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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Über den Stand der Tugend- und Lasterhaftigkeit in der ostelbischcn
Landarbeiterschaft ist in den letzten dreißig bis vierzig Jahren gerade auch
nicht viel erfreuliches zu sagen gewesen. Es scheint da entschieden bergab ge¬
gangen zu sein, während man vom Durchschnitt der städtischen Arbeiterschaft
das Gegenteil sagen muß. Von der geschlechtlichen Sittlichkeit ganz zu ge¬
schweige"; was man von der Roheit und Gewaltthätigkeit gegen Mensch und
Tier, von der Trunksucht, von dem Hof-, Feld-, Wald- und jedem andern
Diebstahl auf den Rittergütern im Osten zu hören bekommt, beweist ganz
gewiß keine Hebung, sondern fortschreitenden Verfall der guten Sitte. Wenn
wir das an der landwirtschaftlichen Bevölkerung erleben, so ist das ganz be¬
sonders traurig, und ein ganz besonders schwerer Vorwurf für die Landherren,
für die Lnndgeistlichkeit und für die Negierungsleute. So läßt man deu
"Jungbrunnen" der Nation versumpfen und verfallen, von dem man sonst
nicht Rühmens genng machen kann, wenn den Grundbesitzern dadurch Vorteile
erstritten werden sollen. Wahrhaftig, so viel mal größer der ländliche Boden
in Preußen ist als der städtische, so viel wichtiger und dringender ist heute,
die Sozialreform auf dem Lande als in der Stadt. Nicht am Können liegts,
sondern am Wollen, Wenns länger so fortgeht. Schlendrian und Trägheit
verbinden sich mit mißverstandnem Klasseninteresse und leider vor allem mit
dem alten ostelbisch-baltischen Hochmut, der viel länger als irgendwo im Reich
neun Zehntel des Volks als Parias geistig und sittlich niederhalten zu dürfen
glaubt, damit das eine Zehntel, das Gott zum Herrschen bestimmt habe, der
Knechte Kraft ungestört genieße. Das gilt vielen heute noch für echt aristo¬
kratisch, wohl sogar für echt christlich.

Man wird vielleicht tadeln, daß in dein, was hier gesagt ist, die subjek¬
tiven Anschauungen eine zu große Rolle spielten. Aber das macht erstens
das Gesagte noch lange nicht falsch, und zweitens: wo ist die Quelle, aus der
man objektive Wissenschaft schöpfen kann? Was darüber geschrieben worden ist
seit dreißig Jahren, habe ich gelesen. Wie sehr spielt dabei nicht auch die sub¬
jektive Anschauung die Hauptrolle, wie oft nicht gar Partei und noch un¬
rühmlicheres Interesse. Und wie scharf stehn sich die Meinungen der Schrift¬
gelehrten gegenüber. Dn bleibt einem nichts andres übrig als: "Buch zu, und
sag, was und wie dus weißt, nach allein, was du gehört und gesehen und
auch gelesen hast!" Will die Regierung über deu Stand der Sache eine Enquete
machen mit sehr viel Statistik, nun nur so besser. Nur gründlich, zuverlässig
und ehrlich muß sie gemacht werden. Aber eine solche wirklich gründliche, zu¬
verlässige und ehrliche Enquete und Statistik über diese Dinge, die allein Zweck
und Sinn Hütte, ist hente in Ostelbien noch Utopie. Da muß erst die Not zum
äußersten gekommen sein. (Schluß folgt)




Über den Stand der Tugend- und Lasterhaftigkeit in der ostelbischcn
Landarbeiterschaft ist in den letzten dreißig bis vierzig Jahren gerade auch
nicht viel erfreuliches zu sagen gewesen. Es scheint da entschieden bergab ge¬
gangen zu sein, während man vom Durchschnitt der städtischen Arbeiterschaft
das Gegenteil sagen muß. Von der geschlechtlichen Sittlichkeit ganz zu ge¬
schweige»; was man von der Roheit und Gewaltthätigkeit gegen Mensch und
Tier, von der Trunksucht, von dem Hof-, Feld-, Wald- und jedem andern
Diebstahl auf den Rittergütern im Osten zu hören bekommt, beweist ganz
gewiß keine Hebung, sondern fortschreitenden Verfall der guten Sitte. Wenn
wir das an der landwirtschaftlichen Bevölkerung erleben, so ist das ganz be¬
sonders traurig, und ein ganz besonders schwerer Vorwurf für die Landherren,
für die Lnndgeistlichkeit und für die Negierungsleute. So läßt man deu
„Jungbrunnen" der Nation versumpfen und verfallen, von dem man sonst
nicht Rühmens genng machen kann, wenn den Grundbesitzern dadurch Vorteile
erstritten werden sollen. Wahrhaftig, so viel mal größer der ländliche Boden
in Preußen ist als der städtische, so viel wichtiger und dringender ist heute,
die Sozialreform auf dem Lande als in der Stadt. Nicht am Können liegts,
sondern am Wollen, Wenns länger so fortgeht. Schlendrian und Trägheit
verbinden sich mit mißverstandnem Klasseninteresse und leider vor allem mit
dem alten ostelbisch-baltischen Hochmut, der viel länger als irgendwo im Reich
neun Zehntel des Volks als Parias geistig und sittlich niederhalten zu dürfen
glaubt, damit das eine Zehntel, das Gott zum Herrschen bestimmt habe, der
Knechte Kraft ungestört genieße. Das gilt vielen heute noch für echt aristo¬
kratisch, wohl sogar für echt christlich.

