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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Weshalb auf keinem seiner Werke eine Figur auch mir so lebendig und be¬
weglich in der umgebenden Natur steht wie etwa bei Joshua Neyuolds. So
kommt es bei ihm zu der psychologischen Zuspitzung, dem Gewollten und Ge¬
machte", Inas an Karikiernng streift und eigentümlich genug gegen die einfache,
würdevolle Zurückhaltung eines Porträts von Tizian oder Velazquez absticht.
Trotz seiner Bemühung um das Wissen der alten Meister konnte ein so starkes
Talent allein in seiner Zeit keinen modernen Thpns ne" schaffen, wie ihn
Vandhck im Anschluß an Rubens geschaffen hat. Kein Genie kann die Vor¬
arbeit und die Mitarbeit Tausender an derselben Sache entbehren. Wenn den
neuern Malern die alten Muster zum Schaden gereichen, so kommt das daher,
daß ihre Kenntnis nicht tief genug ist, daß sie an allem nur naschen: ein
Porträtist soll entweder Vandhck studieren oder Velazquez oder Holbein, lehrt
uns der Verfasser. So sei es auch mit der Gebärde. Kein einziger außer
Böcklin könne heute einen über das Alltägliche gehobnen Ausdruck darstelle",
ohne in Pose zu verfallen; das thue sogar Klinger, den der Verfasser übrigens,
wie Nur noch sehen werden, sehr hoch stellt, vollends Stuck und sämtliche
Historienmaler. Mit oberflächlichen Erinnerungen an Michelangelo oder Rubens
wird nur unverstandnes Pathos erreicht. Wer aber die typischen Gebärden
für die einzelnen Affekte, Drohung, Zorn, Furcht, Schrecken, an den alten
Meistern wirklich studiert, wird bald einsehen, daß gegen diese Grundlage seines
Wissens alles, was er selbst aus einem einzelnen Modell herausholen kann,
gering und kümmerlich ist.

Als kunstpädagvgische Vorschriften können diese Sätze, zumal in ihrer hier
notwendigen Kürze, Widerspruch errege". Prinzipiell und als Zusammen¬
fassung der Eindrücke, die jeder von uns sich an der heutigen Kunst sammeln
kann, halten wir sie für richtig. Gegenüber dem platten Naturalismus auf
eigue Hand und seiner Abhängigkeit von dem einzelnen, zufälligen Modell tritt
der Verfasser für das Recht der historischen Entwicklung ein. Wieweit seine
Methode anwendbar ist, haben die Künstler unter sich abzumachen, die hoffent¬
lich sein Buch lesen werden. Alle historisch gestimmten Betrachter wird er auf
seiner Seite haben. Ihm selbst ist es aber auch mit den praktischen Zielen
ernst. "Alle Einsichtigen wissen, daß ein Zeitalter bevorsteht, herrlicher als
irgend ein vorhergehendes. Deutschland, das geschmackloseste aller Länder, ist
berufen, die führende Rolle zu spielen, eben weil es mehr als alle andern Völker
sichtbarer Ideale bedarf. Aber von diesem Künstlergeschlecht werden Hunderte
zu Grunde gehn, ehe man einsehen wird usw."

Wir wollen diesen Ausblicken in das Land Gösen, die uns die Schrift¬
steller des Dicderichsschen Verlags von Zeit zu Zeit eröffnen (die Glücklichen
der Darmstädter Kolonie haben ja wohl sogar schon ihren Fuß hineingesetzt),
hier nicht weiter nachgehn, sondern lieber noch einen Augenblick bei den Grund¬
lagen der Knnstbetrachtung des Verfassers verweilen. Man wird sagen, er
unterschätze das Naturstudium und rede dem Akademismus das Wort. Aber
dieser Vorwurf übersieht, daß es bei der polemischen Zuspitzung gegen den


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Weshalb auf keinem seiner Werke eine Figur auch mir so lebendig und be¬
weglich in der umgebenden Natur steht wie etwa bei Joshua Neyuolds. So
kommt es bei ihm zu der psychologischen Zuspitzung, dem Gewollten und Ge¬
machte», Inas an Karikiernng streift und eigentümlich genug gegen die einfache,
würdevolle Zurückhaltung eines Porträts von Tizian oder Velazquez absticht.
Trotz seiner Bemühung um das Wissen der alten Meister konnte ein so starkes
Talent allein in seiner Zeit keinen modernen Thpns ne» schaffen, wie ihn
Vandhck im Anschluß an Rubens geschaffen hat. Kein Genie kann die Vor¬
arbeit und die Mitarbeit Tausender an derselben Sache entbehren. Wenn den
neuern Malern die alten Muster zum Schaden gereichen, so kommt das daher,
daß ihre Kenntnis nicht tief genug ist, daß sie an allem nur naschen: ein
Porträtist soll entweder Vandhck studieren oder Velazquez oder Holbein, lehrt
uns der Verfasser. So sei es auch mit der Gebärde. Kein einziger außer
Böcklin könne heute einen über das Alltägliche gehobnen Ausdruck darstelle«,
ohne in Pose zu verfallen; das thue sogar Klinger, den der Verfasser übrigens,
wie Nur noch sehen werden, sehr hoch stellt, vollends Stuck und sämtliche
Historienmaler. Mit oberflächlichen Erinnerungen an Michelangelo oder Rubens
wird nur unverstandnes Pathos erreicht. Wer aber die typischen Gebärden
für die einzelnen Affekte, Drohung, Zorn, Furcht, Schrecken, an den alten
Meistern wirklich studiert, wird bald einsehen, daß gegen diese Grundlage seines
Wissens alles, was er selbst aus einem einzelnen Modell herausholen kann,
gering und kümmerlich ist.

