Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kunst

kommt aus der eiteln Selbstgefälligkeit, die das Individuelle geben will, ehe
sie den Typus kennt. Der moderne Künstler soll nicht glauben, daß seine
Kraft und sein ganzes Leben ausreichen, durch Naturbeobachtung und Modell-
studium die Urformen des menschlichen Körpers zu finden und aus sich allein
zu schöpfen, was Michelangelo nnr mit Hilfe seiner sämtlichen Zeitgenossen
und Vorgänger vermochte, und was diese wiederum, die Masaccio, Donatello,
Lionardo, nicht erreicht Hütten ohne ihre Ehrfurcht vor den Werken der noch
frühern. Besonders lehrreich ist die Beschäftigung mit den Künstlern, die der
Erhebung der Kunst zur vollen Freiheit voraufgehu, Mantegna, Donatello,
Signorelli, Vcrrocchiv wenden sich der Natur zu, nicht um sich von ihre"
Reizen bestricken zu lassen, sondern um sie herb und rauh zu zergliedern und
darin die Spuren des Gesetzmäßigen zu verfolgen. Der Schüler übernimmt
die Formenkenntnis seines Meisters, einer steht auf des andern Schultern, der
Geist wird gebunden durch die Notwendigkeiten! der Natur und erreicht dann
in Michelangelo und Rciffael eine solche Freiheit, daß diese Künstler uns eine
neue Natur zu geben scheinen, eine nnliekmmte, in der Idee geschaute. Dieses
in Typen gewissermaßen festgelegte darf nicht aus Originalsucht verloren ge¬
geben werden. Das Ignorieren der alten Kunst Schutze nicht vor Nachahmung,
weil wir alle schon durch die Verbreitung von Reproduktionen gelernt haben,
mit den Augen des Atheners, Römers, Florentiners zu scheu; man muß
gerade eine Sache genau kennen, um sie uicht nachzuahmen. Man soll die
Natur nicht um längst beantwortete Fragen angehn, und den. Künstler nicht
zu dem Abcschützen einer Neger- oder Jndianerkunst werden lassen. Formen,
die mau nicht selbst fortbilden will, entlehne mau, um in andern Dingen
eignes desto besser zu leisten. skizzieren nach der Natur soll mau, um das
Schema der Typen zu beleben, also immer in bestimmten Absichten und um
sein Wissen zu bereichern. Die großen Meister skizzierten nur das, was sie
noch nicht wußten von einer Erscheinung, darum genügten ihnen oft wenig
Striche, während der moderne Künstler seine Skizze mit allen möglichen Einzel¬
heiten belastet und sie vorzeitig als abgeschlossenes Bild behandelt. Das
typische Wissen sagt ans, wie ein Eichbaum, ein menschlicher Kopf, ein Sand¬
steinfelsen überhaupt aussieht, die Skizze, wodurch sich gerade dieser Baum,
Kopf oder Felsen von der Gattung unterscheidet. Folglich hängt die Leichtig¬
keit des Skizzierens von der Gründlichkeit des allgemeinen Wissens ab und
umgekehrt. Wenn ein so bedeutender Portrütist wie Lenbach einen Mangel
hat, so kommt dieser von seiner schwächlichen Kenntnis des Typischen mensch¬
licher Köpfe und Gesichter im Verhältnis zu der überwiegenden Fähigkeit, das
Individuelle der Züge und den Augenblick der Aufnahme wiederzugeben.
