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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Staats- und Kirchendiener als Tauschwerte zu behandeln, deren Bezahlung
von der Konkurrenz geregelt werden solle, und die sich deshalb mich nach dem
Geschmack der Kunden zu richten hätten.

Der Hauptfehler Lifts sei seine einseitige Parteinahme für die Manufaktur
und seine Befangenheit in der Denkweise des Jndustrialismus, Wenn er in
der nationnlökonomischen Litteratur bewandert wäre, dann würde er bemerkt
haben, wie das Mißtrauen gegen den Geist des Jndustrialismus immer mehr
um sich greife. "Die einen verlangen an seiner Stelle eine christliche Ordnung,
andre möchten zurück zu den "organischem" Zuständen des Mittelalters, noch
andre ergehn sich in sozialistischen und kommunistischen Träumen von einer
ganz neuen Freiheit und Glückseligkeit, Darin aber stimmen alle überein, daß
der Geist des Jndustrialismus desorganisiere, daß Glück und Freiheit auf die
Dauer nicht mit ihm bestehn könne. Eine tiefere, obwohl in ihrem ersten Auf¬
treten einseitige, trunkne und unklare Reaktion gegen die industrialistische Denk¬
weise ging, gerade in der Zeit Ihrer Jngend, von der deutschen Romantik aus,
und sie lebt in freierer und klarerer Gestalt unter uns fort," List hat diese
Reaktion wohl bemerkt; er war betrübt darüber und haßte die Romantik als
eine Feindin des wirtschaftlichen Fortschritts. Brüggemann findet die Charak¬
teristik verfehlt, die List von den Berufsständen entwirft, und in der er die
Fabrikanten auf Kosten der Landwirte und der Kaufleute herausstreicht, und
bemerkt u. a., gerade den Stand, dessen Berufsthätigkeit die Verwirklichung
der wahren Freiheit bedeute, den Stand der Staats- und Kirchendiener, der
Künstler und der Gelehrten erwähne er gar nicht; er rechne ihn wohl auf gut
amerikanisch zu den Auswüchsen der Gesellschaft und glaube, er sei dazu ver¬
urteilt, der Freiheit des vollendeten Selfgovernments zu weichen? Auch in
dieser Beziehung würde er richtiger sehen gelernt haben, wenn er seine prak¬
tischen Studien, statt in Amerika, in England gemacht hätte, wo er neben den
beiden ihn allein interessierenden Ständen der "Agrikulturisten" und "Mcmu-
fcckturisten" einen zahlreichen Arbeiterstand gefunden haben würde, dessen Lage
und Haltung den Staatsmann lind den Nationalökonomen zwinge, sich mit
ihm zu beschäftigen. Das Ergebnis der Erwägungen, die er veranlasse, sei,
daß man dem Individualismus den Sozialismus entgegenstelle, "eine Gemein¬
samkeit der Menschen, eine Gebundenheit und Wichtigkeit des Eigentums,
eine freie Feudalität. Wie trüb und widersprechend sonst auch die Systeme
des Sozialismus sein mögen, das eben Ausgesprochne ist ihr gemeinsamer Kern.
Darum ist der Kampf, den die Gegenwart auszufechten hat, nicht einer zwischen
Landwirten und Fabrikanten, sondern ein Kampf zwischen den Privatpersonen
und dem Allgemeinen. Landwirtschaft und Industrie verfechten in den Personen
der glücklich Besitzenden das Privatinteresse. Die Proletarier beider Stände
aber rufen in verworrener Leidenschaft nach Organisation, also, obwohl ohne
klares Bewußtsein davon, nach dem Allgemeinen, auf daß dieses den Greuel
der Desorganisation und den ungleichen Konkurrenzkampf bändigen möge. Und
hier nun tritt das entschiedne Bedürfnis eines vierten, vermittelnden Standes,
des gelehrten Standes ein," der das Allgemeine im Auge behält.


