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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Denn wiederum war die Freiheit der Wahl und des Entschlusses beschränkt.
Der Krieg hatte ja den großen Erfolg gebracht, daß die lmndesmäßige Einigung
Norddeutschlands eine Frage der innern Politik geworden war, aber sie drängte;
die weitere, theoretisch unlösbare nach dem besten Wahlrecht dürfte nicht damit
vermischt werden. "Wir haben einfach genommen, was vorlag, und wovon
wir glaubten, daß es am leichtesten annehmbar sein würde. ..." "Das all-
gemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der Entwicklung der
deutschen Einheitsbestrebungen überkommen. ..." "Was wollen denn die
Herren . . . und zwar mit der Beschleunigung, deren wir bedürfen, an dessen
Stelle setzen?" ". . . im ganzen giebt jedes Wahlgesetz unter denselben äußern
Umständen und Einflüssen ziemlich gleiche Resultate." ". - - und ich kann
nur sagen: ich keime wenigstens kein besseres Wahlrecht." So drückte Fürst
Vismarck die treibenden Erwägungen aus. Sie waren rein praktischer Natur,
wogen aber so schwer, daß er die geheime Abstimmung, die erst durch den
Friesschen Antrag in die Verfassung kam, mit in den Kauf nahm und sich sogar
dazu verstand, daß dem vorgelegten Entwurf zuwider die Beamten wählbar
sein sollten. Erst bei der Diütenfrage fand die Nachgiebigkeit eine Grenze, in
dieser blieb er fest, und diese Beschränkung des passiven Wahlrechts wurde das
"Korrektiv" des schrankenlosen aktiven Verfassungssatzes. Als solchem und als
untrennbaren Bestandteil des ganzen Kompromisses hat es Fürst Bismarck bis
zuletzt angesehen, daß die Reichstagsabgeordneten keine Tagegelder oder sonstigen
Entschädigungen für ihre Auslagen beziehn dürften.

Mau kann Wege" der Diäten und in der ganzen Wahlfrage andrer
Meinung sein als Fürst Bismarck, was die Vergangenheit anbelangt sowohl
als auch für das eigne zukünftige Verhalten, und wer es ist, darf sicherlich
auch hierin eine Änderung der Reichsverfassung so gut wie auf jedem andern
Gebiet erstreben. Aber er muß sich, falls er darauf Wert legt, für einen
Anhänger der Bismarckischeu Tradition im ganzen zu gelten, klar macheu,
daß er dann die Wege des Meisters in einer Kardinalfrage verläßt. Und wer
die Bismarckische Autorität gar nicht gelten läßt, wird doch zugeben müssen,
daß der betreffende Bestand der Reichsverfassung ein zusammenhängendes Ganze
ist und ans einem Kompromiß beruht. Wer die Schranke der Diätenlosigkeit
anficht, macht auch denen das Feld frei, die die Schrankenlosigkeit des aktiven
Wahlrechts bisher mir darum ertragen haben, weil sie sich an den Kompromiß
hielten und sozusagen eins ius andre rechneten. Und den Gegnern des all-
gemeinen Wahlrechts lösen auch die die Hände, die, wie jetzt mannigfaltig ge
schickst, aus seiner reichsverfassuugsmäßigeu Anerkennung einen Grund ableiten,
es ans die Einzelstaaten auszudehnen. Sie schmuggeln dergestalt aus der
kvmpromißmäßigen Anerkennung ein Vorbild heraus und reizen die Anders¬
denkenden dazu, diese Basis als Stein deS Anstoßes ganz zu beseitigen.

Die Sache ist in der That in Fluß geraten, und wie man es gern ans '
drückt, die Frage ist aufgerollt, der Tagesstreit ist entbrannt. Am rührigsten
ist der ans den Ultramonwneu, den roten Liberalen und den Sozialdemokratin


Denn wiederum war die Freiheit der Wahl und des Entschlusses beschränkt.
Der Krieg hatte ja den großen Erfolg gebracht, daß die lmndesmäßige Einigung
Norddeutschlands eine Frage der innern Politik geworden war, aber sie drängte;
die weitere, theoretisch unlösbare nach dem besten Wahlrecht dürfte nicht damit
vermischt werden. „Wir haben einfach genommen, was vorlag, und wovon
wir glaubten, daß es am leichtesten annehmbar sein würde. ..." „Das all-
gemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der Entwicklung der
deutschen Einheitsbestrebungen überkommen. ..." „Was wollen denn die
Herren . . . und zwar mit der Beschleunigung, deren wir bedürfen, an dessen
Stelle setzen?" „. . . im ganzen giebt jedes Wahlgesetz unter denselben äußern
Umständen und Einflüssen ziemlich gleiche Resultate." „. - - und ich kann
nur sagen: ich keime wenigstens kein besseres Wahlrecht." So drückte Fürst
Vismarck die treibenden Erwägungen aus. Sie waren rein praktischer Natur,
wogen aber so schwer, daß er die geheime Abstimmung, die erst durch den
Friesschen Antrag in die Verfassung kam, mit in den Kauf nahm und sich sogar
dazu verstand, daß dem vorgelegten Entwurf zuwider die Beamten wählbar
sein sollten. Erst bei der Diütenfrage fand die Nachgiebigkeit eine Grenze, in
dieser blieb er fest, und diese Beschränkung des passiven Wahlrechts wurde das
„Korrektiv" des schrankenlosen aktiven Verfassungssatzes. Als solchem und als
untrennbaren Bestandteil des ganzen Kompromisses hat es Fürst Bismarck bis
zuletzt angesehen, daß die Reichstagsabgeordneten keine Tagegelder oder sonstigen
Entschädigungen für ihre Auslagen beziehn dürften.

Mau kann Wege» der Diäten und in der ganzen Wahlfrage andrer
Meinung sein als Fürst Bismarck, was die Vergangenheit anbelangt sowohl
als auch für das eigne zukünftige Verhalten, und wer es ist, darf sicherlich
auch hierin eine Änderung der Reichsverfassung so gut wie auf jedem andern
Gebiet erstreben. Aber er muß sich, falls er darauf Wert legt, für einen
Anhänger der Bismarckischeu Tradition im ganzen zu gelten, klar macheu,
daß er dann die Wege des Meisters in einer Kardinalfrage verläßt. Und wer
die Bismarckische Autorität gar nicht gelten läßt, wird doch zugeben müssen,
daß der betreffende Bestand der Reichsverfassung ein zusammenhängendes Ganze
ist und ans einem Kompromiß beruht. Wer die Schranke der Diätenlosigkeit
anficht, macht auch denen das Feld frei, die die Schrankenlosigkeit des aktiven
Wahlrechts bisher mir darum ertragen haben, weil sie sich an den Kompromiß
hielten und sozusagen eins ius andre rechneten. Und den Gegnern des all-
gemeinen Wahlrechts lösen auch die die Hände, die, wie jetzt mannigfaltig ge
schickst, aus seiner reichsverfassuugsmäßigeu Anerkennung einen Grund ableiten,
es ans die Einzelstaaten auszudehnen. Sie schmuggeln dergestalt aus der
kvmpromißmäßigen Anerkennung ein Vorbild heraus und reizen die Anders¬
denkenden dazu, diese Basis als Stein deS Anstoßes ganz zu beseitigen.

Die Sache ist in der That in Fluß geraten, und wie man es gern ans '
drückt, die Frage ist aufgerollt, der Tagesstreit ist entbrannt. Am rührigsten
ist der ans den Ultramonwneu, den roten Liberalen und den Sozialdemokratin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/538>, abgerufen am 01.07.2024.