Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hypnose und Suggestion

Geschlecht keine vortretenden Hüften haben darf, und Frauen und Mädchen
Vorkehrungen treffen, sie nach Möglichkeit verschwinden zu lasten, fo erstaunt
man, daß die meisten es für selbstverständlich und notwendig halten, sich diese
Geschmacklosigkeit suggerieren zu lasse".

Schlimmer ist es, daß es Moden giebt in der Sitte, in der Religion, in
der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Litteratur, daß auch
einzelne Menschen Mode werden, die es in keiner Weise verdienen, daß diese
Moden die Welt beherrschen und oft einen außerordentlich verderblichen Ein-
fluß ausübe". Vor allem wird auch die Sitte stark vou der Mode beherrscht;
in frühern Jahrhunderten war es in Deutschland Sitte, daß sich die Vornehmen
und die Gebildeten der deutschen Sprache schämten und sich der französische!?
bedienten; die Maitressenwirtschaft stand in Ausehen, und die jungen Mädchen
und Frauen vornehmer Familien ließen sich mit hnlbentblößtcm Busen malen.
Gewiß waren sie nicht weniger züchtig als die jetzt lebenden, aber es war
Mode, sich so malen zu lassen. Bald nach dem Erscheinen vou Goethes
Dichtung "Die Leiden des jungen Werthers" kam eine Selbstmordepidemie
über die jungen Männer Deutschlands, die in irgend eine Frau verliebt
waren und sich suggerieren ließen, es ebenso machen zu müssen wie Werther.

In der Religion hat die Mode eine geradezu entsetzliche Rolle gespielt;
es sei nur erinnert um das Flagellantemvesen, an die Kinderkreuzzüge und all
die ebenso wahnsinnigen wie blutigen Greuel der Hexen- und Ketzerverfol-
gungeu. Auch in der Politik giebt es Moden; die heutige Ausdehnung der
Sozialdemokratie ist größtenteils ans eine solche zurückzuführen; der gewöhn¬
liche Arbeiter hat kein selbständiges Urteil über politische Fragen, aber er ist
unzufrieden, er will weniger arbeiten und besser leben, und die bezahlten
Wanderredner suggerieren ihm in wachem Zustand ihre Lehren. In der
Wissellschaft spielen die Modcansichtcn eine gewaltige Rolle; die Lehre des
Materialismus wurde von Tausenden und aber Tausenden gedankenlos ange¬
nommen, und doch gilt das Gesetz von der Erhaltung vou Kraft und Stoff
auch für das Gehirn, und deshalb können Geist und Seele kein Sekret der
Gehirnsubstanz sein. Darwins und Haeckels Lehren, die nicht auf exakte"
Forschllugen, sondern auf unbewiesenen Dogmen erbaut sind, hat die Mehrzahl
der Fachleute angenommen; jetzt aber liest man wiederholt und von den größten
Autoritäten, der Darwinismus gehöre der Geschichte an und sei wenig ge¬
eignet, das Ansehen deS vorigen Jahrhunderts in den Allgen späterer Ge¬
schlechter zu heben.

In der Kunst hat die Mode in den letzten Jahren unglaubliches zu Wege
gebracht. Von nlters her war es der Ehrgeiz eines Malers, etwas schönes
möglichst naturgetreu wiederzugeben; es galt für deu höchsten Ruhm, Trauben
so zu malen, daß die Vögel nach ihnen pickten, und einen Vorhang so, daß
sogar ein Maler ihn für wirklich hielt. Jetzt sieht man in den Ausstellungen der
Sezessionisten Bilder, von denen anch ein mit lebhafter Phantasie begabter
nicht errät, was sie vorstellen sollen; die Darstellung soll symbolisch "ud


Hypnose und Suggestion

Geschlecht keine vortretenden Hüften haben darf, und Frauen und Mädchen
Vorkehrungen treffen, sie nach Möglichkeit verschwinden zu lasten, fo erstaunt
man, daß die meisten es für selbstverständlich und notwendig halten, sich diese
Geschmacklosigkeit suggerieren zu lasse».

Schlimmer ist es, daß es Moden giebt in der Sitte, in der Religion, in
der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Litteratur, daß auch
einzelne Menschen Mode werden, die es in keiner Weise verdienen, daß diese
Moden die Welt beherrschen und oft einen außerordentlich verderblichen Ein-
fluß ausübe». Vor allem wird auch die Sitte stark vou der Mode beherrscht;
in frühern Jahrhunderten war es in Deutschland Sitte, daß sich die Vornehmen
und die Gebildeten der deutschen Sprache schämten und sich der französische!?
bedienten; die Maitressenwirtschaft stand in Ausehen, und die jungen Mädchen
und Frauen vornehmer Familien ließen sich mit hnlbentblößtcm Busen malen.
Gewiß waren sie nicht weniger züchtig als die jetzt lebenden, aber es war
Mode, sich so malen zu lassen. Bald nach dem Erscheinen vou Goethes
Dichtung „Die Leiden des jungen Werthers" kam eine Selbstmordepidemie
über die jungen Männer Deutschlands, die in irgend eine Frau verliebt
waren und sich suggerieren ließen, es ebenso machen zu müssen wie Werther.

