Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Verminderung und verlnlligung der Prozesse

also unter Hinzurechnung der beschriebnett Auslagen etwa 40 Mark, sodaß der
unterliegende Teil für beide Nechtszüge etwa 80 Mark zu zahlen hat; und
auch bei einem Streitwert von 100 Mark können die Kosten beider Nechts¬
züge noch immer den Streitgegenstand übersteigen. Dabei ist von dem Fall,
daß zahlreiche auswärtige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen sind, und
allein schon die Auslagen dieser Beweisaufnahme den Streitwert übersteigen,
noch ganz abgesehen.

Man kann es selbstverständlich den Anwälten, den Zeugen nud Sachver¬
ständigen nicht zumuten, umsonst oder für lächerlich geringe Belohnung in
Prozessen von geringem Streitwert Mühe und Versäumnisse ans sich zu nehmen;
aber das Mißverhältnis zwischen Streitwert nud Kosten springt doch so sehr in
die Augen, daß es nahe liegt, sich nach Mitteln umzusehen, wie die Um-
gebung des Gerichts bei Streitigkeiten über geringe Werte möglichst vermieden
werden kann. Diese Erwägung lag im Jahre 1879 um so näher, als man
sich sagen mußte, daß das neue Prozeßverfahren mit seinem Selbstbetrieb der
Parteien, die vor Gericht "verhandeln" und "Anträge stelle"" sollen, in hohem
Maße auch im Verfahren vor den Amtsgerichten die Zuziehung von Anwälten
notwendig machen würde. Aber auch wenn die Parteien sich selbst vertreten,
so bedeutet doch jede Reise nach dem Gerichtssitz zum Termin für den Bauern
einen versäumten Arbeitstag, daneben oft anch Auslagen, die denen der Anwalts-
gcbühreu gleichkommen. Nun bestanden in Württemberg und Baden seit alten
Zeiten Gcmeindegerichte: sofern beide Streittcile in derselben Stadt- oder
Dorfgemeinde wohnten, unterlag bei Streitwerten, deren Gegenstand in Geld
oder Geldeswert die Summe von 30 bis 60 Mark nicht übersteigt, die Ent¬
scheidung dem Gemeindevorsteher. Gegen diese erfolgte binnen bestimmter
Frist die Berufung auf den Rechtsweg, Voraussetzung für die Beschreidung
des Rechtsweges bei Streitigkeiten von geringem Geldwert war also die er¬
folgte Vorentscheidung des Gemeindevorstehers, Diese Einrichtung hatte sich
in Baden und Württemberg dermaßen bewährt, daß die Regierungen dieser
Staaten bei der Beratung des Gerichtsvcrfassungsgesctzes die Aufrechthaltung
der Gemeindegerichte wenigstens für ihr bisheriges Geltungsgebiet, also für
Baden und Württemberg beantragten, ein Verlangen, das zwar mit der
"Rechtseinheit" nicht wohl vereinbar war und darum von der Rcichstags-
kommission abgelehnt, im Reichstag aber genehmigt wurde, und zwar durch
14 Ur. 3 des Gerichtsverfassnngsgesetzes in einer Fassung, die auch andern
Staaten die Einführung dieser Gemeindegerichte ermöglichen sollte. Der Ein¬
richtung der Geineindegerichtsbarkeit, wie sie zur Zeit in Baden besteht, kann
nun freilich keineswegs das Wort geredet werden; sie wird hier nämlich aus¬
geübt durch die Bürgernleister, das sind in Städten unter 10000 Einwohnern
gewöhnlich kleine Gewerbetreibende, die das Amt eines Gemeindevorstands rein
nebenamtlich ausüben, auf dem Platten Lande aber einfache Bauern, also ge¬
wöhnlich Leute, denen nicht bloß alle Nechtskenntnisse abgehn, sondern auch
die rein formale Fähigkeit zum Erlaß einer Entscheidung.