Man wird vielleicht tadeln, daß in dein, was hier gesagt ist, die subjek¬
tiven Anschauungen eine zu große Rolle spielten. Aber das macht erstens
das Gesagte noch lange nicht falsch, und zweitens: wo ist die Quelle, aus der
man objektive Wissenschaft schöpfen kann? Was darüber geschrieben worden ist
seit dreißig Jahren, habe ich gelesen. Wie sehr spielt dabei nicht auch die sub¬
jektive Anschauung die Hauptrolle, wie oft nicht gar Partei und noch un¬
rühmlicheres Interesse. Und wie scharf stehn sich die Meinungen der Schrift¬
gelehrten gegenüber. Dn bleibt einem nichts andres übrig als: „Buch zu, und
sag, was und wie dus weißt, nach allein, was du gehört und gesehen und
auch gelesen hast!" Will die Regierung über deu Stand der Sache eine Enquete
machen mit sehr viel Statistik, nun nur so besser. Nur gründlich, zuverlässig
und ehrlich muß sie gemacht werden. Aber eine solche wirklich gründliche, zu¬
verlässige und ehrliche Enquete und Statistik über diese Dinge, die allein Zweck
und Sinn Hütte, ist hente in Ostelbien noch Utopie. Da muß erst die Not zum
äußersten gekommen sein. (Schluß folgt)




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[0564] Über den Stand der Tugend- und Lasterhaftigkeit in der ostelbischcn Landarbeiterschaft ist in den letzten dreißig bis vierzig Jahren gerade auch nicht viel erfreuliches zu sagen gewesen. Es scheint da entschieden bergab ge¬ gangen zu sein, während man vom Durchschnitt der städtischen Arbeiterschaft das Gegenteil sagen muß. Von der geschlechtlichen Sittlichkeit ganz zu ge¬ schweige»; was man von der Roheit und Gewaltthätigkeit gegen Mensch und Tier, von der Trunksucht, von dem Hof-, Feld-, Wald- und jedem andern Diebstahl auf den Rittergütern im Osten zu hören bekommt, beweist ganz gewiß keine Hebung, sondern fortschreitenden Verfall der guten Sitte. Wenn wir das an der landwirtschaftlichen Bevölkerung erleben, so ist das ganz be¬ sonders traurig, und ein ganz besonders schwerer Vorwurf für die Landherren, für die Lnndgeistlichkeit und für die Negierungsleute. So läßt man deu „Jungbrunnen" der Nation versumpfen und verfallen, von dem man sonst nicht Rühmens genng machen kann, wenn den Grundbesitzern dadurch Vorteile erstritten werden sollen. Wahrhaftig, so viel mal größer der ländliche Boden in Preußen ist als der städtische, so viel wichtiger und dringender ist heute, die Sozialreform auf dem Lande als in der Stadt. Nicht am Können liegts, sondern am Wollen, Wenns länger so fortgeht. Schlendrian und Trägheit verbinden sich mit mißverstandnem Klasseninteresse und leider vor allem mit dem alten ostelbisch-baltischen Hochmut, der viel länger als irgendwo im Reich neun Zehntel des Volks als Parias geistig und sittlich niederhalten zu dürfen glaubt, damit das eine Zehntel, das Gott zum Herrschen bestimmt habe, der Knechte Kraft ungestört genieße. Das gilt vielen heute noch für echt aristo¬ kratisch, wohl sogar für echt christlich. Man wird vielleicht tadeln, daß in dein, was hier gesagt ist, die subjek¬ tiven Anschauungen eine zu große Rolle spielten. Aber das macht erstens das Gesagte noch lange nicht falsch, und zweitens: wo ist die Quelle, aus der man objektive Wissenschaft schöpfen kann? Was darüber geschrieben worden ist seit dreißig Jahren, habe ich gelesen. Wie sehr spielt dabei nicht auch die sub¬ jektive Anschauung die Hauptrolle, wie oft nicht gar Partei und noch un¬ rühmlicheres Interesse. Und wie scharf stehn sich die Meinungen der Schrift¬ gelehrten gegenüber. Dn bleibt einem nichts andres übrig als: „Buch zu, und sag, was und wie dus weißt, nach allein, was du gehört und gesehen und auch gelesen hast!" Will die Regierung über deu Stand der Sache eine Enquete machen mit sehr viel Statistik, nun nur so besser. Nur gründlich, zuverlässig und ehrlich muß sie gemacht werden. Aber eine solche wirklich gründliche, zu¬ verlässige und ehrliche Enquete und Statistik über diese Dinge, die allein Zweck und Sinn Hütte, ist hente in Ostelbien noch Utopie. Da muß erst die Not zum äußersten gekommen sein. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/564>, abgerufen am 22.07.2024.