In der Religion hat die Mode eine geradezu entsetzliche Rolle gespielt;
es sei nur erinnert um das Flagellantemvesen, an die Kinderkreuzzüge und all
die ebenso wahnsinnigen wie blutigen Greuel der Hexen- und Ketzerverfol-
gungeu. Auch in der Politik giebt es Moden; die heutige Ausdehnung der
Sozialdemokratie ist größtenteils ans eine solche zurückzuführen; der gewöhn¬
liche Arbeiter hat kein selbständiges Urteil über politische Fragen, aber er ist
unzufrieden, er will weniger arbeiten und besser leben, und die bezahlten
Wanderredner suggerieren ihm in wachem Zustand ihre Lehren. In der
Wissellschaft spielen die Modcansichtcn eine gewaltige Rolle; die Lehre des
Materialismus wurde von Tausenden und aber Tausenden gedankenlos ange¬
nommen, und doch gilt das Gesetz von der Erhaltung vou Kraft und Stoff
auch für das Gehirn, und deshalb können Geist und Seele kein Sekret der
Gehirnsubstanz sein. Darwins und Haeckels Lehren, die nicht auf exakte»
Forschllugen, sondern auf unbewiesenen Dogmen erbaut sind, hat die Mehrzahl
der Fachleute angenommen; jetzt aber liest man wiederholt und von den größten
Autoritäten, der Darwinismus gehöre der Geschichte an und sei wenig ge¬
eignet, das Ansehen deS vorigen Jahrhunderts in den Allgen späterer Ge¬
schlechter zu heben.

In der Kunst hat die Mode in den letzten Jahren unglaubliches zu Wege
gebracht. Von nlters her war es der Ehrgeiz eines Malers, etwas schönes
möglichst naturgetreu wiederzugeben; es galt für deu höchsten Ruhm, Trauben
so zu malen, daß die Vögel nach ihnen pickten, und einen Vorhang so, daß
sogar ein Maler ihn für wirklich hielt. Jetzt sieht man in den Ausstellungen der
Sezessionisten Bilder, von denen anch ein mit lebhafter Phantasie begabter
nicht errät, was sie vorstellen sollen; die Darstellung soll symbolisch »ud