Verminderung und verlnlligung der Prozesse

also unter Hinzurechnung der beschriebnett Auslagen etwa 40 Mark, sodaß der
unterliegende Teil für beide Nechtszüge etwa 80 Mark zu zahlen hat; und
auch bei einem Streitwert von 100 Mark können die Kosten beider Nechts¬
züge noch immer den Streitgegenstand übersteigen. Dabei ist von dem Fall,
daß zahlreiche auswärtige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen sind, und
allein schon die Auslagen dieser Beweisaufnahme den Streitwert übersteigen,
noch ganz abgesehen.

Man kann es selbstverständlich den Anwälten, den Zeugen nud Sachver¬
ständigen nicht zumuten, umsonst oder für lächerlich geringe Belohnung in
Prozessen von geringem Streitwert Mühe und Versäumnisse ans sich zu nehmen;
aber das Mißverhältnis zwischen Streitwert nud Kosten springt doch so sehr in
die Augen, daß es nahe liegt, sich nach Mitteln umzusehen, wie die Um-
gebung des Gerichts bei Streitigkeiten über geringe Werte möglichst vermieden
werden kann. Diese Erwägung lag im Jahre 1879 um so näher, als man
sich sagen mußte, daß das neue Prozeßverfahren mit seinem Selbstbetrieb der
Parteien, die vor Gericht „verhandeln" und „Anträge stelle»" sollen, in hohem
Maße auch im Verfahren vor den Amtsgerichten die Zuziehung von Anwälten
notwendig machen würde. Aber auch wenn die Parteien sich selbst vertreten,
so bedeutet doch jede Reise nach dem Gerichtssitz zum Termin für den Bauern
einen versäumten Arbeitstag, daneben oft anch Auslagen, die denen der Anwalts-
gcbühreu gleichkommen. Nun bestanden in Württemberg und Baden seit alten
Zeiten Gcmeindegerichte: sofern beide Streittcile in derselben Stadt- oder
Dorfgemeinde wohnten, unterlag bei Streitwerten, deren Gegenstand in Geld
oder Geldeswert die Summe von 30 bis 60 Mark nicht übersteigt, die Ent¬
scheidung dem Gemeindevorsteher. Gegen diese erfolgte binnen bestimmter
Frist die Berufung auf den Rechtsweg, Voraussetzung für die Beschreidung
des Rechtsweges bei Streitigkeiten von geringem Geldwert war also die er¬
folgte Vorentscheidung des Gemeindevorstehers, Diese Einrichtung hatte sich
in Baden und Württemberg dermaßen bewährt, daß die Regierungen dieser
Staaten bei der Beratung des Gerichtsvcrfassungsgesctzes die Aufrechthaltung
der Gemeindegerichte wenigstens für ihr bisheriges Geltungsgebiet, also für
Baden und Württemberg beantragten, ein Verlangen, das zwar mit der
„Rechtseinheit" nicht wohl vereinbar war und darum von der Rcichstags-
kommission abgelehnt, im Reichstag aber genehmigt wurde, und zwar durch
14 Ur. 3 des Gerichtsverfassnngsgesetzes in einer Fassung, die auch andern
Staaten die Einführung dieser Gemeindegerichte ermöglichen sollte. Der Ein¬
richtung der Geineindegerichtsbarkeit, wie sie zur Zeit in Baden besteht, kann
nun freilich keineswegs das Wort geredet werden; sie wird hier nämlich aus¬
geübt durch die Bürgernleister, das sind in Städten unter 10000 Einwohnern
gewöhnlich kleine Gewerbetreibende, die das Amt eines Gemeindevorstands rein
nebenamtlich ausüben, auf dem Platten Lande aber einfache Bauern, also ge¬
wöhnlich Leute, denen nicht bloß alle Nechtskenntnisse abgehn, sondern auch
die rein formale Fähigkeit zum Erlaß einer Entscheidung.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235295"/>
            <fw type="header" place="top"> Verminderung und verlnlligung der Prozesse</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_506" prev="#ID_505"> also unter Hinzurechnung der beschriebnett Auslagen etwa 40 Mark, sodaß der<lb/>
