Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hypnose und Suggestion

Beim neugebornen Kinde scheu wir zunächst nur die Erscheinungen der
Leibesseelc, Seele und Geist sind noch nicht bemerkbar; das kleine Kind sieht
den Mond am Himmel und greift nach ihm; später, wenn die Seelenthätigkeit
erwacht ist, hat es die Erfahrung gemacht, daß er mit den Händen nicht zu
erreichen ist; in einem spätern Lebensalter zeigen sich die geistigen Funktionen,
und das Kind weiß jetzt, daß der Mond viele tausend Meilen von der Erde
entfernt ist. Beim Einschlafen entschläft zuerst der Geist, dann die Seele, hierauf
die Leibesseele, das Erwachen geht in umgekehrter Reihenfolge vor sich, und
die ungeregelten, wirren, unlogischen, seltsamen Vorstellungen der noch wachen
Leibesseele bei schon schlafender Seele und schlafenden Geist nennen wir
Träume. Der Traum ist ein regelloses Walten der Leibesseele, während
Seele und Geist schon oder noch schlafen, und beschäftigt sich in der Regel
mit kurz zuvor im wachen Zustande empfangner Eindrücken; im unvollkommnen
Schlaf, wobei die Leibesseele noch wacht, übermittelt diese cmpfcmgnc Ein¬
drücke der Seele mit Leichtigkeit und bewirkt so ein plötzliches Erwachen; eine
Mutter schläft weiter bei lautem Straßenlärm, erwacht aber sofort beim leisen
Rufen ihres Kindes.

Die Hypnose, früher Mcsmerismus, magnetischer Schlaf genannt, ist die
künstliche Einschläferung eines Menschen durch eiuen andern, den Magnetiseur
oder Hypnotiseur, aber eine unvollkommne; Geist und Seele läßt er ein¬
schlafen, die Leibesseelc aber wird künstlich wach gehalten, und zwar dadurch,
daß einer der hohem Sinne des zu Hypnotisierenden durch den Hypnotiseur
angeregt wird, der Gefühls- oder der Gehör- oder der Gesichtssinn. Be¬
dingung für das Zustandekommen der Hypnose ist der Wille des Objekts, sich
hypnotisieren zu lassen; leistet es Widerstand, so tritt kein hypnotischer Schlaf
ein; am leichtesten zu hypnotisieren sind nachgiebige, willensschwache Naturen,
dagegen muß der Hypnotiseur energisch und willensstnrk sein, er muß Autorität
über das Objekt haben, und deshalb sind die Hypnotiseure meistens Männer
und die Hypnotisierten in der Regel Mädchen. Der Geist muß zum Hypnotisiert-
wcrden willig sein; deshalb kaun man Kinder unter sieben Jahren nicht hyp¬
notisieren, weil bei ihnen der Geist noch nicht entwickelt ist, ebensowenig
Tiere; was mau so gedeutet hat, sind kataleptische Zustände.

Der oder die zu Hypnotisierende soll in eine bequeme Lage gebracht
werden, eine Lagerung auf einem Lehnstuhl oder ein horizontales Liegen ist
das zweckmäßigste; es muß lautlose Stille herrschen, und das Objekt wird auf¬
gefordert, sich auf den Schlaf vorzubereiten und alle eignen Gedanken zu unter¬
drücken. Der Hypnotiseur redet um in bestimmter, aber ruhiger, langsamer
und gemessener Weise dem Objekt zu: "Schließen Sie die Angen; denken Sie
nur an den Schlaf; atmen Sie tief und langsam; nun werden Sie schon
müde; die Lider werden schwer; jetzt schlafen Sie gleich." Oder der Hypno¬
tiseur läßt das Objekt längere Zeit einen blanken Gegenstand aus kurzer Ent¬
fernung starr ansehen, oder er streicht von den Schläfen langsam und leise
über Hals und Arme bis zu den Fingerspitzen. Diese an sich sehr verschiednen


