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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der deutschen Monarchie

volles, weithin wahrnehmbares Symbol den versammelten Volksgenossen ver¬
deutlicht werden: aufs Schild wurde der aus einem neuen Geschlecht gewählte
König von starken Armen gehoben, seine Mannen weithin überschauend und
ihnen von ferne sichtbar. Der Umkreis der königlichen Befugnisse wird anfangs
nicht übermäßig groß gewesen sein. Im Kriege mußte seinem Gebote Folge
geleistet werden, aber in der Allsübung seiner Amtshandlungen als oberster
Richter und Priester war er selbst streng an die Formen der Überlieferung ge¬
bunden. Immerhin gelang es sicherlich einzelnen besonders kraftvollen Königen,
eine wahrhaft gebieterische Machtstellung innerhalb der von ihnen beherrschten
Völkerschaft zu erringen. Die beiden ältesten Heerkönige wenigstens, von denen
wir Näheres vernehmen, Ariovistus und Marbod, weisen manche tyrannischen
Züge auf.

Während in der ältesten Zeit das Heerkönigtum ohne Zweifel die gemein¬
germanische, sämtlichen Völkerschaften eigentümliche Verfassungsform gewesen
ist, sind zu der Zeit des Tacitus, etwa hundert Jahre n. Chr., die westgerma¬
nischen Völkerschaftsstaaten zwischen Rhein und Elbe Republiken geworden.
Diese Thatsache ist nur scheinbar merkwürdig, sie geht in ihren tiefern Ursachen
auf innere Wandlungen von entscheidender Bedeutung zurück. Die in Betracht
kommenden Völkerschaften sind zur Seßhaftigkeit gelangt -- im Gegensatz zu den
Ostgermcmeu östlich von der Elbe, die zwar auch die uomadische Lebenshaltung
frühzeitig ablegten, aber im fortgesetzten Ringen mit den feindlichen Slawen
nie so feste Beziehungen zum heimischen Boden gewonnen haben, wie ihre
westgermanischen Brüder. An Stelle der bei nomadischer Lebenshaltung vor¬
herrschenden Viehzucht war jetzt der Ackerbau Hauptquelle wirtschaftlichen
Erwerbs geworden. Bei der durch ihn veranlaßten Verkettung der Bewohner
mit dem Boden füllt das Bedürfnis, Gebiet und Wohnsitz zu wechseln, weg
und somit auch der Hauptantrieb zu fortgesetzter kriegerischer Bethätigung.
Damit verliert aber das Königtum seine vornehmste Befugnis, und ein Ver¬
langen der Völkerschaftsmannen nach einheitlicher Leitung ist jetzt, bei der
Verteilung der seßhaft gewordnen Bevölkerung über einen weiten Raum
hin, zunächst nicht mehr vorhanden. Nur in Kriegszeiten erwählt man für
die Dauer des Kampfes einen Herzog. Wie sich die Umwandlung der Ver¬
fassung im einzelnen vollzogen hat, tonnen wir nicht näher verfolgen, aber
das Ergebnis steht fest: das Heerkönigtum in Westdeutschland wird verdrängt,
an seiner Stelle wird die Bcmernrepublik die vorherrschende Staatsform.

Aber diese republikanische Episode in der deutscheu Verfassungsgeschichte hat
uicht lange gewährt, im höchsten Falle, wenn wir Sachsen und Friesen nicht in
Betracht zieh", dreihundert Jahre. Während dieser Zeit reiften die Germanen in
der ernsten Arbeit des Ackerbaus zu großer innerer Stärke und sammelten Kräfte
für die Unternehmungen der Zukunft. Die Gegensätze, die früher zwischen den ein¬
zelnen Völkerschaften vorhanden gewesen waren, schleifen sich ub; größere Ver¬
bände entstehn, Stämme genannt, die eine ganze Anzahl der frühern Völker¬
schaften umfasse". Der Umfang und die Größe dieser neuen Stammesverbäude,


