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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das britische Parlament

"och was Sachen betrifft. Der Theorie nach reicht sie bis eins Unmögliche,
und da im Parlament selbst einer der beiden Teile Führer sein muß, so hat
das Unterhaus die Rolle der irdischen Vorsehung übernommen, die, soweit es
ihr paßt, sich nicht bloß mit großen Dingen, wie Krieg und Frieden, Steuern
und Gesetzen, sondern anch mit den kleinen bis hinunter auf die allerkleinsten
befaßt, daß man Wohl versucht sein könnte, dem Witenagemot anzuraten, seinen
Wirkungskreis etwas einzuschränken und für "richtigere Sachen mehr Zeit zu
gewinnen durch Überweisung der unwichtigen an Ortsbehörden. Viele Sachen,
die in Preußen ein Provinziallandtag erledigt, müssen dnrch das Parlament
gehn, und andre, für die in Deutschland die Machtvollkommenheit eines Bürger¬
meisters oder Ortsschulzeu genügt, werden ebenfalls der Reichsversammlung
vorgelegt. Es klingt possenhaft, aber es ist wahr: Im Jahre 1899 brachte
der Abgeordnete P. D, Sullivan eine Vorlage ein, die bezweckte, in Irland
das Niederlegen von Zeitungen und Plataeer auf dem Straßenpflaster zu ver¬
bieten. Der Unfug, dem damit gesteuert werden sollte, herrscht auch in Eng¬
land und ist jedem Besucher Londons bekannt. Aber deshalb das Parlament
mit einer Vorlage zu behelligen, ist selbst ein Unfug.

Das Recht, Vorlagen einzubringen, wobei es die damit verbundnen Kosten
tragen muß, hat jedes Mitglied; sie zur Verhandlung zu bringen, steht nicht in
seiner Macht. Andre Mitglieder können das leicht vereiteln, und außerdem
muß "n't dem Haupte der Mehrheitpartei, dem Führer des Unterhauses, ge¬
rechnet werden. Der läßt Wohl zu Anfang einer Tagung den Mitgliedern
Spielraum für ihnen am Herzen liegende Vorlagen. Später spricht er sein
Machtwort, und die Regierungsvorlagen schieben alles andre beiseite. So
kommt es, daß manchmal die besten Vorlagen aus dem Hanse es nie über die
zweite Lesung hinausbringen und wiederholt nen eingebracht werden müssen,
bis sich endlich die Regierung erbarmt. In der zweiten Hälfte einer Tagung
ist deshalb die Stellung der ehrenwerten Mitglieder nicht besonders stolz. Sie
können den Ministern durch Stellung verfänglicher Fragen das Leben sauer
machen, sonst sind sie kaum mehr als Abstimmuugsautomaten, die unter dem Be¬
fehle ihres Einpeitschers stehn, der seinerseits den Anweisungen der Partei¬
häupter folgt.

Eine über das ganze Land ausgebreitete Parteiorganisation" ist immer
wie Folge parlamentarischen Lebens. Das deutsche Parlament in Frankfurt
Wng noch hervor ans Wahlen, die ans dein persönlichen Vertrauen der Wähler
ni den Bewerber beruhten und von dem Einflusse einer ausgedehnten Partei¬
organisation frei waren. Beim deutschen Reichstage war das nicht mehr der
Fall, und im britischen Parlament ist schon seit Jahrhunderten die Partei
für die Wahlen ausschlaggebend. Ohne die Zustimmung der Parteileitung
ist eine Bewerbung so gut wie aussichtslos, und wer sich gegen sie auflehnt,
dem bleibt nichts übrig, als sich ins Privatleben zurttckznziehn, wenn er nicht
mit Sack und Pack ins feindliche Lager übergeht und dort sein Heil versucht.
Die Partei wird sich immer bemühn, in unsichern Wahlkreisen den Mann anf-


Grenzbotm III 1901 21
Das britische Parlament

»och was Sachen betrifft. Der Theorie nach reicht sie bis eins Unmögliche,
und da im Parlament selbst einer der beiden Teile Führer sein muß, so hat
das Unterhaus die Rolle der irdischen Vorsehung übernommen, die, soweit es
ihr paßt, sich nicht bloß mit großen Dingen, wie Krieg und Frieden, Steuern
und Gesetzen, sondern anch mit den kleinen bis hinunter auf die allerkleinsten
befaßt, daß man Wohl versucht sein könnte, dem Witenagemot anzuraten, seinen
Wirkungskreis etwas einzuschränken und für »richtigere Sachen mehr Zeit zu
gewinnen durch Überweisung der unwichtigen an Ortsbehörden. Viele Sachen,
die in Preußen ein Provinziallandtag erledigt, müssen dnrch das Parlament
gehn, und andre, für die in Deutschland die Machtvollkommenheit eines Bürger¬
meisters oder Ortsschulzeu genügt, werden ebenfalls der Reichsversammlung
vorgelegt. Es klingt possenhaft, aber es ist wahr: Im Jahre 1899 brachte
der Abgeordnete P. D, Sullivan eine Vorlage ein, die bezweckte, in Irland
das Niederlegen von Zeitungen und Plataeer auf dem Straßenpflaster zu ver¬
bieten. Der Unfug, dem damit gesteuert werden sollte, herrscht auch in Eng¬
land und ist jedem Besucher Londons bekannt. Aber deshalb das Parlament
mit einer Vorlage zu behelligen, ist selbst ein Unfug.

