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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Holland und Deutschland

Wie auf dem Lande so ist es auch in den Städten.' Es ist keine von
ihnen, die auch nur annähernd wie Venedig durch den politischen Verfall den
wirtschaftlichen sehen ließe. Überall Wachstum und Gedeihen, lind wie in
Deutschland zeigt ein reicher Kranz von Neubauten um den alten Kern der
Orte die steigende Wohlhabenheit. Die mittlern Städte sind nicht in dem
Maße gewachsen wie ihre Schwestern jenseits der deutschen Grenze, und Amster¬
dam hat seineu Glanz an London und Hamburg abgeben müssen. Trotzdem
behauptet diese Stadt noch immer ihren Platz nnter den Großstädten des
Handels. Es wäre ein Wunder, wenn in einem so bevölkerten Lande wie
Holland nicht eine zahlreiche Sozialdemokratie ihrer Stärke entsprechend den
Mund vollnühmc; indes hat ihr Gerede über Massenverelendung hier so wenig
Sinn wie allerorten sonst, wo einem normalen Fortschritt keine Hindernisse in
den Weg gelegt werde". Es ist eine Thatsache, die in Holland so wenig wie
in Deutschland geleugnet werden kann, daß mit der allgemeinen Bevölkerungs-
zunahme der Mittelstand an Zahl und Gewicht zugenommen hat, vielleicht noch
darüber hinaus.

Bietet somit auch von diesem Standpunkt aus die wirtschaftliche Lage
Hollands ein erfreuliches Bild, so darf man freilich dabei seinen Blick nicht
anch rückwärts tuenden wollen; denn Vergleichungen mit einer frühern Zeit
sind hier nicht minder unstatthaft, als überall sonst, wo die Thatkraft dnrch
eine übel angebrachte Sehnsucht gelähmt wird. Vor dreihundert bis zwei-
hundertfunfzig Jahren waren die Niederlande führend, jetzt fahren sie im
Schatten der Großen und müssen sich häufig mit den Brosamen begnügen, die
von den Tischen der Mächtigen fallen. Darüber hilft dem Volke weder sein
Nationalstolz hinweg, noch der Besitz seiner reichen Kolonien, den es sich ans
einer bessern Zeit herüber gerettet hat. Vernünftiger ist es, den Blick vorwärts
zu richten und mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit das Auge für die
Zukunft zu schärfen.

In den zuletzt verflossenen Jahrhunderten ist die politische Selbständigkeit
der Niederländer unter der Zusammenbcillung der großen Nationalstaaten
Europas verloren gegangen, mögen sie zusehen, wie es ihnen ergeht, wenn
sich dieser Prozeß mit der Festhaltung des Nationalitätsgrundsatzes wirtschaft¬
lich über die Grenzen der Kontinente hinweg in die Welt hinein fortsetzt.
Amerika hat die Monroedottrin keineswegs aufgegeben und greift weit über
den Begriff des Panamerikanismus hinaus echt imperialistisch nach allem,
dessen es irgend in den Räumen der Erde habhaft werden kann. England
betont sein Angelsnchsentum schärfer als jemals vorher und schlägt dabei seine
Polypenarme immer weiter und fester um das, was irgend unter seinen Griffen
liegt. Das Altrnssentnm hat über eine mildere Form der politischen An¬
schauung innerhalb seiner Grenzen endgiltig den Sieg davon getragen; unauf-
haltsam drängt Rußland vorwärts, und schon gehört ihm fast halb Asien.
Gegen dieses mächtige Allsgreifen scheinen die beiden Großstaaten Österreich
und Italien aus Mangel an Atem schon endgiltig von weiter", Wettbewerb
zurückgetreten zu sein. Frankreich und Deutschland behaupten sich, das zweite


Holland und Deutschland

Wie auf dem Lande so ist es auch in den Städten.' Es ist keine von
ihnen, die auch nur annähernd wie Venedig durch den politischen Verfall den
wirtschaftlichen sehen ließe. Überall Wachstum und Gedeihen, lind wie in
Deutschland zeigt ein reicher Kranz von Neubauten um den alten Kern der
Orte die steigende Wohlhabenheit. Die mittlern Städte sind nicht in dem
Maße gewachsen wie ihre Schwestern jenseits der deutschen Grenze, und Amster¬
dam hat seineu Glanz an London und Hamburg abgeben müssen. Trotzdem
behauptet diese Stadt noch immer ihren Platz nnter den Großstädten des
Handels. Es wäre ein Wunder, wenn in einem so bevölkerten Lande wie
Holland nicht eine zahlreiche Sozialdemokratie ihrer Stärke entsprechend den
Mund vollnühmc; indes hat ihr Gerede über Massenverelendung hier so wenig
Sinn wie allerorten sonst, wo einem normalen Fortschritt keine Hindernisse in
den Weg gelegt werde». Es ist eine Thatsache, die in Holland so wenig wie
in Deutschland geleugnet werden kann, daß mit der allgemeinen Bevölkerungs-
zunahme der Mittelstand an Zahl und Gewicht zugenommen hat, vielleicht noch
darüber hinaus.

