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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Natur näher zu liegen scheinen, da man sie sich in der Weise einigermaßen
erklären kann, dnß man sich die verwandten Vorstellungen in benachbarten
Hirnzellen untergebracht denkt. Waltete nun nicht beim gesunden Menschen
das Apriori, der logische Zwang, die Vorstellungen gerade so und nicht anders
zu verknüpfen, so gäbe es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum,
keine Wissenschaft, kein menschliches Geistesleben, sondern höchstens blindes,
tierisches Triebleben. Liebmann gelangt schließlich zu der Alternative: "Ent¬
weder die Hypothese das empirischen Materialismus wird -- wozu ich mich
nicht entschließen kann -- aufgegeben; oder die Materie, die Natur, ist etwas
andres, ist unendlich viel mehr, als der Physiker, der Chemiker, ja auch der
Physiolog sich bei diesem Worte zu denken pflegt." Mit andern Worten, wir
sind, wenn man durchaus das Wort "Gott" vermeiden will, wieder beim
Nus des Anaxagoras angelangt.

Die höchste Stufe, auf der sich die vor allem Materiellen zu denkende
Weltvernunft thätig erweist, ist die der ästhetischen und ethischen Werturteile.
Der Wert ist uach Liebmann keine Eigenschaft des beurteilten Objekts, sondern
eine Beziehung des Objekts zum urteilenden Subjekt. Darum ist kein Ding
an sich wertvoll oder wertlos. Auch kein Mensch, wenn wir den Menschen
zu den Dingen rechnen? Sowohl den an die Spitze gestellten Grundsatz wie
seine einzelnen Anwendungen in Liebmanns Ethik und Ästhetik lasse ich nur
mit Einschränkungen gelten. Das Verhältnis des Soll, das im Reiche der
Werte herrscht, zum Muß der Natur bestimmt Liebmann folgendermaßen.
"Der vergangne Weltlauf zwar, bis auf den gegenwärtigen Augenblick herab,
steht in der Weltgeschichte wie im Leben der einzelnen Person unwiderruflich
fest, und was einmal auf den Blättern der objektiven Geschichte eingetragen
ist, das läßt sich uicht mehr wegradieren; aber die Zukunft liegt vor uns wie
ein noch unbeschriebnes Blatt, und selbst wenn wir in der Theorie zu der
deterministischen Überzeugung gedrängt worden sind, daß der dereinstige Inhalt
dieses jetzt noch leeren Blattes nach den Gesetzen des Weltlaufs schon jetzt
vorausbestimmt ist, so wissen wir aus der Praxis doch ebenso genau, daß
unser Urteil über das, was zu geschehn wert ist, innerhalb des unsrer physischen
und moralischen Kraft gewährten Wirkungsbereichs die Verwirklichung des
Wertvollen verursachen kann." An den Kunstwerken des Altertums und des
Mittelalters, an den großen Bauten, an dem Einflüsse der Religion, der sitt¬
lichen Ideale, der Gesetzgebung auf den Gang der Weltgeschichte zeige es sich,
in welchem Grade die Werturteile Kulturmächte sind.

Die ethischen und die ästhetischen Werturteile sind ganz unabhängig von
der philosophischen Theorie, der man huldigt. "Schön bleibt schön, moralische
Vortrefflichkeit und moralische Verworfenheit, Recht, Unrecht, Pflicht bleiben,
was sie sind, gleichwohl ob ich in der Theorie mein Denken nur für ein
Phosphoreszieren meines Gehirns halte oder für etwas andres. Ein und
dieselbe Weltanschauung, wie etwa Atheismus oder Theismus, ein und der¬
selbe Grad von Wissen, Intelligenz und theoretischer Bildung kann in dem


Natur näher zu liegen scheinen, da man sie sich in der Weise einigermaßen
erklären kann, dnß man sich die verwandten Vorstellungen in benachbarten
Hirnzellen untergebracht denkt. Waltete nun nicht beim gesunden Menschen
das Apriori, der logische Zwang, die Vorstellungen gerade so und nicht anders
zu verknüpfen, so gäbe es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum,
keine Wissenschaft, kein menschliches Geistesleben, sondern höchstens blindes,
tierisches Triebleben. Liebmann gelangt schließlich zu der Alternative: „Ent¬
weder die Hypothese das empirischen Materialismus wird — wozu ich mich
nicht entschließen kann — aufgegeben; oder die Materie, die Natur, ist etwas
andres, ist unendlich viel mehr, als der Physiker, der Chemiker, ja auch der
Physiolog sich bei diesem Worte zu denken pflegt." Mit andern Worten, wir
sind, wenn man durchaus das Wort „Gott" vermeiden will, wieder beim
Nus des Anaxagoras angelangt.