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0482" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235654"/>
          <fw type="header" place="top"> Hypnose und Suggestion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2015" prev="#ID_2014"> Geschlecht keine vortretenden Hüften haben darf, und Frauen und Mädchen<lb/>
Vorkehrungen treffen, sie nach Möglichkeit verschwinden zu lasten, fo erstaunt<lb/>
man, daß die meisten es für selbstverständlich und notwendig halten, sich diese<lb/>
Geschmacklosigkeit suggerieren zu lasse».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2016"> Schlimmer ist es, daß es Moden giebt in der Sitte, in der Religion, in<lb/>
der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Litteratur, daß auch<lb/>
einzelne Menschen Mode werden, die es in keiner Weise verdienen, daß diese<lb/>
Moden die Welt beherrschen und oft einen außerordentlich verderblichen Ein-<lb/>
fluß ausübe». Vor allem wird auch die Sitte stark vou der Mode beherrscht;<lb/>
in frühern Jahrhunderten war es in Deutschland Sitte, daß sich die Vornehmen<lb/>
und die Gebildeten der deutschen Sprache schämten und sich der französische!?<lb/>
bedienten; die Maitressenwirtschaft stand in Ausehen, und die jungen Mädchen<lb/>
und Frauen vornehmer Familien ließen sich mit hnlbentblößtcm Busen malen.<lb/>
Gewiß waren sie nicht weniger züchtig als die jetzt lebenden, aber es war<lb/>
Mode, sich so malen zu lassen. Bald nach dem Erscheinen vou Goethes<lb/>
Dichtung &#x201E;Die Leiden des jungen Werthers" kam eine Selbstmordepidemie<lb/>
über die jungen Männer Deutschlands, die in irgend eine Frau verliebt<lb/>
waren und sich suggerieren ließen, es ebenso machen zu müssen wie Werther.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2017"> In der Religion hat die Mode eine geradezu entsetzliche Rolle gespielt;<lb/>
es sei nur erinnert um das Flagellantemvesen, an die Kinderkreuzzüge und all<lb/>
die ebenso wahnsinnigen wie blutigen Greuel der Hexen- und Ketzerverfol-<lb/>
gungeu. Auch in der Politik giebt es Moden; die heutige Ausdehnung der<lb/>
Sozialdemokratie ist größtenteils ans eine solche zurückzuführen; der gewöhn¬<lb/>
liche Arbeiter hat kein selbständiges Urteil über politische Fragen, aber er ist<lb/>
unzufrieden, er will weniger arbeiten und besser leben, und die bezahlten<lb/>
Wanderredner suggerieren ihm in wachem Zustand ihre Lehren. In der<lb/>
Wissellschaft spielen die Modcansichtcn eine gewaltige Rolle; die Lehre des<lb/>
Materialismus wurde von Tausenden und aber Tausenden gedankenlos ange¬<lb/>
nommen, und doch gilt das Gesetz von der Erhaltung vou Kraft und Stoff<lb/>
auch für das Gehirn, und deshalb können Geist und Seele kein Sekret der<lb/>
Gehirnsubstanz sein. Darwins und Haeckels Lehren, die nicht auf exakte»<lb/>
Forschllugen, sondern auf unbewiesenen Dogmen erbaut sind, hat die Mehrzahl<lb/>
der Fachleute angenommen; jetzt aber liest man wiederholt und von den größten<lb/>
Autoritäten, der Darwinismus gehöre der Geschichte an und sei wenig ge¬<lb/>
eignet, das Ansehen deS vorigen Jahrhunderts in den Allgen späterer Ge¬<lb/>
schlechter zu heben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2018" next="#ID_2019"> In der Kunst hat die Mode in den letzten Jahren unglaubliches zu Wege<lb/>
gebracht. Von nlters her war es der Ehrgeiz eines Malers, etwas schönes<lb/>
möglichst naturgetreu wiederzugeben; es galt für deu höchsten Ruhm, Trauben<lb/>
so zu malen, daß die Vögel nach ihnen pickten, und einen Vorhang so, daß<lb/>
sogar ein Maler ihn für wirklich hielt. Jetzt sieht man in den Ausstellungen der<lb/>
Sezessionisten Bilder, von denen anch ein mit lebhafter Phantasie begabter<lb/>
nicht errät, was sie vorstellen sollen; die Darstellung soll symbolisch »ud</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0482] Hypnose und Suggestion Geschlecht keine vortretenden Hüften haben darf, und Frauen und Mädchen Vorkehrungen treffen, sie nach Möglichkeit verschwinden zu lasten, fo erstaunt man, daß die meisten es für selbstverständlich und notwendig halten, sich diese Geschmacklosigkeit suggerieren zu lasse». Schlimmer ist es, daß es Moden giebt in der Sitte, in der Religion, in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Litteratur, daß auch einzelne Menschen Mode werden, die es in keiner Weise verdienen, daß diese Moden die Welt beherrschen und oft einen außerordentlich verderblichen Ein- fluß ausübe». Vor allem wird auch die Sitte stark vou der Mode beherrscht; in frühern Jahrhunderten war es in Deutschland Sitte, daß sich die Vornehmen und die Gebildeten der deutschen Sprache schämten und sich der französische!? bedienten; die Maitressenwirtschaft stand in Ausehen, und die jungen Mädchen und Frauen vornehmer Familien ließen sich mit hnlbentblößtcm Busen malen. Gewiß waren sie nicht weniger züchtig als die jetzt lebenden, aber es war Mode, sich so malen zu lassen. Bald nach dem Erscheinen vou Goethes Dichtung „Die Leiden des jungen Werthers" kam eine Selbstmordepidemie über die jungen Männer Deutschlands, die in irgend eine Frau verliebt waren und sich suggerieren ließen, es ebenso machen zu müssen wie Werther. In der Religion hat die Mode eine geradezu entsetzliche Rolle gespielt; es sei nur erinnert um das Flagellantemvesen, an die Kinderkreuzzüge und all die ebenso wahnsinnigen wie blutigen Greuel der Hexen- und Ketzerverfol- gungeu. Auch in der Politik giebt es Moden; die heutige Ausdehnung der Sozialdemokratie ist größtenteils ans eine solche zurückzuführen; der gewöhn¬ liche Arbeiter hat kein selbständiges Urteil über politische Fragen, aber er ist unzufrieden, er will weniger arbeiten und besser leben, und die bezahlten Wanderredner suggerieren ihm in wachem Zustand ihre Lehren. In der Wissellschaft spielen die Modcansichtcn eine gewaltige Rolle; die Lehre des Materialismus wurde von Tausenden und aber Tausenden gedankenlos ange¬ nommen, und doch gilt das Gesetz von der Erhaltung vou Kraft und Stoff auch für das Gehirn, und deshalb können Geist und Seele kein Sekret der Gehirnsubstanz sein. Darwins und Haeckels Lehren, die nicht auf exakte» Forschllugen, sondern auf unbewiesenen Dogmen erbaut sind, hat die Mehrzahl der Fachleute angenommen; jetzt aber liest man wiederholt und von den größten Autoritäten, der Darwinismus gehöre der Geschichte an und sei wenig ge¬ eignet, das Ansehen deS vorigen Jahrhunderts in den Allgen späterer Ge¬ schlechter zu heben. In der Kunst hat die Mode in den letzten Jahren unglaubliches zu Wege gebracht. Von nlters her war es der Ehrgeiz eines Malers, etwas schönes möglichst naturgetreu wiederzugeben; es galt für deu höchsten Ruhm, Trauben so zu malen, daß die Vögel nach ihnen pickten, und einen Vorhang so, daß sogar ein Maler ihn für wirklich hielt. Jetzt sieht man in den Ausstellungen der Sezessionisten Bilder, von denen anch ein mit lebhafter Phantasie begabter nicht errät, was sie vorstellen sollen; die Darstellung soll symbolisch »ud

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/482
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/482>, abgerufen am 03.07.2024.