Hypnose und Suggestion

Beim neugebornen Kinde scheu wir zunächst nur die Erscheinungen der
Leibesseelc, Seele und Geist sind noch nicht bemerkbar; das kleine Kind sieht
den Mond am Himmel und greift nach ihm; später, wenn die Seelenthätigkeit
erwacht ist, hat es die Erfahrung gemacht, daß er mit den Händen nicht zu
erreichen ist; in einem spätern Lebensalter zeigen sich die geistigen Funktionen,
und das Kind weiß jetzt, daß der Mond viele tausend Meilen von der Erde
entfernt ist. Beim Einschlafen entschläft zuerst der Geist, dann die Seele, hierauf
die Leibesseele, das Erwachen geht in umgekehrter Reihenfolge vor sich, und
die ungeregelten, wirren, unlogischen, seltsamen Vorstellungen der noch wachen
Leibesseele bei schon schlafender Seele und schlafenden Geist nennen wir
Träume. Der Traum ist ein regelloses Walten der Leibesseele, während
Seele und Geist schon oder noch schlafen, und beschäftigt sich in der Regel
mit kurz zuvor im wachen Zustande empfangner Eindrücken; im unvollkommnen
Schlaf, wobei die Leibesseele noch wacht, übermittelt diese cmpfcmgnc Ein¬
drücke der Seele mit Leichtigkeit und bewirkt so ein plötzliches Erwachen; eine
Mutter schläft weiter bei lautem Straßenlärm, erwacht aber sofort beim leisen
Rufen ihres Kindes.

Die Hypnose, früher Mcsmerismus, magnetischer Schlaf genannt, ist die
künstliche Einschläferung eines Menschen durch eiuen andern, den Magnetiseur
oder Hypnotiseur, aber eine unvollkommne; Geist und Seele läßt er ein¬
schlafen, die Leibesseelc aber wird künstlich wach gehalten, und zwar dadurch,
daß einer der hohem Sinne des zu Hypnotisierenden durch den Hypnotiseur
angeregt wird, der Gefühls- oder der Gehör- oder der Gesichtssinn. Be¬
dingung für das Zustandekommen der Hypnose ist der Wille des Objekts, sich
hypnotisieren zu lassen; leistet es Widerstand, so tritt kein hypnotischer Schlaf
ein; am leichtesten zu hypnotisieren sind nachgiebige, willensschwache Naturen,
dagegen muß der Hypnotiseur energisch und willensstnrk sein, er muß Autorität
über das Objekt haben, und deshalb sind die Hypnotiseure meistens Männer
und die Hypnotisierten in der Regel Mädchen. Der Geist muß zum Hypnotisiert-
wcrden willig sein; deshalb kaun man Kinder unter sieben Jahren nicht hyp¬
notisieren, weil bei ihnen der Geist noch nicht entwickelt ist, ebensowenig
Tiere; was mau so gedeutet hat, sind kataleptische Zustände.