Die Entwicklung der deutschen Monarchie

volles, weithin wahrnehmbares Symbol den versammelten Volksgenossen ver¬
deutlicht werden: aufs Schild wurde der aus einem neuen Geschlecht gewählte
König von starken Armen gehoben, seine Mannen weithin überschauend und
ihnen von ferne sichtbar. Der Umkreis der königlichen Befugnisse wird anfangs
nicht übermäßig groß gewesen sein. Im Kriege mußte seinem Gebote Folge
geleistet werden, aber in der Allsübung seiner Amtshandlungen als oberster
Richter und Priester war er selbst streng an die Formen der Überlieferung ge¬
bunden. Immerhin gelang es sicherlich einzelnen besonders kraftvollen Königen,
eine wahrhaft gebieterische Machtstellung innerhalb der von ihnen beherrschten
Völkerschaft zu erringen. Die beiden ältesten Heerkönige wenigstens, von denen
wir Näheres vernehmen, Ariovistus und Marbod, weisen manche tyrannischen
Züge auf.

Während in der ältesten Zeit das Heerkönigtum ohne Zweifel die gemein¬
germanische, sämtlichen Völkerschaften eigentümliche Verfassungsform gewesen
ist, sind zu der Zeit des Tacitus, etwa hundert Jahre n. Chr., die westgerma¬
nischen Völkerschaftsstaaten zwischen Rhein und Elbe Republiken geworden.
Diese Thatsache ist nur scheinbar merkwürdig, sie geht in ihren tiefern Ursachen
auf innere Wandlungen von entscheidender Bedeutung zurück. Die in Betracht
kommenden Völkerschaften sind zur Seßhaftigkeit gelangt — im Gegensatz zu den
Ostgermcmeu östlich von der Elbe, die zwar auch die uomadische Lebenshaltung
frühzeitig ablegten, aber im fortgesetzten Ringen mit den feindlichen Slawen
nie so feste Beziehungen zum heimischen Boden gewonnen haben, wie ihre
westgermanischen Brüder. An Stelle der bei nomadischer Lebenshaltung vor¬
herrschenden Viehzucht war jetzt der Ackerbau Hauptquelle wirtschaftlichen
Erwerbs geworden. Bei der durch ihn veranlaßten Verkettung der Bewohner
mit dem Boden füllt das Bedürfnis, Gebiet und Wohnsitz zu wechseln, weg
und somit auch der Hauptantrieb zu fortgesetzter kriegerischer Bethätigung.
Damit verliert aber das Königtum seine vornehmste Befugnis, und ein Ver¬
langen der Völkerschaftsmannen nach einheitlicher Leitung ist jetzt, bei der
Verteilung der seßhaft gewordnen Bevölkerung über einen weiten Raum
hin, zunächst nicht mehr vorhanden. Nur in Kriegszeiten erwählt man für
die Dauer des Kampfes einen Herzog. Wie sich die Umwandlung der Ver¬
fassung im einzelnen vollzogen hat, tonnen wir nicht näher verfolgen, aber
das Ergebnis steht fest: das Heerkönigtum in Westdeutschland wird verdrängt,
an seiner Stelle wird die Bcmernrepublik die vorherrschende Staatsform.

Aber diese republikanische Episode in der deutscheu Verfassungsgeschichte hat
uicht lange gewährt, im höchsten Falle, wenn wir Sachsen und Friesen nicht in
Betracht zieh», dreihundert Jahre. Während dieser Zeit reiften die Germanen in
der ernsten Arbeit des Ackerbaus zu großer innerer Stärke und sammelten Kräfte
für die Unternehmungen der Zukunft. Die Gegensätze, die früher zwischen den ein¬
zelnen Völkerschaften vorhanden gewesen waren, schleifen sich ub; größere Ver¬
bände entstehn, Stämme genannt, die eine ganze Anzahl der frühern Völker¬
schaften umfasse». Der Umfang und die Größe dieser neuen Stammesverbäude,