Seine Neigung, nur den Kopf und uicht auch den Körper zu malen, erklärt
sich daraus, daß er nicht so frei mit der typischen Erscheinung des mensch¬
lichen Körpers wirtschaften kann, wie Vandyck oder Rubens, er kann ihn
nicht in jede Lage unabhängig vom Modell hineindenken, mich nicht im Zu¬
sammenhang mit der typischen Erscheinung der ganzen Gestalt des Menschen,


Kunst

kommt aus der eiteln Selbstgefälligkeit, die das Individuelle geben will, ehe
sie den Typus kennt. Der moderne Künstler soll nicht glauben, daß seine
Kraft und sein ganzes Leben ausreichen, durch Naturbeobachtung und Modell-
studium die Urformen des menschlichen Körpers zu finden und aus sich allein
zu schöpfen, was Michelangelo nnr mit Hilfe seiner sämtlichen Zeitgenossen
und Vorgänger vermochte, und was diese wiederum, die Masaccio, Donatello,
Lionardo, nicht erreicht Hütten ohne ihre Ehrfurcht vor den Werken der noch
frühern. Besonders lehrreich ist die Beschäftigung mit den Künstlern, die der
Erhebung der Kunst zur vollen Freiheit voraufgehu, Mantegna, Donatello,
Signorelli, Vcrrocchiv wenden sich der Natur zu, nicht um sich von ihre»
Reizen bestricken zu lassen, sondern um sie herb und rauh zu zergliedern und
darin die Spuren des Gesetzmäßigen zu verfolgen. Der Schüler übernimmt
die Formenkenntnis seines Meisters, einer steht auf des andern Schultern, der
Geist wird gebunden durch die Notwendigkeiten! der Natur und erreicht dann
in Michelangelo und Rciffael eine solche Freiheit, daß diese Künstler uns eine
neue Natur zu geben scheinen, eine nnliekmmte, in der Idee geschaute. Dieses
in Typen gewissermaßen festgelegte darf nicht aus Originalsucht verloren ge¬
geben werden. Das Ignorieren der alten Kunst Schutze nicht vor Nachahmung,
weil wir alle schon durch die Verbreitung von Reproduktionen gelernt haben,
mit den Augen des Atheners, Römers, Florentiners zu scheu; man muß
gerade eine Sache genau kennen, um sie uicht nachzuahmen. Man soll die
Natur nicht um längst beantwortete Fragen angehn, und den. Künstler nicht
zu dem Abcschützen einer Neger- oder Jndianerkunst werden lassen. Formen,
die mau nicht selbst fortbilden will, entlehne mau, um in andern Dingen
eignes desto besser zu leisten. skizzieren nach der Natur soll mau, um das
Schema der Typen zu beleben, also immer in bestimmten Absichten und um
sein Wissen zu bereichern. Die großen Meister skizzierten nur das, was sie
noch nicht wußten von einer Erscheinung, darum genügten ihnen oft wenig
Striche, während der moderne Künstler seine Skizze mit allen möglichen Einzel¬
heiten belastet und sie vorzeitig als abgeschlossenes Bild behandelt. Das
typische Wissen sagt ans, wie ein Eichbaum, ein menschlicher Kopf, ein Sand¬
steinfelsen überhaupt aussieht, die Skizze, wodurch sich gerade dieser Baum,
Kopf oder Felsen von der Gattung unterscheidet. Folglich hängt die Leichtig¬
keit des Skizzierens von der Gründlichkeit des allgemeinen Wissens ab und
umgekehrt. Wenn ein so bedeutender Portrütist wie Lenbach einen Mangel
hat, so kommt dieser von seiner schwächlichen Kenntnis des Typischen mensch¬
licher Köpfe und Gesichter im Verhältnis zu der überwiegenden Fähigkeit, das
Individuelle der Züge und den Augenblick der Aufnahme wiederzugeben.
