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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

Geistes und Körpers fordert. Aber die wurmstichige Jugend, die man den as
sieolo nannte, und die trotzdem in das neue Jahrhundert mit hinübcrgebummelt
ist, hat den Satz umgekehrt, will nichts werden und alles sein. Burschen, die
noch die Splitter der Schulbänke in den Kleidern haben, schwatzen vom Mar¬
tyrium ihres Gehirns, Gecken meinen "vom Weibe" zu dichten, wenn sie ihre
Übeln Kellnerinnen- und Ladenmädchcngeschichten in cynischer Breite auskramen,
und neurasthenische Bengel, die durch die Lektüre Nietzsches verdreht worden
sind, seufzen, daß es sich nicht verlohnt, sein Innerstes der dummen Welt zu
zeigen, die Sokrates vergiftet und Giordano Bruno verbrannt hat. Sie be¬
trügen sich selbst um den blühenden Menschheitsfrühling, um ihr eignes Teil
an Sonne, Mailnst und Fruchtbarkeit, nur um der verblüfften Mitwelt zu
zeigen, daß sie fertig sind. Zwischen dieser schlottrigen und schnoddrigen
Jugend von hente und der Jugend der Stürmer und Dränger und der
Romantiker, deren Nachbild sie sein will, liegt eine Kluft von tausend Jahren.
Diese Jugend gleicht nicht mehr dem herrlichen Geiste, der ans seinen Fremden
die Erkenntnis und aus seinen Kenntnissen die Freude nahm. Der Promctheus-
trotz ist von diesen Frühgreisen gewichen und hat dem spöttischen, mißachtenden
Lächeln Platz gemacht, mit dem wohl die Krüppel und Lahmen dem Spiel
der Gesunden zuschauen mögen. Ihr Lachen ist nicht das helle SicgfriedS-
lachcu vor dem Kampfe mit Drachen und Riesen, es erinnert an das lautlose,
die müden Züge verzerrende Grinsen des toten Jünglings im Kapuzinerkeller.
?roxpo AiovAiis!

Die Bühnendichter der letzte" Vergangenheit, sagt Presber i" seinem
Schlußkapitel, haben miteinander gewetteifert in der Kunst, die Wirklichkeit
nachzuzeichnen; das Drama der Zukunft braucht Helden, für die wir uns
interessieren können, und Handlungen, die der Mühe wert sind, eine Höhe
des Lebens anstatt der Miseren des Tags, des Armeleutemilieus und des
Gedankenspiels, also das, was Shakespeare und unsre Klassiker uns einst ge¬
geben haben. Hiervon handelt ein dramatischer Dichter, Otto von der Pfordten
in einem lehrreichen wissenschaftlichen Buche: "Werden und Wesen des histo¬
rischen Dramas" (Heidelberg, Winter), dessen erster, historischer Teil klar¬
machen soll, wie weit das Drama der einzelnen Völker und Zeiten bis auf
unsre Gegenwart nach seinen Stoffen und seiner technischen Durchführung
überhaupt "historisch" ist, und wie weit nicht. Er grenzt das historische
Schauspiel gegen die Tragödie der Griechen ab, behandelt Shakespeare, die
Spanier und die Franzosen, von den Deutschen eingehend Schiller, und sucht
aus der geschichtlichen Betrachtung das Charaktcristikon der historischen Treue,
nuf das es ihm für seine beiden folgenden Teile, einen theoretischen und einen
Praktischen, ankommt, möglichst rein zu gewinnen. Die Schilderung sei viel
häufiger, als es auf den ersten Eindruck scheine, bloß phantastisch oder kon¬
ventionell, z. B. durchweg bei den Romanen, sogar bei den Spaniern mit
Ausnahme des einen Lope de Vega. In der Zurückdrüngung des "Zeitlosen"
liege der Fortschritt, und hierin sei Schiller noch weiter gegangen als Shake-


Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

Geistes und Körpers fordert. Aber die wurmstichige Jugend, die man den as
sieolo nannte, und die trotzdem in das neue Jahrhundert mit hinübcrgebummelt
ist, hat den Satz umgekehrt, will nichts werden und alles sein. Burschen, die
noch die Splitter der Schulbänke in den Kleidern haben, schwatzen vom Mar¬
tyrium ihres Gehirns, Gecken meinen „vom Weibe" zu dichten, wenn sie ihre
Übeln Kellnerinnen- und Ladenmädchcngeschichten in cynischer Breite auskramen,
und neurasthenische Bengel, die durch die Lektüre Nietzsches verdreht worden
sind, seufzen, daß es sich nicht verlohnt, sein Innerstes der dummen Welt zu
zeigen, die Sokrates vergiftet und Giordano Bruno verbrannt hat. Sie be¬
trügen sich selbst um den blühenden Menschheitsfrühling, um ihr eignes Teil
an Sonne, Mailnst und Fruchtbarkeit, nur um der verblüfften Mitwelt zu
zeigen, daß sie fertig sind. Zwischen dieser schlottrigen und schnoddrigen
Jugend von hente und der Jugend der Stürmer und Dränger und der
Romantiker, deren Nachbild sie sein will, liegt eine Kluft von tausend Jahren.
Diese Jugend gleicht nicht mehr dem herrlichen Geiste, der ans seinen Fremden
die Erkenntnis und aus seinen Kenntnissen die Freude nahm. Der Promctheus-
trotz ist von diesen Frühgreisen gewichen und hat dem spöttischen, mißachtenden
Lächeln Platz gemacht, mit dem wohl die Krüppel und Lahmen dem Spiel
der Gesunden zuschauen mögen. Ihr Lachen ist nicht das helle SicgfriedS-
lachcu vor dem Kampfe mit Drachen und Riesen, es erinnert an das lautlose,
die müden Züge verzerrende Grinsen des toten Jünglings im Kapuzinerkeller.
?roxpo AiovAiis!

Die Bühnendichter der letzte» Vergangenheit, sagt Presber i« seinem
Schlußkapitel, haben miteinander gewetteifert in der Kunst, die Wirklichkeit
nachzuzeichnen; das Drama der Zukunft braucht Helden, für die wir uns
interessieren können, und Handlungen, die der Mühe wert sind, eine Höhe
des Lebens anstatt der Miseren des Tags, des Armeleutemilieus und des
Gedankenspiels, also das, was Shakespeare und unsre Klassiker uns einst ge¬
geben haben. Hiervon handelt ein dramatischer Dichter, Otto von der Pfordten
in einem lehrreichen wissenschaftlichen Buche: „Werden und Wesen des histo¬
rischen Dramas" (Heidelberg, Winter), dessen erster, historischer Teil klar¬
machen soll, wie weit das Drama der einzelnen Völker und Zeiten bis auf
unsre Gegenwart nach seinen Stoffen und seiner technischen Durchführung
überhaupt „historisch" ist, und wie weit nicht. Er grenzt das historische
Schauspiel gegen die Tragödie der Griechen ab, behandelt Shakespeare, die
Spanier und die Franzosen, von den Deutschen eingehend Schiller, und sucht
aus der geschichtlichen Betrachtung das Charaktcristikon der historischen Treue,
nuf das es ihm für seine beiden folgenden Teile, einen theoretischen und einen
Praktischen, ankommt, möglichst rein zu gewinnen. Die Schilderung sei viel
häufiger, als es auf den ersten Eindruck scheine, bloß phantastisch oder kon¬
ventionell, z. B. durchweg bei den Romanen, sogar bei den Spaniern mit
Ausnahme des einen Lope de Vega. In der Zurückdrüngung des „Zeitlosen"
liege der Fortschritt, und hierin sei Schiller noch weiter gegangen als Shake-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/331>, abgerufen am 22.07.2024.