Als kunstpädagvgische Vorschriften können diese Sätze, zumal in ihrer hier
notwendigen Kürze, Widerspruch errege». Prinzipiell und als Zusammen¬
fassung der Eindrücke, die jeder von uns sich an der heutigen Kunst sammeln
kann, halten wir sie für richtig. Gegenüber dem platten Naturalismus auf
eigue Hand und seiner Abhängigkeit von dem einzelnen, zufälligen Modell tritt
der Verfasser für das Recht der historischen Entwicklung ein. Wieweit seine
Methode anwendbar ist, haben die Künstler unter sich abzumachen, die hoffent¬
lich sein Buch lesen werden. Alle historisch gestimmten Betrachter wird er auf
seiner Seite haben. Ihm selbst ist es aber auch mit den praktischen Zielen
ernst. „Alle Einsichtigen wissen, daß ein Zeitalter bevorsteht, herrlicher als
irgend ein vorhergehendes. Deutschland, das geschmackloseste aller Länder, ist
berufen, die führende Rolle zu spielen, eben weil es mehr als alle andern Völker
sichtbarer Ideale bedarf. Aber von diesem Künstlergeschlecht werden Hunderte
zu Grunde gehn, ehe man einsehen wird usw."

Wir wollen diesen Ausblicken in das Land Gösen, die uns die Schrift¬
steller des Dicderichsschen Verlags von Zeit zu Zeit eröffnen (die Glücklichen
der Darmstädter Kolonie haben ja wohl sogar schon ihren Fuß hineingesetzt),
hier nicht weiter nachgehn, sondern lieber noch einen Augenblick bei den Grund¬
lagen der Knnstbetrachtung des Verfassers verweilen. Man wird sagen, er
unterschätze das Naturstudium und rede dem Akademismus das Wort. Aber
dieser Vorwurf übersieht, daß es bei der polemischen Zuspitzung gegen den


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[0139] Uilust Weshalb auf keinem seiner Werke eine Figur auch mir so lebendig und be¬ weglich in der umgebenden Natur steht wie etwa bei Joshua Neyuolds. So kommt es bei ihm zu der psychologischen Zuspitzung, dem Gewollten und Ge¬ machte», Inas an Karikiernng streift und eigentümlich genug gegen die einfache, würdevolle Zurückhaltung eines Porträts von Tizian oder Velazquez absticht. Trotz seiner Bemühung um das Wissen der alten Meister konnte ein so starkes Talent allein in seiner Zeit keinen modernen Thpns ne» schaffen, wie ihn Vandhck im Anschluß an Rubens geschaffen hat. Kein Genie kann die Vor¬ arbeit und die Mitarbeit Tausender an derselben Sache entbehren. Wenn den neuern Malern die alten Muster zum Schaden gereichen, so kommt das daher, daß ihre Kenntnis nicht tief genug ist, daß sie an allem nur naschen: ein Porträtist soll entweder Vandhck studieren oder Velazquez oder Holbein, lehrt uns der Verfasser. So sei es auch mit der Gebärde. Kein einziger außer Böcklin könne heute einen über das Alltägliche gehobnen Ausdruck darstelle«, ohne in Pose zu verfallen; das thue sogar Klinger, den der Verfasser übrigens, wie Nur noch sehen werden, sehr hoch stellt, vollends Stuck und sämtliche Historienmaler. Mit oberflächlichen Erinnerungen an Michelangelo oder Rubens wird nur unverstandnes Pathos erreicht. Wer aber die typischen Gebärden für die einzelnen Affekte, Drohung, Zorn, Furcht, Schrecken, an den alten Meistern wirklich studiert, wird bald einsehen, daß gegen diese Grundlage seines Wissens alles, was er selbst aus einem einzelnen Modell herausholen kann, gering und kümmerlich ist. Als kunstpädagvgische Vorschriften können diese Sätze, zumal in ihrer hier notwendigen Kürze, Widerspruch errege». Prinzipiell und als Zusammen¬ fassung der Eindrücke, die jeder von uns sich an der heutigen Kunst sammeln kann, halten wir sie für richtig. Gegenüber dem platten Naturalismus auf eigue Hand und seiner Abhängigkeit von dem einzelnen, zufälligen Modell tritt der Verfasser für das Recht der historischen Entwicklung ein. Wieweit seine Methode anwendbar ist, haben die Künstler unter sich abzumachen, die hoffent¬ lich sein Buch lesen werden. Alle historisch gestimmten Betrachter wird er auf seiner Seite haben. Ihm selbst ist es aber auch mit den praktischen Zielen ernst. „Alle Einsichtigen wissen, daß ein Zeitalter bevorsteht, herrlicher als irgend ein vorhergehendes. Deutschland, das geschmackloseste aller Länder, ist berufen, die führende Rolle zu spielen, eben weil es mehr als alle andern Völker sichtbarer Ideale bedarf. Aber von diesem Künstlergeschlecht werden Hunderte zu Grunde gehn, ehe man einsehen wird usw." Wir wollen diesen Ausblicken in das Land Gösen, die uns die Schrift¬ steller des Dicderichsschen Verlags von Zeit zu Zeit eröffnen (die Glücklichen der Darmstädter Kolonie haben ja wohl sogar schon ihren Fuß hineingesetzt), hier nicht weiter nachgehn, sondern lieber noch einen Augenblick bei den Grund¬ lagen der Knnstbetrachtung des Verfassers verweilen. Man wird sagen, er unterschätze das Naturstudium und rede dem Akademismus das Wort. Aber dieser Vorwurf übersieht, daß es bei der polemischen Zuspitzung gegen den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/139>, abgerufen am 22.07.2024.