Seine Neigung, nur den Kopf und uicht auch den Körper zu malen, erklärt
sich daraus, daß er nicht so frei mit der typischen Erscheinung des mensch¬
lichen Körpers wirtschaften kann, wie Vandyck oder Rubens, er kann ihn
nicht in jede Lage unabhängig vom Modell hineindenken, mich nicht im Zu¬
sammenhang mit der typischen Erscheinung der ganzen Gestalt des Menschen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235310"/>
          <fw type="header" place="top"> Kunst</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_542" prev="#ID_541" next="#ID_543"> kommt aus der eiteln Selbstgefälligkeit, die das Individuelle geben will, ehe<lb/>
sie den Typus kennt. Der moderne Künstler soll nicht glauben, daß seine<lb/>
Kraft und sein ganzes Leben ausreichen, durch Naturbeobachtung und Modell-<lb/>
studium die Urformen des menschlichen Körpers zu finden und aus sich allein<lb/>
zu schöpfen, was Michelangelo nnr mit Hilfe seiner sämtlichen Zeitgenossen<lb/>
und Vorgänger vermochte, und was diese wiederum, die Masaccio, Donatello,<lb/>
Lionardo, nicht erreicht Hütten ohne ihre Ehrfurcht vor den Werken der noch<lb/>
frühern. Besonders lehrreich ist die Beschäftigung mit den Künstlern, die der<lb/>
Erhebung der Kunst zur vollen Freiheit voraufgehu, Mantegna, Donatello,<lb/>
Signorelli, Vcrrocchiv wenden sich der Natur zu, nicht um sich von ihre»<lb/>
Reizen bestricken zu lassen, sondern um sie herb und rauh zu zergliedern und<lb/>
darin die Spuren des Gesetzmäßigen zu verfolgen. Der Schüler übernimmt<lb/>
die Formenkenntnis seines Meisters, einer steht auf des andern Schultern, der<lb/>
Geist wird gebunden durch die Notwendigkeiten! der Natur und erreicht dann<lb/>
in Michelangelo und Rciffael eine solche Freiheit, daß diese Künstler uns eine<lb/>
neue Natur zu geben scheinen, eine nnliekmmte, in der Idee geschaute. Dieses<lb/>
in Typen gewissermaßen festgelegte darf nicht aus Originalsucht verloren ge¬<lb/>
geben werden. Das Ignorieren der alten Kunst Schutze nicht vor Nachahmung,<lb/>
weil wir alle schon durch die Verbreitung von Reproduktionen gelernt haben,<lb/>
mit den Augen des Atheners, Römers, Florentiners zu scheu; man muß<lb/>
gerade eine Sache genau kennen, um sie uicht nachzuahmen. Man soll die<lb/>
Natur nicht um längst beantwortete Fragen angehn, und den. Künstler nicht<lb/>
zu dem Abcschützen einer Neger- oder Jndianerkunst werden lassen. Formen,<lb/>
die mau nicht selbst fortbilden will, entlehne mau, um in andern Dingen<lb/>
eignes desto besser zu leisten. skizzieren nach der Natur soll mau, um das<lb/>
Schema der Typen zu beleben, also immer in bestimmten Absichten und um<lb/>
sein Wissen zu bereichern. Die großen Meister skizzierten nur das, was sie<lb/>
noch nicht wußten von einer Erscheinung, darum genügten ihnen oft wenig<lb/>
Striche, während der moderne Künstler seine Skizze mit allen möglichen Einzel¬<lb/>
heiten belastet und sie vorzeitig als abgeschlossenes Bild behandelt. Das<lb/>
typische Wissen sagt ans, wie ein Eichbaum, ein menschlicher Kopf, ein Sand¬<lb/>
steinfelsen überhaupt aussieht, die Skizze, wodurch sich gerade dieser Baum,<lb/>
Kopf oder Felsen von der Gattung unterscheidet. Folglich hängt die Leichtig¬<lb/>
keit des Skizzierens von der Gründlichkeit des allgemeinen Wissens ab und<lb/>
umgekehrt. Wenn ein so bedeutender Portrütist wie Lenbach einen Mangel<lb/>
hat, so kommt dieser von seiner schwächlichen Kenntnis des Typischen mensch¬<lb/>
licher Köpfe und Gesichter im Verhältnis zu der überwiegenden Fähigkeit, das<lb/>
Individuelle der Züge und den Augenblick der Aufnahme wiederzugeben.<lb/>
Seine Neigung, nur den Kopf und uicht auch den Körper zu malen, erklärt<lb/>