Die höchste Stufe, auf der sich die vor allem Materiellen zu denkende
Weltvernunft thätig erweist, ist die der ästhetischen und ethischen Werturteile.
Der Wert ist uach Liebmann keine Eigenschaft des beurteilten Objekts, sondern
eine Beziehung des Objekts zum urteilenden Subjekt. Darum ist kein Ding
an sich wertvoll oder wertlos. Auch kein Mensch, wenn wir den Menschen
zu den Dingen rechnen? Sowohl den an die Spitze gestellten Grundsatz wie
seine einzelnen Anwendungen in Liebmanns Ethik und Ästhetik lasse ich nur
mit Einschränkungen gelten. Das Verhältnis des Soll, das im Reiche der
Werte herrscht, zum Muß der Natur bestimmt Liebmann folgendermaßen.
„Der vergangne Weltlauf zwar, bis auf den gegenwärtigen Augenblick herab,
steht in der Weltgeschichte wie im Leben der einzelnen Person unwiderruflich
fest, und was einmal auf den Blättern der objektiven Geschichte eingetragen
ist, das läßt sich uicht mehr wegradieren; aber die Zukunft liegt vor uns wie
ein noch unbeschriebnes Blatt, und selbst wenn wir in der Theorie zu der
deterministischen Überzeugung gedrängt worden sind, daß der dereinstige Inhalt
dieses jetzt noch leeren Blattes nach den Gesetzen des Weltlaufs schon jetzt
vorausbestimmt ist, so wissen wir aus der Praxis doch ebenso genau, daß
unser Urteil über das, was zu geschehn wert ist, innerhalb des unsrer physischen
und moralischen Kraft gewährten Wirkungsbereichs die Verwirklichung des
Wertvollen verursachen kann." An den Kunstwerken des Altertums und des
Mittelalters, an den großen Bauten, an dem Einflüsse der Religion, der sitt¬
lichen Ideale, der Gesetzgebung auf den Gang der Weltgeschichte zeige es sich,
in welchem Grade die Werturteile Kulturmächte sind.

Die ethischen und die ästhetischen Werturteile sind ganz unabhängig von
der philosophischen Theorie, der man huldigt. „Schön bleibt schön, moralische
Vortrefflichkeit und moralische Verworfenheit, Recht, Unrecht, Pflicht bleiben,
was sie sind, gleichwohl ob ich in der Theorie mein Denken nur für ein
Phosphoreszieren meines Gehirns halte oder für etwas andres. Ein und
dieselbe Weltanschauung, wie etwa Atheismus oder Theismus, ein und der¬
selbe Grad von Wissen, Intelligenz und theoretischer Bildung kann in dem


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[0072] Natur näher zu liegen scheinen, da man sie sich in der Weise einigermaßen erklären kann, dnß man sich die verwandten Vorstellungen in benachbarten Hirnzellen untergebracht denkt. Waltete nun nicht beim gesunden Menschen das Apriori, der logische Zwang, die Vorstellungen gerade so und nicht anders zu verknüpfen, so gäbe es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum, keine Wissenschaft, kein menschliches Geistesleben, sondern höchstens blindes, tierisches Triebleben. Liebmann gelangt schließlich zu der Alternative: „Ent¬ weder die Hypothese das empirischen Materialismus wird — wozu ich mich nicht entschließen kann — aufgegeben; oder die Materie, die Natur, ist etwas andres, ist unendlich viel mehr, als der Physiker, der Chemiker, ja auch der Physiolog sich bei diesem Worte zu denken pflegt." Mit andern Worten, wir sind, wenn man durchaus das Wort „Gott" vermeiden will, wieder beim Nus des Anaxagoras angelangt. Die höchste Stufe, auf der sich die vor allem Materiellen zu denkende Weltvernunft thätig erweist, ist die der ästhetischen und ethischen Werturteile. Der Wert ist uach Liebmann keine Eigenschaft des beurteilten Objekts, sondern eine Beziehung des Objekts zum urteilenden Subjekt. Darum ist kein Ding an sich wertvoll oder wertlos. Auch kein Mensch, wenn wir den Menschen zu den Dingen rechnen? Sowohl den an die Spitze gestellten Grundsatz wie seine einzelnen Anwendungen in Liebmanns Ethik und Ästhetik lasse ich nur mit Einschränkungen gelten. Das Verhältnis des Soll, das im Reiche der Werte herrscht, zum Muß der Natur bestimmt Liebmann folgendermaßen. „Der vergangne Weltlauf zwar, bis auf den gegenwärtigen Augenblick herab, steht in der Weltgeschichte wie im Leben der einzelnen Person unwiderruflich fest, und was einmal auf den Blättern der objektiven Geschichte eingetragen ist, das läßt sich uicht mehr wegradieren; aber die Zukunft liegt vor uns wie ein noch unbeschriebnes Blatt, und selbst wenn wir in der Theorie zu der deterministischen Überzeugung gedrängt worden sind, daß der dereinstige Inhalt dieses jetzt noch leeren Blattes nach den Gesetzen des Weltlaufs schon jetzt vorausbestimmt ist, so wissen wir aus der Praxis doch ebenso genau, daß unser Urteil über das, was zu geschehn wert ist, innerhalb des unsrer physischen und moralischen Kraft gewährten Wirkungsbereichs die Verwirklichung des Wertvollen verursachen kann." An den Kunstwerken des Altertums und des Mittelalters, an den großen Bauten, an dem Einflüsse der Religion, der sitt¬ lichen Ideale, der Gesetzgebung auf den Gang der Weltgeschichte zeige es sich, in welchem Grade die Werturteile Kulturmächte sind. Die ethischen und die ästhetischen Werturteile sind ganz unabhängig von der philosophischen Theorie, der man huldigt. „Schön bleibt schön, moralische Vortrefflichkeit und moralische Verworfenheit, Recht, Unrecht, Pflicht bleiben, was sie sind, gleichwohl ob ich in der Theorie mein Denken nur für ein Phosphoreszieren meines Gehirns halte oder für etwas andres. Ein und dieselbe Weltanschauung, wie etwa Atheismus oder Theismus, ein und der¬ selbe Grad von Wissen, Intelligenz und theoretischer Bildung kann in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/72>, abgerufen am 26.06.2024.