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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Der Vater der Memoirenlitteratur

spielt denn auch die Insel eine gewisse Rolle, sie war ja auch die Heimat der
Homeriden und in späterer Zeit die des Geschichtschreibers Theopomp und des
Philosophen Ariston,

Das Leben Ions fällt in die Zeit des Freiheitskampfs der Griechen gegen
die Perser und in die darauf folgende Periode, also in eine Zeit, in der die
Politische und die künstlerische Entwicklung Griechenlands, insbesondre Athens,
ihre höchste Stufe erreichten. Sein Geburtsjahr läßt sich freilich uur an¬
nähernd bestimmen, es muß zwischen 495 und 490 fallen; denn 476 finden
wir J"n als einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling in Athen,
wo er im Hanse des Kimon freundschaftlich verkehrte. Dieser Führer der
athenischen Aristokratie, der damals nach Bezwingung des verräterischen Spar¬
tanerkönigs Pausanias und "ach der Eroberung von Byzanz und Schlof (470)
an der Spitze des athenischen Staats stand, nahm sich des jungen reichbegabten
Joniers, der selbst ans einer angesehenen Familie stammte, freundlich an,
wofür ihm der Dichter den Dank nicht schuldig blieb; denu er gedenkt seiner
den "Epidemien" wiederholt mit offenbarer Zuneigung. Durch den be¬
freundeten Feldherrn wird Ion wahrscheinlich auch mit Themistokles, Aristides,
sowie mit den litterarischen Großen Athens bekannt geworden sein. Bezeugt
ist freilich aus dieser Zeit nur die Bekanntschaft mit Äschylos, und zwar durch
Jon selbst in einer von Plutarch erhaltnen Anekdote aus den Epidemien. Bei
den isthmischen Spielen, so lautet diese, sahen einst beide Dichter den Faust¬
kämpfern zu, und als nun einer von diesen schwer getroffen wurde, schrie das
versammelte Volk laut auf. Da stieß Äschhlos den Ion an und sagte zu ihm:
"Da siehst du nun, ums Übung vermag; der Geschlagne schweigt, die Zuschauer
aber schreien." Vielleicht wurde Ion durch die Verehrung für Äschylos, den
Altmeister der tragischen Kunst, veranlaßt, zu dessen Lebzeiten (er starb 456)
uoch nicht mit eignen tragischen Schöpfungen aufzutreten. Dem Perikles ist
Ion weder während seines ersten Aufenthalts in Athen noch später näher ge¬
treten; die etwas förmliche und zurückhaltende Art des großen Staatsmanns,
die von dem umgänglichen und liebenswürdigen Wesen des Kimon sehr abstach,
und dabei die demokratische Richtung seiner Politik werden einer Annäherung
eben nicht förderlich gewesen sein.

Wie lange der erste Aufenthalt Ions in Athen dauerte, ist nicht über¬
liefert worden, doch wird er sich gewiß auf mehrere Jahre erstreckt haben.
Die Annahme freilich, die von einigen Forschern vertreten wird,") daß der
Dichter in Athen seinen bleibenden Wohnsitz aufgeschlagen habe, kann nicht
bewiesen werden. Vielmehr ist es an sich wahrscheinlich, und auch der Titel
"Wanderungen" für seine Erinnerungen weist darauf hin, daß Ion später
seinen stündigen Wohnsitz auf Chios hatte, daß er aber von hier aus wieder¬
holt und zwar jedesmal auf längere Zeit Athen, den Mittelpunkt grie¬
chischer Kunst und Bildung, besuchte. Verbürgt ist sein Aufenthalt in Athen



Z. V. von Berge in der griechischen Litteraturgeschichte Band III, Seite 604.
Der Vater der Memoirenlitteratur

spielt denn auch die Insel eine gewisse Rolle, sie war ja auch die Heimat der
Homeriden und in späterer Zeit die des Geschichtschreibers Theopomp und des
Philosophen Ariston,

Das Leben Ions fällt in die Zeit des Freiheitskampfs der Griechen gegen
die Perser und in die darauf folgende Periode, also in eine Zeit, in der die
Politische und die künstlerische Entwicklung Griechenlands, insbesondre Athens,
ihre höchste Stufe erreichten. Sein Geburtsjahr läßt sich freilich uur an¬
nähernd bestimmen, es muß zwischen 495 und 490 fallen; denn 476 finden
wir J»n als einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling in Athen,
wo er im Hanse des Kimon freundschaftlich verkehrte. Dieser Führer der
athenischen Aristokratie, der damals nach Bezwingung des verräterischen Spar¬
tanerkönigs Pausanias und »ach der Eroberung von Byzanz und Schlof (470)
an der Spitze des athenischen Staats stand, nahm sich des jungen reichbegabten
Joniers, der selbst ans einer angesehenen Familie stammte, freundlich an,
wofür ihm der Dichter den Dank nicht schuldig blieb; denu er gedenkt seiner
den „Epidemien" wiederholt mit offenbarer Zuneigung. Durch den be¬
freundeten Feldherrn wird Ion wahrscheinlich auch mit Themistokles, Aristides,
sowie mit den litterarischen Großen Athens bekannt geworden sein. Bezeugt
ist freilich aus dieser Zeit nur die Bekanntschaft mit Äschylos, und zwar durch
Jon selbst in einer von Plutarch erhaltnen Anekdote aus den Epidemien. Bei
den isthmischen Spielen, so lautet diese, sahen einst beide Dichter den Faust¬
kämpfern zu, und als nun einer von diesen schwer getroffen wurde, schrie das
versammelte Volk laut auf. Da stieß Äschhlos den Ion an und sagte zu ihm:
„Da siehst du nun, ums Übung vermag; der Geschlagne schweigt, die Zuschauer
aber schreien." Vielleicht wurde Ion durch die Verehrung für Äschylos, den
Altmeister der tragischen Kunst, veranlaßt, zu dessen Lebzeiten (er starb 456)
uoch nicht mit eignen tragischen Schöpfungen aufzutreten. Dem Perikles ist
Ion weder während seines ersten Aufenthalts in Athen noch später näher ge¬
treten; die etwas förmliche und zurückhaltende Art des großen Staatsmanns,
die von dem umgänglichen und liebenswürdigen Wesen des Kimon sehr abstach,
und dabei die demokratische Richtung seiner Politik werden einer Annäherung
eben nicht förderlich gewesen sein.