Der oder die zu Hypnotisierende soll in eine bequeme Lage gebracht
werden, eine Lagerung auf einem Lehnstuhl oder ein horizontales Liegen ist
das zweckmäßigste; es muß lautlose Stille herrschen, und das Objekt wird auf¬
gefordert, sich auf den Schlaf vorzubereiten und alle eignen Gedanken zu unter¬
drücken. Der Hypnotiseur redet um in bestimmter, aber ruhiger, langsamer
und gemessener Weise dem Objekt zu: „Schließen Sie die Angen; denken Sie
nur an den Schlaf; atmen Sie tief und langsam; nun werden Sie schon
müde; die Lider werden schwer; jetzt schlafen Sie gleich." Oder der Hypno¬
tiseur läßt das Objekt längere Zeit einen blanken Gegenstand aus kurzer Ent¬
fernung starr ansehen, oder er streicht von den Schläfen langsam und leise
über Hals und Arme bis zu den Fingerspitzen. Diese an sich sehr verschiednen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235650"/>
          <fw type="header" place="top"> Hypnose und Suggestion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1999"> Beim neugebornen Kinde scheu wir zunächst nur die Erscheinungen der<lb/>
Leibesseelc, Seele und Geist sind noch nicht bemerkbar; das kleine Kind sieht<lb/>
den Mond am Himmel und greift nach ihm; später, wenn die Seelenthätigkeit<lb/>
erwacht ist, hat es die Erfahrung gemacht, daß er mit den Händen nicht zu<lb/>
erreichen ist; in einem spätern Lebensalter zeigen sich die geistigen Funktionen,<lb/>
und das Kind weiß jetzt, daß der Mond viele tausend Meilen von der Erde<lb/>
entfernt ist. Beim Einschlafen entschläft zuerst der Geist, dann die Seele, hierauf<lb/>
die Leibesseele, das Erwachen geht in umgekehrter Reihenfolge vor sich, und<lb/>
die ungeregelten, wirren, unlogischen, seltsamen Vorstellungen der noch wachen<lb/>
Leibesseele bei schon schlafender Seele und schlafenden Geist nennen wir<lb/>
Träume. Der Traum ist ein regelloses Walten der Leibesseele, während<lb/>
Seele und Geist schon oder noch schlafen, und beschäftigt sich in der Regel<lb/>
mit kurz zuvor im wachen Zustande empfangner Eindrücken; im unvollkommnen<lb/>
Schlaf, wobei die Leibesseele noch wacht, übermittelt diese cmpfcmgnc Ein¬<lb/>
drücke der Seele mit Leichtigkeit und bewirkt so ein plötzliches Erwachen; eine<lb/>
Mutter schläft weiter bei lautem Straßenlärm, erwacht aber sofort beim leisen<lb/>
Rufen ihres Kindes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2000"> Die Hypnose, früher Mcsmerismus, magnetischer Schlaf genannt, ist die<lb/>
künstliche Einschläferung eines Menschen durch eiuen andern, den Magnetiseur<lb/>
oder Hypnotiseur, aber eine unvollkommne; Geist und Seele läßt er ein¬<lb/>
schlafen, die Leibesseelc aber wird künstlich wach gehalten, und zwar dadurch,<lb/>
daß einer der hohem Sinne des zu Hypnotisierenden durch den Hypnotiseur<lb/>
angeregt wird, der Gefühls- oder der Gehör- oder der Gesichtssinn. Be¬<lb/>
dingung für das Zustandekommen der Hypnose ist der Wille des Objekts, sich<lb/>
hypnotisieren zu lassen; leistet es Widerstand, so tritt kein hypnotischer Schlaf<lb/>
ein; am leichtesten zu hypnotisieren sind nachgiebige, willensschwache Naturen,<lb/>
dagegen muß der Hypnotiseur energisch und willensstnrk sein, er muß Autorität<lb/>
über das Objekt haben, und deshalb sind die Hypnotiseure meistens Männer<lb/>
und die Hypnotisierten in der Regel Mädchen. Der Geist muß zum Hypnotisiert-<lb/>
wcrden willig sein; deshalb kaun man Kinder unter sieben Jahren nicht hyp¬<lb/>
notisieren, weil bei ihnen der Geist noch nicht entwickelt ist, ebensowenig<lb/>
Tiere; was mau so gedeutet hat, sind kataleptische Zustände.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2001" next="#ID_2002"> Der oder die zu Hypnotisierende soll in eine bequeme Lage gebracht<lb/>
werden, eine Lagerung auf einem Lehnstuhl oder ein horizontales Liegen ist<lb/>
das zweckmäßigste; es muß lautlose Stille herrschen, und das Objekt wird auf¬<lb/>
gefordert, sich auf den Schlaf vorzubereiten und alle eignen Gedanken zu unter¬<lb/>
