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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung der Schöffengerichte

einer gewissen Gleichförmigkeit und Verdrossenheit, und es kommt sicher nur
sehr selteu vor, daß sich solche, die für die Geschäftsverteiluug den Vortritt
haben, die Lnudgerichtspräsideiiteu z. B., den Vorsitz in einer Strafkammer
aussuchen. Für die ganze Anschauung ist es charakteristisch, weshalb ichs er¬
wähne, daß ein Richter, der für einen sehr tüchtigen Juristen galt und zugleich
eine Vorliebe für Strafsachen hatte, der kriminalistische Wollüstling genannt
wurde.

Die Sache ist alt und allgemein anerkannt; es wird auch in unsern
Kreisen gar kein Geheimnis daraus gemacht, obgleich mir vielleicht nicht wenig
Berufsgenossen den Vorwurf macheu werden, aus der Schule geplaudert zu
haben. Von den Nichtjuristeu wird die Sache mehr gefühlt als klar erkannt.
Das Gefühl ist jedoch sehr stark. Und weil unklar, verwandelt es sich leicht
in einen moralischen Vorwurf gegen uns, was mich schlimmer dünkt, als die
Folgen offnen Eingestehens. Denn die Nichtjuristeu sind die große Mehrheit,
das Volk, und dieses hier nicht im Sinne von xrolÄnuin vulgus, sondern in
dem des xopulus, dessen Meinung uns nicht gleichgiltig sein darf. Für mich
ist es zweifellos, daß dieses Gefühl die Hauptursnche ist, weshalb noch jetzt
die Geschwornengerichte von so vielen Wohldenkenden überschätzt werden; die
Gründe, die kalte werden, sind ja sehr fadenscheinig, aber die meisten Menschen
urteilen mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstände, in politischen Dingen zumal.
Dieses Gefühl ist auch ein Glied in der Kette von Umständen, wegen deren
man uns nicht liebt, obgleich wir unentbehrlich sind, obgleich wir die "Macher"
sind lind bleiben werden. Also lieber volle Offenheit! Und an und für sich
ist es gar nicht gerechtfertigt, uns einen Vorwurf zu machen, denn eine Er¬
scheinung, die erfahrungsmäßig überall und im Wechsel der Zeiten immer
wiederkehrt, hat andre als moralische Ursachen. Oder ist etwa der Assessor,
der seine erste Strnfsitzling als Richter mit Feuereifer mitmacht, moralischer
als der ergraute Lnndgerichtsdirektor, der darin als gewohntes Tagespeusum
den Vorsitz führt?

Nicht auf sittlich höherer Stufe steht der Assessor, aber er ist frischer.
Und so ist es auch seine Leistung: sie hat noch nichts voll den schlechten
Seiten des Gewohnheitsmäßigen. Wenn er noch nicht alle Schliche geriebner
Angeklagter oder die Finten mancher Verteidiger so klar durchschaut, so ist er
für individuelle Eindrücke und für warmen Herzenston empfänglicher. Wenn
es ihm eher passiert, einen Gesctzesparngraphen zu übersehen oder den un¬
richtigen anzuwenden, so hat er sich noch keinen Jntcrpretationskodex gebildet,
der einer sich ewig fortschleppenden Krankheit sehr ähnlich sehen mag. Wenn
er geneigter sein wird, dem einen oder dem andern Zeugen zu viel zu glauben,
so hat er sich noch keine Kategorien von Zeugen gebildet, denen er gar nichts
mehr glaubt. Er denkt ja wie wir Menschen alle nach Kategorien, aber die
eine: "Alles schon dagewesen," wirkt für ihn als Strafrichter noch nicht mit.
Er führt sie Wohl im Munde, öfter vielleicht als der alte Richter, aber das
ist eine Art von Renommage, Kopf und Herz wissen nichts davon und könnens


Ausdehnung der Schöffengerichte

einer gewissen Gleichförmigkeit und Verdrossenheit, und es kommt sicher nur
sehr selteu vor, daß sich solche, die für die Geschäftsverteiluug den Vortritt
haben, die Lnudgerichtspräsideiiteu z. B., den Vorsitz in einer Strafkammer
aussuchen. Für die ganze Anschauung ist es charakteristisch, weshalb ichs er¬
wähne, daß ein Richter, der für einen sehr tüchtigen Juristen galt und zugleich
eine Vorliebe für Strafsachen hatte, der kriminalistische Wollüstling genannt
wurde.

Die Sache ist alt und allgemein anerkannt; es wird auch in unsern
Kreisen gar kein Geheimnis daraus gemacht, obgleich mir vielleicht nicht wenig
Berufsgenossen den Vorwurf macheu werden, aus der Schule geplaudert zu
haben. Von den Nichtjuristeu wird die Sache mehr gefühlt als klar erkannt.
Das Gefühl ist jedoch sehr stark. Und weil unklar, verwandelt es sich leicht
in einen moralischen Vorwurf gegen uns, was mich schlimmer dünkt, als die
Folgen offnen Eingestehens. Denn die Nichtjuristeu sind die große Mehrheit,
das Volk, und dieses hier nicht im Sinne von xrolÄnuin vulgus, sondern in
dem des xopulus, dessen Meinung uns nicht gleichgiltig sein darf. Für mich
ist es zweifellos, daß dieses Gefühl die Hauptursnche ist, weshalb noch jetzt
die Geschwornengerichte von so vielen Wohldenkenden überschätzt werden; die
Gründe, die kalte werden, sind ja sehr fadenscheinig, aber die meisten Menschen
urteilen mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstände, in politischen Dingen zumal.
Dieses Gefühl ist auch ein Glied in der Kette von Umständen, wegen deren
man uns nicht liebt, obgleich wir unentbehrlich sind, obgleich wir die „Macher"
sind lind bleiben werden. Also lieber volle Offenheit! Und an und für sich
ist es gar nicht gerechtfertigt, uns einen Vorwurf zu machen, denn eine Er¬
scheinung, die erfahrungsmäßig überall und im Wechsel der Zeiten immer
wiederkehrt, hat andre als moralische Ursachen. Oder ist etwa der Assessor,
der seine erste Strnfsitzling als Richter mit Feuereifer mitmacht, moralischer
als der ergraute Lnndgerichtsdirektor, der darin als gewohntes Tagespeusum
den Vorsitz führt?

Nicht auf sittlich höherer Stufe steht der Assessor, aber er ist frischer.
Und so ist es auch seine Leistung: sie hat noch nichts voll den schlechten
Seiten des Gewohnheitsmäßigen. Wenn er noch nicht alle Schliche geriebner
Angeklagter oder die Finten mancher Verteidiger so klar durchschaut, so ist er
für individuelle Eindrücke und für warmen Herzenston empfänglicher. Wenn
es ihm eher passiert, einen Gesctzesparngraphen zu übersehen oder den un¬
richtigen anzuwenden, so hat er sich noch keinen Jntcrpretationskodex gebildet,
der einer sich ewig fortschleppenden Krankheit sehr ähnlich sehen mag. Wenn
er geneigter sein wird, dem einen oder dem andern Zeugen zu viel zu glauben,
so hat er sich noch keine Kategorien von Zeugen gebildet, denen er gar nichts
mehr glaubt. Er denkt ja wie wir Menschen alle nach Kategorien, aber die
eine: „Alles schon dagewesen," wirkt für ihn als Strafrichter noch nicht mit.
Er führt sie Wohl im Munde, öfter vielleicht als der alte Richter, aber das
ist eine Art von Renommage, Kopf und Herz wissen nichts davon und könnens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/406>, abgerufen am 22.07.2024.