Staats- und Kirchendiener als Tauschwerte zu behandeln, deren Bezahlung
von der Konkurrenz geregelt werden solle, und die sich deshalb mich nach dem
Geschmack der Kunden zu richten hätten.

Der Hauptfehler Lifts sei seine einseitige Parteinahme für die Manufaktur
und seine Befangenheit in der Denkweise des Jndustrialismus, Wenn er in
der nationnlökonomischen Litteratur bewandert wäre, dann würde er bemerkt
haben, wie das Mißtrauen gegen den Geist des Jndustrialismus immer mehr
um sich greife. „Die einen verlangen an seiner Stelle eine christliche Ordnung,
andre möchten zurück zu den »organischem« Zuständen des Mittelalters, noch
andre ergehn sich in sozialistischen und kommunistischen Träumen von einer
ganz neuen Freiheit und Glückseligkeit, Darin aber stimmen alle überein, daß
der Geist des Jndustrialismus desorganisiere, daß Glück und Freiheit auf die
Dauer nicht mit ihm bestehn könne. Eine tiefere, obwohl in ihrem ersten Auf¬
treten einseitige, trunkne und unklare Reaktion gegen die industrialistische Denk¬
weise ging, gerade in der Zeit Ihrer Jngend, von der deutschen Romantik aus,
und sie lebt in freierer und klarerer Gestalt unter uns fort," List hat diese
Reaktion wohl bemerkt; er war betrübt darüber und haßte die Romantik als
eine Feindin des wirtschaftlichen Fortschritts. Brüggemann findet die Charak¬
teristik verfehlt, die List von den Berufsständen entwirft, und in der er die
Fabrikanten auf Kosten der Landwirte und der Kaufleute herausstreicht, und
bemerkt u. a., gerade den Stand, dessen Berufsthätigkeit die Verwirklichung
der wahren Freiheit bedeute, den Stand der Staats- und Kirchendiener, der
Künstler und der Gelehrten erwähne er gar nicht; er rechne ihn wohl auf gut
amerikanisch zu den Auswüchsen der Gesellschaft und glaube, er sei dazu ver¬
urteilt, der Freiheit des vollendeten Selfgovernments zu weichen? Auch in
dieser Beziehung würde er richtiger sehen gelernt haben, wenn er seine prak¬
tischen Studien, statt in Amerika, in England gemacht hätte, wo er neben den
beiden ihn allein interessierenden Ständen der „Agrikulturisten" und „Mcmu-
fcckturisten" einen zahlreichen Arbeiterstand gefunden haben würde, dessen Lage
und Haltung den Staatsmann lind den Nationalökonomen zwinge, sich mit
ihm zu beschäftigen. Das Ergebnis der Erwägungen, die er veranlasse, sei,
daß man dem Individualismus den Sozialismus entgegenstelle, „eine Gemein¬
samkeit der Menschen, eine Gebundenheit und Wichtigkeit des Eigentums,
eine freie Feudalität. Wie trüb und widersprechend sonst auch die Systeme
des Sozialismus sein mögen, das eben Ausgesprochne ist ihr gemeinsamer Kern.
Darum ist der Kampf, den die Gegenwart auszufechten hat, nicht einer zwischen
Landwirten und Fabrikanten, sondern ein Kampf zwischen den Privatpersonen
und dem Allgemeinen. Landwirtschaft und Industrie verfechten in den Personen
der glücklich Besitzenden das Privatinteresse. Die Proletarier beider Stände
aber rufen in verworrener Leidenschaft nach Organisation, also, obwohl ohne
klares Bewußtsein davon, nach dem Allgemeinen, auf daß dieses den Greuel
der Desorganisation und den ungleichen Konkurrenzkampf bändigen möge. Und
hier nun tritt das entschiedne Bedürfnis eines vierten, vermittelnden Standes,
des gelehrten Standes ein," der das Allgemeine im Auge behält.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/571>, abgerufen am 22.07.2024.