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[0058] Die Entwicklung der deutschen Monarchie volles, weithin wahrnehmbares Symbol den versammelten Volksgenossen ver¬ deutlicht werden: aufs Schild wurde der aus einem neuen Geschlecht gewählte König von starken Armen gehoben, seine Mannen weithin überschauend und ihnen von ferne sichtbar. Der Umkreis der königlichen Befugnisse wird anfangs nicht übermäßig groß gewesen sein. Im Kriege mußte seinem Gebote Folge geleistet werden, aber in der Allsübung seiner Amtshandlungen als oberster Richter und Priester war er selbst streng an die Formen der Überlieferung ge¬ bunden. Immerhin gelang es sicherlich einzelnen besonders kraftvollen Königen, eine wahrhaft gebieterische Machtstellung innerhalb der von ihnen beherrschten Völkerschaft zu erringen. Die beiden ältesten Heerkönige wenigstens, von denen wir Näheres vernehmen, Ariovistus und Marbod, weisen manche tyrannischen Züge auf. Während in der ältesten Zeit das Heerkönigtum ohne Zweifel die gemein¬ germanische, sämtlichen Völkerschaften eigentümliche Verfassungsform gewesen ist, sind zu der Zeit des Tacitus, etwa hundert Jahre n. Chr., die westgerma¬ nischen Völkerschaftsstaaten zwischen Rhein und Elbe Republiken geworden. Diese Thatsache ist nur scheinbar merkwürdig, sie geht in ihren tiefern Ursachen auf innere Wandlungen von entscheidender Bedeutung zurück. Die in Betracht kommenden Völkerschaften sind zur Seßhaftigkeit gelangt — im Gegensatz zu den Ostgermcmeu östlich von der Elbe, die zwar auch die uomadische Lebenshaltung frühzeitig ablegten, aber im fortgesetzten Ringen mit den feindlichen Slawen nie so feste Beziehungen zum heimischen Boden gewonnen haben, wie ihre westgermanischen Brüder. An Stelle der bei nomadischer Lebenshaltung vor¬ herrschenden Viehzucht war jetzt der Ackerbau Hauptquelle wirtschaftlichen Erwerbs geworden. Bei der durch ihn veranlaßten Verkettung der Bewohner mit dem Boden füllt das Bedürfnis, Gebiet und Wohnsitz zu wechseln, weg und somit auch der Hauptantrieb zu fortgesetzter kriegerischer Bethätigung. Damit verliert aber das Königtum seine vornehmste Befugnis, und ein Ver¬ langen der Völkerschaftsmannen nach einheitlicher Leitung ist jetzt, bei der Verteilung der seßhaft gewordnen Bevölkerung über einen weiten Raum hin, zunächst nicht mehr vorhanden. Nur in Kriegszeiten erwählt man für die Dauer des Kampfes einen Herzog. Wie sich die Umwandlung der Ver¬ fassung im einzelnen vollzogen hat, tonnen wir nicht näher verfolgen, aber das Ergebnis steht fest: das Heerkönigtum in Westdeutschland wird verdrängt, an seiner Stelle wird die Bcmernrepublik die vorherrschende Staatsform. Aber diese republikanische Episode in der deutscheu Verfassungsgeschichte hat uicht lange gewährt, im höchsten Falle, wenn wir Sachsen und Friesen nicht in Betracht zieh», dreihundert Jahre. Während dieser Zeit reiften die Germanen in der ernsten Arbeit des Ackerbaus zu großer innerer Stärke und sammelten Kräfte für die Unternehmungen der Zukunft. Die Gegensätze, die früher zwischen den ein¬ zelnen Völkerschaften vorhanden gewesen waren, schleifen sich ub; größere Ver¬ bände entstehn, Stämme genannt, die eine ganze Anzahl der frühern Völker¬ schaften umfasse». Der Umfang und die Größe dieser neuen Stammesverbäude,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/58>, abgerufen am 22.07.2024.