Wie lange der erste Aufenthalt Ions in Athen dauerte, ist nicht über¬
liefert worden, doch wird er sich gewiß auf mehrere Jahre erstreckt haben.
Die Annahme freilich, die von einigen Forschern vertreten wird,") daß der
Dichter in Athen seinen bleibenden Wohnsitz aufgeschlagen habe, kann nicht
bewiesen werden. Vielmehr ist es an sich wahrscheinlich, und auch der Titel
„Wanderungen" für seine Erinnerungen weist darauf hin, daß Ion später
seinen stündigen Wohnsitz auf Chios hatte, daß er aber von hier aus wieder¬
holt und zwar jedesmal auf längere Zeit Athen, den Mittelpunkt grie¬
chischer Kunst und Bildung, besuchte. Verbürgt ist sein Aufenthalt in Athen



Z. V. von Berge in der griechischen Litteraturgeschichte Band III, Seite 604.
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[0511] Der Vater der Memoirenlitteratur spielt denn auch die Insel eine gewisse Rolle, sie war ja auch die Heimat der Homeriden und in späterer Zeit die des Geschichtschreibers Theopomp und des Philosophen Ariston, Das Leben Ions fällt in die Zeit des Freiheitskampfs der Griechen gegen die Perser und in die darauf folgende Periode, also in eine Zeit, in der die Politische und die künstlerische Entwicklung Griechenlands, insbesondre Athens, ihre höchste Stufe erreichten. Sein Geburtsjahr läßt sich freilich uur an¬ nähernd bestimmen, es muß zwischen 495 und 490 fallen; denn 476 finden wir J»n als einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling in Athen, wo er im Hanse des Kimon freundschaftlich verkehrte. Dieser Führer der athenischen Aristokratie, der damals nach Bezwingung des verräterischen Spar¬ tanerkönigs Pausanias und »ach der Eroberung von Byzanz und Schlof (470) an der Spitze des athenischen Staats stand, nahm sich des jungen reichbegabten Joniers, der selbst ans einer angesehenen Familie stammte, freundlich an, wofür ihm der Dichter den Dank nicht schuldig blieb; denu er gedenkt seiner den „Epidemien" wiederholt mit offenbarer Zuneigung. Durch den be¬ freundeten Feldherrn wird Ion wahrscheinlich auch mit Themistokles, Aristides, sowie mit den litterarischen Großen Athens bekannt geworden sein. Bezeugt ist freilich aus dieser Zeit nur die Bekanntschaft mit Äschylos, und zwar durch Jon selbst in einer von Plutarch erhaltnen Anekdote aus den Epidemien. Bei den isthmischen Spielen, so lautet diese, sahen einst beide Dichter den Faust¬ kämpfern zu, und als nun einer von diesen schwer getroffen wurde, schrie das versammelte Volk laut auf. Da stieß Äschhlos den Ion an und sagte zu ihm: „Da siehst du nun, ums Übung vermag; der Geschlagne schweigt, die Zuschauer aber schreien." Vielleicht wurde Ion durch die Verehrung für Äschylos, den Altmeister der tragischen Kunst, veranlaßt, zu dessen Lebzeiten (er starb 456) uoch nicht mit eignen tragischen Schöpfungen aufzutreten. Dem Perikles ist Ion weder während seines ersten Aufenthalts in Athen noch später näher ge¬ treten; die etwas förmliche und zurückhaltende Art des großen Staatsmanns, die von dem umgänglichen und liebenswürdigen Wesen des Kimon sehr abstach, und dabei die demokratische Richtung seiner Politik werden einer Annäherung eben nicht förderlich gewesen sein. Wie lange der erste Aufenthalt Ions in Athen dauerte, ist nicht über¬ liefert worden, doch wird er sich gewiß auf mehrere Jahre erstreckt haben. Die Annahme freilich, die von einigen Forschern vertreten wird,") daß der Dichter in Athen seinen bleibenden Wohnsitz aufgeschlagen habe, kann nicht bewiesen werden. Vielmehr ist es an sich wahrscheinlich, und auch der Titel „Wanderungen" für seine Erinnerungen weist darauf hin, daß Ion später seinen stündigen Wohnsitz auf Chios hatte, daß er aber von hier aus wieder¬ holt und zwar jedesmal auf längere Zeit Athen, den Mittelpunkt grie¬ chischer Kunst und Bildung, besuchte. Verbürgt ist sein Aufenthalt in Athen Z. V. von Berge in der griechischen Litteraturgeschichte Band III, Seite 604.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/511>, abgerufen am 22.07.2024.