Bietet somit auch von diesem Standpunkt aus die wirtschaftliche Lage
Hollands ein erfreuliches Bild, so darf man freilich dabei seinen Blick nicht
anch rückwärts tuenden wollen; denn Vergleichungen mit einer frühern Zeit
sind hier nicht minder unstatthaft, als überall sonst, wo die Thatkraft dnrch
eine übel angebrachte Sehnsucht gelähmt wird. Vor dreihundert bis zwei-
hundertfunfzig Jahren waren die Niederlande führend, jetzt fahren sie im
Schatten der Großen und müssen sich häufig mit den Brosamen begnügen, die
von den Tischen der Mächtigen fallen. Darüber hilft dem Volke weder sein
Nationalstolz hinweg, noch der Besitz seiner reichen Kolonien, den es sich ans
einer bessern Zeit herüber gerettet hat. Vernünftiger ist es, den Blick vorwärts
zu richten und mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit das Auge für die
Zukunft zu schärfen.

In den zuletzt verflossenen Jahrhunderten ist die politische Selbständigkeit
der Niederländer unter der Zusammenbcillung der großen Nationalstaaten
Europas verloren gegangen, mögen sie zusehen, wie es ihnen ergeht, wenn
sich dieser Prozeß mit der Festhaltung des Nationalitätsgrundsatzes wirtschaft¬
lich über die Grenzen der Kontinente hinweg in die Welt hinein fortsetzt.
Amerika hat die Monroedottrin keineswegs aufgegeben und greift weit über
den Begriff des Panamerikanismus hinaus echt imperialistisch nach allem,
dessen es irgend in den Räumen der Erde habhaft werden kann. England
betont sein Angelsnchsentum schärfer als jemals vorher und schlägt dabei seine
Polypenarme immer weiter und fester um das, was irgend unter seinen Griffen
liegt. Das Altrnssentnm hat über eine mildere Form der politischen An¬
schauung innerhalb seiner Grenzen endgiltig den Sieg davon getragen; unauf-
haltsam drängt Rußland vorwärts, und schon gehört ihm fast halb Asien.
Gegen dieses mächtige Allsgreifen scheinen die beiden Großstaaten Österreich
und Italien aus Mangel an Atem schon endgiltig von weiter», Wettbewerb
zurückgetreten zu sein. Frankreich und Deutschland behaupten sich, das zweite


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[0160] Holland und Deutschland Wie auf dem Lande so ist es auch in den Städten.' Es ist keine von ihnen, die auch nur annähernd wie Venedig durch den politischen Verfall den wirtschaftlichen sehen ließe. Überall Wachstum und Gedeihen, lind wie in Deutschland zeigt ein reicher Kranz von Neubauten um den alten Kern der Orte die steigende Wohlhabenheit. Die mittlern Städte sind nicht in dem Maße gewachsen wie ihre Schwestern jenseits der deutschen Grenze, und Amster¬ dam hat seineu Glanz an London und Hamburg abgeben müssen. Trotzdem behauptet diese Stadt noch immer ihren Platz nnter den Großstädten des Handels. Es wäre ein Wunder, wenn in einem so bevölkerten Lande wie Holland nicht eine zahlreiche Sozialdemokratie ihrer Stärke entsprechend den Mund vollnühmc; indes hat ihr Gerede über Massenverelendung hier so wenig Sinn wie allerorten sonst, wo einem normalen Fortschritt keine Hindernisse in den Weg gelegt werde». Es ist eine Thatsache, die in Holland so wenig wie in Deutschland geleugnet werden kann, daß mit der allgemeinen Bevölkerungs- zunahme der Mittelstand an Zahl und Gewicht zugenommen hat, vielleicht noch darüber hinaus. Bietet somit auch von diesem Standpunkt aus die wirtschaftliche Lage Hollands ein erfreuliches Bild, so darf man freilich dabei seinen Blick nicht anch rückwärts tuenden wollen; denn Vergleichungen mit einer frühern Zeit sind hier nicht minder unstatthaft, als überall sonst, wo die Thatkraft dnrch eine übel angebrachte Sehnsucht gelähmt wird. Vor dreihundert bis zwei- hundertfunfzig Jahren waren die Niederlande führend, jetzt fahren sie im Schatten der Großen und müssen sich häufig mit den Brosamen begnügen, die von den Tischen der Mächtigen fallen. Darüber hilft dem Volke weder sein Nationalstolz hinweg, noch der Besitz seiner reichen Kolonien, den es sich ans einer bessern Zeit herüber gerettet hat. Vernünftiger ist es, den Blick vorwärts zu richten und mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit das Auge für die Zukunft zu schärfen. In den zuletzt verflossenen Jahrhunderten ist die politische Selbständigkeit der Niederländer unter der Zusammenbcillung der großen Nationalstaaten Europas verloren gegangen, mögen sie zusehen, wie es ihnen ergeht, wenn sich dieser Prozeß mit der Festhaltung des Nationalitätsgrundsatzes wirtschaft¬ lich über die Grenzen der Kontinente hinweg in die Welt hinein fortsetzt. Amerika hat die Monroedottrin keineswegs aufgegeben und greift weit über den Begriff des Panamerikanismus hinaus echt imperialistisch nach allem, dessen es irgend in den Räumen der Erde habhaft werden kann. England betont sein Angelsnchsentum schärfer als jemals vorher und schlägt dabei seine Polypenarme immer weiter und fester um das, was irgend unter seinen Griffen liegt. Das Altrnssentnm hat über eine mildere Form der politischen An¬ schauung innerhalb seiner Grenzen endgiltig den Sieg davon getragen; unauf- haltsam drängt Rußland vorwärts, und schon gehört ihm fast halb Asien. Gegen dieses mächtige Allsgreifen scheinen die beiden Großstaaten Österreich und Italien aus Mangel an Atem schon endgiltig von weiter», Wettbewerb zurückgetreten zu sein. Frankreich und Deutschland behaupten sich, das zweite

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/160>, abgerufen am 22.07.2024.