drücken. Der Hypnotiseur redet um in bestimmter, aber ruhiger, langsamer<lb/>
und gemessener Weise dem Objekt zu: &#x201E;Schließen Sie die Angen; denken Sie<lb/>
nur an den Schlaf; atmen Sie tief und langsam; nun werden Sie schon<lb/>
müde; die Lider werden schwer; jetzt schlafen Sie gleich." Oder der Hypno¬<lb/>
tiseur läßt das Objekt längere Zeit einen blanken Gegenstand aus kurzer Ent¬<lb/>
fernung starr ansehen, oder er streicht von den Schläfen langsam und leise<lb/>
über Hals und Arme bis zu den Fingerspitzen. Diese an sich sehr verschiednen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0478] Hypnose und Suggestion Beim neugebornen Kinde scheu wir zunächst nur die Erscheinungen der Leibesseelc, Seele und Geist sind noch nicht bemerkbar; das kleine Kind sieht den Mond am Himmel und greift nach ihm; später, wenn die Seelenthätigkeit erwacht ist, hat es die Erfahrung gemacht, daß er mit den Händen nicht zu erreichen ist; in einem spätern Lebensalter zeigen sich die geistigen Funktionen, und das Kind weiß jetzt, daß der Mond viele tausend Meilen von der Erde entfernt ist. Beim Einschlafen entschläft zuerst der Geist, dann die Seele, hierauf die Leibesseele, das Erwachen geht in umgekehrter Reihenfolge vor sich, und die ungeregelten, wirren, unlogischen, seltsamen Vorstellungen der noch wachen Leibesseele bei schon schlafender Seele und schlafenden Geist nennen wir Träume. Der Traum ist ein regelloses Walten der Leibesseele, während Seele und Geist schon oder noch schlafen, und beschäftigt sich in der Regel mit kurz zuvor im wachen Zustande empfangner Eindrücken; im unvollkommnen Schlaf, wobei die Leibesseele noch wacht, übermittelt diese cmpfcmgnc Ein¬ drücke der Seele mit Leichtigkeit und bewirkt so ein plötzliches Erwachen; eine Mutter schläft weiter bei lautem Straßenlärm, erwacht aber sofort beim leisen Rufen ihres Kindes. Die Hypnose, früher Mcsmerismus, magnetischer Schlaf genannt, ist die künstliche Einschläferung eines Menschen durch eiuen andern, den Magnetiseur oder Hypnotiseur, aber eine unvollkommne; Geist und Seele läßt er ein¬ schlafen, die Leibesseelc aber wird künstlich wach gehalten, und zwar dadurch, daß einer der hohem Sinne des zu Hypnotisierenden durch den Hypnotiseur angeregt wird, der Gefühls- oder der Gehör- oder der Gesichtssinn. Be¬ dingung für das Zustandekommen der Hypnose ist der Wille des Objekts, sich hypnotisieren zu lassen; leistet es Widerstand, so tritt kein hypnotischer Schlaf ein; am leichtesten zu hypnotisieren sind nachgiebige, willensschwache Naturen, dagegen muß der Hypnotiseur energisch und willensstnrk sein, er muß Autorität über das Objekt haben, und deshalb sind die Hypnotiseure meistens Männer und die Hypnotisierten in der Regel Mädchen. Der Geist muß zum Hypnotisiert- wcrden willig sein; deshalb kaun man Kinder unter sieben Jahren nicht hyp¬ notisieren, weil bei ihnen der Geist noch nicht entwickelt ist, ebensowenig Tiere; was mau so gedeutet hat, sind kataleptische Zustände. Der oder die zu Hypnotisierende soll in eine bequeme Lage gebracht werden, eine Lagerung auf einem Lehnstuhl oder ein horizontales Liegen ist das zweckmäßigste; es muß lautlose Stille herrschen, und das Objekt wird auf¬ gefordert, sich auf den Schlaf vorzubereiten und alle eignen Gedanken zu unter¬ drücken. Der Hypnotiseur redet um in bestimmter, aber ruhiger, langsamer und gemessener Weise dem Objekt zu: „Schließen Sie die Angen; denken Sie nur an den Schlaf; atmen Sie tief und langsam; nun werden Sie schon müde; die Lider werden schwer; jetzt schlafen Sie gleich." Oder der Hypno¬ tiseur läßt das Objekt längere Zeit einen blanken Gegenstand aus kurzer Ent¬ fernung starr ansehen, oder er streicht von den Schläfen langsam und leise über Hals und Arme bis zu den Fingerspitzen. Diese an sich sehr verschiednen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/478
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/478>, abgerufen am 22.07.2024.