und Leben, sondern dadurch, daß er sich um keinen Preis durch das Bewußt¬
sein, welches ihn hoch über alle seine Brüder stellte, von diesen trennen ließ,
sondern dem Willen des Vaters, mit dein er als Sohn verkehrte, gehorsam
ward bis zum Kreuze, ja zum Tode am Kreuze und mit voller, gänzlich un¬
eingeschränkter Persönlichkeit sich der furchtbaren Gewalt des Bösen entgegen¬
stellte," die hochmütigen und selbstgerechten (S. 73) „Vertreter der Finsternis"
„aus ihren vornehmen Häusern und amtlichen Verschanzungen, aus ihren
frömmelnden Verkleidungen und ihrem überlegnen Schweigen" herausnötigte
und „Auge in Auge mit ihnen, öffentlich vor allem Volk" „Gehorsam gegen
die göttliche Wahrheit, Buße und Glauben, Demütigung vor Gott und Be¬
schreibung des neuen Wegs, auf dem Gott sich in ihm den, Volke offenbart,"
von ihnen verlangte (S. 76).


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[0564] Line neue Glaubenslehre damaligen Judentums als die Voraussetzung und den Ausgangspunkt der reli¬ giöse» Entwicklung Christi hinstellt. Jesus ist ihm buchstäblich das, als was er sich in der Bergpredigt selbst bezeichnet, der „Vollender des Gesetzes und der Propheten," der Fort¬ setze der alttestamentlichen Offenbarung, „derjenige, in welchem diese Offen¬ barung zur allgemein menschlichen Bedeutung, weil zur vollen Klarheit über den Willen Gottes gelangt" (S 72). Jesus hat um, so meint Ziegler, diese Aufgabe dadurch gelöst, daß er 1. deu schwachen Punkt der alttestamentlichen Gottesvorstellung, nämlich den ungelösten Gegensatz zwischen der Heiligkeit und der Barmherzigkeit Gottes, mit scharfem Blick ent¬ deckte is. 69); daß er 2. kraft seiner einzigartigen religiösen Begabung, die g.) (negativ) durch „das Fehlen der Angst vor Gott und der damit zusammen¬ hängenden Neigung, sich dein heiligen Gotte zu entziehe», indem man möglichst schnell über den Gedanken an ihn hinweggeht, möglichst wenig Ernst damit macht," b) (positiv) durch „ein ununterbrvchnes Trachten und Suchen nach Gott und nach der Gemeinschaft der Seele mit ihm als dem alleinigen Mittelpunkte, der allein festen Grundlage des eignen Lebens und Wesens" is. 52) charakte¬ risiert wird, als erster zu einer befriedigenden Lösung dieses Gegensatzes gelangte, indem er sich in allmählicher Entwicklung zu der Überzeugung durchrang, daß er persönlich zu Gott in demselben Verhältnisse stehe, wie ein geliebter Sohn zu seinem Vater <S. 54); daß er 3. ans Grund dieser Überzeugung „im sich fort und fort steigernde«, klärenden, kraftvollen Verkehr mit seinem Vater im Himmel" zu dem Bewußtsein kam, daß er der im Alten Testament verheißene und von seinem Volke sehnsüchtig erwartete Messias sei (S. 60), daß er sich 4. kraft dieses „Bewußtseins seines himmlischen Berufs zum Christus seines Volkes" (S. 60) erniedrigte, d. h. die ihm gewordne Erkenntnis nicht hoch¬ mütig und egoistisch für sich behielt, sondern seine ganze Persönlichkeit und sein Leben daran setzte, sie zum Gemeingut aller Menschen, zunächst seines eignen Volkes zu machen. „Jesus Christus, sagt Ziegler wörtlich (S. 57), erniedrigte sich selbst, aber wahrhaftig uicht durch seine menschliche Geburt und sein menschliches Wesen und Leben, sondern dadurch, daß er sich um keinen Preis durch das Bewußt¬ sein, welches ihn hoch über alle seine Brüder stellte, von diesen trennen ließ, sondern dem Willen des Vaters, mit dein er als Sohn verkehrte, gehorsam ward bis zum Kreuze, ja zum Tode am Kreuze und mit voller, gänzlich un¬ eingeschränkter Persönlichkeit sich der furchtbaren Gewalt des Bösen entgegen¬ stellte," die hochmütigen und selbstgerechten (S. 73) „Vertreter der Finsternis" „aus ihren vornehmen Häusern und amtlichen Verschanzungen, aus ihren frömmelnden Verkleidungen und ihrem überlegnen Schweigen" herausnötigte und „Auge in Auge mit ihnen, öffentlich vor allem Volk" „Gehorsam gegen die göttliche Wahrheit, Buße und Glauben, Demütigung vor Gott und Be¬ schreibung des neuen Wegs, auf dem Gott sich in ihm den, Volke offenbart," von ihnen verlangte (S. 76).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/564>, abgerufen am 22.07.2024.