unterliegende Teil für beide Nechtszüge etwa 80 Mark zu zahlen hat; und<lb/>
auch bei einem Streitwert von 100 Mark können die Kosten beider Nechts¬<lb/>
züge noch immer den Streitgegenstand übersteigen. Dabei ist von dem Fall,<lb/>
daß zahlreiche auswärtige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen sind, und<lb/>
allein schon die Auslagen dieser Beweisaufnahme den Streitwert übersteigen,<lb/>
noch ganz abgesehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_507"> Man kann es selbstverständlich den Anwälten, den Zeugen nud Sachver¬<lb/>
ständigen nicht zumuten, umsonst oder für lächerlich geringe Belohnung in<lb/>
Prozessen von geringem Streitwert Mühe und Versäumnisse ans sich zu nehmen;<lb/>
aber das Mißverhältnis zwischen Streitwert nud Kosten springt doch so sehr in<lb/>
die Augen, daß es nahe liegt, sich nach Mitteln umzusehen, wie die Um-<lb/>
gebung des Gerichts bei Streitigkeiten über geringe Werte möglichst vermieden<lb/>
werden kann. Diese Erwägung lag im Jahre 1879 um so näher, als man<lb/>
sich sagen mußte, daß das neue Prozeßverfahren mit seinem Selbstbetrieb der<lb/>
Parteien, die vor Gericht &#x201E;verhandeln" und &#x201E;Anträge stelle»" sollen, in hohem<lb/>
Maße auch im Verfahren vor den Amtsgerichten die Zuziehung von Anwälten<lb/>
notwendig machen würde. Aber auch wenn die Parteien sich selbst vertreten,<lb/>
so bedeutet doch jede Reise nach dem Gerichtssitz zum Termin für den Bauern<lb/>
einen versäumten Arbeitstag, daneben oft anch Auslagen, die denen der Anwalts-<lb/>
gcbühreu gleichkommen. Nun bestanden in Württemberg und Baden seit alten<lb/>
Zeiten Gcmeindegerichte: sofern beide Streittcile in derselben Stadt- oder<lb/>
Dorfgemeinde wohnten, unterlag bei Streitwerten, deren Gegenstand in Geld<lb/>
oder Geldeswert die Summe von 30 bis 60 Mark nicht übersteigt, die Ent¬<lb/>
scheidung dem Gemeindevorsteher. Gegen diese erfolgte binnen bestimmter<lb/>
Frist die Berufung auf den Rechtsweg, Voraussetzung für die Beschreidung<lb/>
des Rechtsweges bei Streitigkeiten von geringem Geldwert war also die er¬<lb/>
folgte Vorentscheidung des Gemeindevorstehers, Diese Einrichtung hatte sich<lb/>
in Baden und Württemberg dermaßen bewährt, daß die Regierungen dieser<lb/>
Staaten bei der Beratung des Gerichtsvcrfassungsgesctzes die Aufrechthaltung<lb/>
der Gemeindegerichte wenigstens für ihr bisheriges Geltungsgebiet, also für<lb/>
Baden und Württemberg beantragten, ein Verlangen, das zwar mit der<lb/>
&#x201E;Rechtseinheit" nicht wohl vereinbar war und darum von der Rcichstags-<lb/>
kommission abgelehnt, im Reichstag aber genehmigt wurde, und zwar durch<lb/>
14 Ur. 3 des Gerichtsverfassnngsgesetzes in einer Fassung, die auch andern<lb/>
Staaten die Einführung dieser Gemeindegerichte ermöglichen sollte. Der Ein¬<lb/>
richtung der Geineindegerichtsbarkeit, wie sie zur Zeit in Baden besteht, kann<lb/>
nun freilich keineswegs das Wort geredet werden; sie wird hier nämlich aus¬<lb/>
geübt durch die Bürgernleister, das sind in Städten unter 10000 Einwohnern<lb/>
gewöhnlich kleine Gewerbetreibende, die das Amt eines Gemeindevorstands rein<lb/>
nebenamtlich ausüben, auf dem Platten Lande aber einfache Bauern, also ge¬<lb/>
wöhnlich Leute, denen nicht bloß alle Nechtskenntnisse abgehn, sondern auch<lb/>