Das Recht, Vorlagen einzubringen, wobei es die damit verbundnen Kosten
tragen muß, hat jedes Mitglied; sie zur Verhandlung zu bringen, steht nicht in
seiner Macht. Andre Mitglieder können das leicht vereiteln, und außerdem
muß »n't dem Haupte der Mehrheitpartei, dem Führer des Unterhauses, ge¬
rechnet werden. Der läßt Wohl zu Anfang einer Tagung den Mitgliedern
Spielraum für ihnen am Herzen liegende Vorlagen. Später spricht er sein
Machtwort, und die Regierungsvorlagen schieben alles andre beiseite. So
kommt es, daß manchmal die besten Vorlagen aus dem Hanse es nie über die
zweite Lesung hinausbringen und wiederholt nen eingebracht werden müssen,
bis sich endlich die Regierung erbarmt. In der zweiten Hälfte einer Tagung
ist deshalb die Stellung der ehrenwerten Mitglieder nicht besonders stolz. Sie
können den Ministern durch Stellung verfänglicher Fragen das Leben sauer
machen, sonst sind sie kaum mehr als Abstimmuugsautomaten, die unter dem Be¬
fehle ihres Einpeitschers stehn, der seinerseits den Anweisungen der Partei¬
häupter folgt.

Eine über das ganze Land ausgebreitete Parteiorganisation« ist immer
wie Folge parlamentarischen Lebens. Das deutsche Parlament in Frankfurt
Wng noch hervor ans Wahlen, die ans dein persönlichen Vertrauen der Wähler
ni den Bewerber beruhten und von dem Einflusse einer ausgedehnten Partei¬
organisation frei waren. Beim deutschen Reichstage war das nicht mehr der
Fall, und im britischen Parlament ist schon seit Jahrhunderten die Partei
für die Wahlen ausschlaggebend. Ohne die Zustimmung der Parteileitung
ist eine Bewerbung so gut wie aussichtslos, und wer sich gegen sie auflehnt,
dem bleibt nichts übrig, als sich ins Privatleben zurttckznziehn, wenn er nicht
mit Sack und Pack ins feindliche Lager übergeht und dort sein Heil versucht.
Die Partei wird sich immer bemühn, in unsichern Wahlkreisen den Mann anf-


Grenzbotm III 1901 21
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[0169] Das britische Parlament »och was Sachen betrifft. Der Theorie nach reicht sie bis eins Unmögliche, und da im Parlament selbst einer der beiden Teile Führer sein muß, so hat das Unterhaus die Rolle der irdischen Vorsehung übernommen, die, soweit es ihr paßt, sich nicht bloß mit großen Dingen, wie Krieg und Frieden, Steuern und Gesetzen, sondern anch mit den kleinen bis hinunter auf die allerkleinsten befaßt, daß man Wohl versucht sein könnte, dem Witenagemot anzuraten, seinen Wirkungskreis etwas einzuschränken und für »richtigere Sachen mehr Zeit zu gewinnen durch Überweisung der unwichtigen an Ortsbehörden. Viele Sachen, die in Preußen ein Provinziallandtag erledigt, müssen dnrch das Parlament gehn, und andre, für die in Deutschland die Machtvollkommenheit eines Bürger¬ meisters oder Ortsschulzeu genügt, werden ebenfalls der Reichsversammlung vorgelegt. Es klingt possenhaft, aber es ist wahr: Im Jahre 1899 brachte der Abgeordnete P. D, Sullivan eine Vorlage ein, die bezweckte, in Irland das Niederlegen von Zeitungen und Plataeer auf dem Straßenpflaster zu ver¬ bieten. Der Unfug, dem damit gesteuert werden sollte, herrscht auch in Eng¬ land und ist jedem Besucher Londons bekannt. Aber deshalb das Parlament mit einer Vorlage zu behelligen, ist selbst ein Unfug. Das Recht, Vorlagen einzubringen, wobei es die damit verbundnen Kosten tragen muß, hat jedes Mitglied; sie zur Verhandlung zu bringen, steht nicht in seiner Macht. Andre Mitglieder können das leicht vereiteln, und außerdem muß »n't dem Haupte der Mehrheitpartei, dem Führer des Unterhauses, ge¬ rechnet werden. Der läßt Wohl zu Anfang einer Tagung den Mitgliedern Spielraum für ihnen am Herzen liegende Vorlagen. Später spricht er sein Machtwort, und die Regierungsvorlagen schieben alles andre beiseite. So kommt es, daß manchmal die besten Vorlagen aus dem Hanse es nie über die zweite Lesung hinausbringen und wiederholt nen eingebracht werden müssen, bis sich endlich die Regierung erbarmt. In der zweiten Hälfte einer Tagung ist deshalb die Stellung der ehrenwerten Mitglieder nicht besonders stolz. Sie können den Ministern durch Stellung verfänglicher Fragen das Leben sauer machen, sonst sind sie kaum mehr als Abstimmuugsautomaten, die unter dem Be¬ fehle ihres Einpeitschers stehn, der seinerseits den Anweisungen der Partei¬ häupter folgt. Eine über das ganze Land ausgebreitete Parteiorganisation« ist immer wie Folge parlamentarischen Lebens. Das deutsche Parlament in Frankfurt Wng noch hervor ans Wahlen, die ans dein persönlichen Vertrauen der Wähler ni den Bewerber beruhten und von dem Einflusse einer ausgedehnten Partei¬ organisation frei waren. Beim deutschen Reichstage war das nicht mehr der Fall, und im britischen Parlament ist schon seit Jahrhunderten die Partei für die Wahlen ausschlaggebend. Ohne die Zustimmung der Parteileitung ist eine Bewerbung so gut wie aussichtslos, und wer sich gegen sie auflehnt, dem bleibt nichts übrig, als sich ins Privatleben zurttckznziehn, wenn er nicht mit Sack und Pack ins feindliche Lager übergeht und dort sein Heil versucht. Die Partei wird sich immer bemühn, in unsichern Wahlkreisen den Mann anf- Grenzbotm III 1901 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/169>, abgerufen am 22.07.2024.