sich daraus, daß er nicht so frei mit der typischen Erscheinung des mensch¬<lb/>
lichen Körpers wirtschaften kann, wie Vandyck oder Rubens, er kann ihn<lb/>
nicht in jede Lage unabhängig vom Modell hineindenken, mich nicht im Zu¬<lb/>
sammenhang mit der typischen Erscheinung der ganzen Gestalt des Menschen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] Kunst kommt aus der eiteln Selbstgefälligkeit, die das Individuelle geben will, ehe sie den Typus kennt. Der moderne Künstler soll nicht glauben, daß seine Kraft und sein ganzes Leben ausreichen, durch Naturbeobachtung und Modell- studium die Urformen des menschlichen Körpers zu finden und aus sich allein zu schöpfen, was Michelangelo nnr mit Hilfe seiner sämtlichen Zeitgenossen und Vorgänger vermochte, und was diese wiederum, die Masaccio, Donatello, Lionardo, nicht erreicht Hütten ohne ihre Ehrfurcht vor den Werken der noch frühern. Besonders lehrreich ist die Beschäftigung mit den Künstlern, die der Erhebung der Kunst zur vollen Freiheit voraufgehu, Mantegna, Donatello, Signorelli, Vcrrocchiv wenden sich der Natur zu, nicht um sich von ihre» Reizen bestricken zu lassen, sondern um sie herb und rauh zu zergliedern und darin die Spuren des Gesetzmäßigen zu verfolgen. Der Schüler übernimmt die Formenkenntnis seines Meisters, einer steht auf des andern Schultern, der Geist wird gebunden durch die Notwendigkeiten! der Natur und erreicht dann in Michelangelo und Rciffael eine solche Freiheit, daß diese Künstler uns eine neue Natur zu geben scheinen, eine nnliekmmte, in der Idee geschaute. Dieses in Typen gewissermaßen festgelegte darf nicht aus Originalsucht verloren ge¬ geben werden. Das Ignorieren der alten Kunst Schutze nicht vor Nachahmung, weil wir alle schon durch die Verbreitung von Reproduktionen gelernt haben, mit den Augen des Atheners, Römers, Florentiners zu scheu; man muß gerade eine Sache genau kennen, um sie uicht nachzuahmen. Man soll die Natur nicht um längst beantwortete Fragen angehn, und den. Künstler nicht zu dem Abcschützen einer Neger- oder Jndianerkunst werden lassen. Formen, die mau nicht selbst fortbilden will, entlehne mau, um in andern Dingen eignes desto besser zu leisten. skizzieren nach der Natur soll mau, um das Schema der Typen zu beleben, also immer in bestimmten Absichten und um sein Wissen zu bereichern. Die großen Meister skizzierten nur das, was sie noch nicht wußten von einer Erscheinung, darum genügten ihnen oft wenig Striche, während der moderne Künstler seine Skizze mit allen möglichen Einzel¬ heiten belastet und sie vorzeitig als abgeschlossenes Bild behandelt. Das typische Wissen sagt ans, wie ein Eichbaum, ein menschlicher Kopf, ein Sand¬ steinfelsen überhaupt aussieht, die Skizze, wodurch sich gerade dieser Baum, Kopf oder Felsen von der Gattung unterscheidet. Folglich hängt die Leichtig¬ keit des Skizzierens von der Gründlichkeit des allgemeinen Wissens ab und umgekehrt. Wenn ein so bedeutender Portrütist wie Lenbach einen Mangel hat, so kommt dieser von seiner schwächlichen Kenntnis des Typischen mensch¬ licher Köpfe und Gesichter im Verhältnis zu der überwiegenden Fähigkeit, das Individuelle der Züge und den Augenblick der Aufnahme wiederzugeben. Seine Neigung, nur den Kopf und uicht auch den Körper zu malen, erklärt sich daraus, daß er nicht so frei mit der typischen Erscheinung des mensch¬ lichen Körpers wirtschaften kann, wie Vandyck oder Rubens, er kann ihn nicht in jede Lage unabhängig vom Modell hineindenken, mich nicht im Zu¬ sammenhang mit der typischen Erscheinung der ganzen Gestalt des Menschen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/138>, abgerufen am 22.07.2024.