die rein formale Fähigkeit zum Erlaß einer Entscheidung.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0123] Verminderung und verlnlligung der Prozesse also unter Hinzurechnung der beschriebnett Auslagen etwa 40 Mark, sodaß der unterliegende Teil für beide Nechtszüge etwa 80 Mark zu zahlen hat; und auch bei einem Streitwert von 100 Mark können die Kosten beider Nechts¬ züge noch immer den Streitgegenstand übersteigen. Dabei ist von dem Fall, daß zahlreiche auswärtige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen sind, und allein schon die Auslagen dieser Beweisaufnahme den Streitwert übersteigen, noch ganz abgesehen. Man kann es selbstverständlich den Anwälten, den Zeugen nud Sachver¬ ständigen nicht zumuten, umsonst oder für lächerlich geringe Belohnung in Prozessen von geringem Streitwert Mühe und Versäumnisse ans sich zu nehmen; aber das Mißverhältnis zwischen Streitwert nud Kosten springt doch so sehr in die Augen, daß es nahe liegt, sich nach Mitteln umzusehen, wie die Um- gebung des Gerichts bei Streitigkeiten über geringe Werte möglichst vermieden werden kann. Diese Erwägung lag im Jahre 1879 um so näher, als man sich sagen mußte, daß das neue Prozeßverfahren mit seinem Selbstbetrieb der Parteien, die vor Gericht „verhandeln" und „Anträge stelle»" sollen, in hohem Maße auch im Verfahren vor den Amtsgerichten die Zuziehung von Anwälten notwendig machen würde. Aber auch wenn die Parteien sich selbst vertreten, so bedeutet doch jede Reise nach dem Gerichtssitz zum Termin für den Bauern einen versäumten Arbeitstag, daneben oft anch Auslagen, die denen der Anwalts- gcbühreu gleichkommen. Nun bestanden in Württemberg und Baden seit alten Zeiten Gcmeindegerichte: sofern beide Streittcile in derselben Stadt- oder Dorfgemeinde wohnten, unterlag bei Streitwerten, deren Gegenstand in Geld oder Geldeswert die Summe von 30 bis 60 Mark nicht übersteigt, die Ent¬ scheidung dem Gemeindevorsteher. Gegen diese erfolgte binnen bestimmter Frist die Berufung auf den Rechtsweg, Voraussetzung für die Beschreidung des Rechtsweges bei Streitigkeiten von geringem Geldwert war also die er¬ folgte Vorentscheidung des Gemeindevorstehers, Diese Einrichtung hatte sich in Baden und Württemberg dermaßen bewährt, daß die Regierungen dieser Staaten bei der Beratung des Gerichtsvcrfassungsgesctzes die Aufrechthaltung der Gemeindegerichte wenigstens für ihr bisheriges Geltungsgebiet, also für Baden und Württemberg beantragten, ein Verlangen, das zwar mit der „Rechtseinheit" nicht wohl vereinbar war und darum von der Rcichstags- kommission abgelehnt, im Reichstag aber genehmigt wurde, und zwar durch 14 Ur. 3 des Gerichtsverfassnngsgesetzes in einer Fassung, die auch andern Staaten die Einführung dieser Gemeindegerichte ermöglichen sollte. Der Ein¬ richtung der Geineindegerichtsbarkeit, wie sie zur Zeit in Baden besteht, kann nun freilich keineswegs das Wort geredet werden; sie wird hier nämlich aus¬ geübt durch die Bürgernleister, das sind in Städten unter 10000 Einwohnern gewöhnlich kleine Gewerbetreibende, die das Amt eines Gemeindevorstands rein nebenamtlich ausüben, auf dem Platten Lande aber einfache Bauern, also ge¬ wöhnlich Leute, denen nicht bloß alle Nechtskenntnisse abgehn, sondern auch die rein formale Fähigkeit zum Erlaß einer Entscheidung.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/123
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/123>, abgerufen am 03.07.2024.