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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung der Schöffengerichte

Wisse,? Siegesstolze geschah, der mir noch vor Augen steht. Jeder hat von
der Schreckenszeit gehört, aber weniger bekannt ist, daß das Revolutions-
tribunal, das in zwei Jahren 2700 Menschen der Guillotine überlieferte, ein
Geschwornengericht war; es bestand, wie noch jetzt die französischen Assisen,
aus fünf Richtern nud zwölf Geschwornen. Wie herrlich hat sich da die
Neigung bewährt, lieber tausend Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen
zu verurteilen! Wie herrlich auch der gesunde Menschenverstand und die Un¬
befangenheit, die nicht so allgemein, aber doch noch oft genug den Geschwornen
im Gegensatz zu den Juristen nachgerühmt werden! Das ist doch reine Phrase.
Kann man es den Juristen verübeln, daß sie dergleichen mit der bekannten
Erwiderung abfertigen, dieser gesunde Menschenverstand und diese Unbefangen¬
heit seien durch keinerlei Sachkenntnis getrübt?

Es ist nicht anders: jeder einzelne Straffall, für sich genommen, kann
keinen bessern Richter finden als den, der seinen Geist daraufhin ausgebildet
und geschärft hat, als den berufsmäßigen Richter. Das ist ebenso selbstver¬
ständlich, wie es natürlich ist, daß der Arzt eher heilt als der Quacksalber,
daß der Lehrer bessere Schulstunden giebt als der Handwerksmeister, und daß
der Pfarrer im Predigen mehr bewandert ist als der Küster. Aber wie der
Arzt, wenn er im Menschenleib nicht den Tempel der unsterblichen Seele sieht,
der Gemütsroheit verfällt, wie aus dein Lehrer ein Pedant wird, wenn er der
Versuchung unterliegt, den Geist des Schülers zu knechten, und wie uns der
Pfarrer, der gemütsarm der Neigung zu Selbstgerechtigkeit und Gesalbe front,
ans der Kirche hinauspredigt, ebenso hat der Richterberuf seine Gefahren und
Versuchungen, die gleich ungünstig wirken können. Von diesen bedenklichen
Einflüssen kommt für unser Thema besonders einer in Betracht: die Macht
der Gewohnheit.

Im Gegensatz zu der Meinung, die sich die Leute aus Kriminaluovellcn
und Gerichtszeituugen bilden, sind die Strafsachen im Durchschnitt sehr wenig
"interessant," sehen sich sehr ähnlich und haben insbesondre für die Übuiig des
juristisch geschulte" Verstands weit geringern Reiz als die Zivilsachen. Man
könnte sagen, ihre intellektuelle Bedeutung stehe im umgekehrten Verhältnis zu
ihrer Wichtigkeit; dem Geiste bieten die Gerichtsfälle, in denen es sich um
Freiheit, Ehre und Gut, unter Umstünden sogar ums Leben handelt, im all¬
gemeinen weniger als die, bei denen es sich bloß um Vermögeusfragen dreht.
Es giebt nur eine kleine Anzahl von Anwälten, die die Strafpraxis noch
Pflegen, wenn sie es zu einer guten Zivilpraxis gebracht haben, und der Spott¬
name "Schlafkammern" für Strafkammer" ist ein Wertmesser für ihre Schätzung
in Nichterkreisen. So liegt denn in der berufsmäßigen Beschäftigung mit Straf¬
sachen etwas, was den Richter zu schablonenhafter Behandlung verführt. Es
ist das sogar bei den Richtern, die den Vorsitz führen, zu beobachten; sie haben
ja viel mehr spontane Thätigkeit zu leisten, haben sie jedoch erst die Führung
des Borsitzes, namentlich das sehr schwierige Befragen der Angeklagten und
der Zeugen, gelernt -- oder glauben sie es --, so verfallen auch sie leicht


Ausdehnung der Schöffengerichte

Wisse,? Siegesstolze geschah, der mir noch vor Augen steht. Jeder hat von
der Schreckenszeit gehört, aber weniger bekannt ist, daß das Revolutions-
tribunal, das in zwei Jahren 2700 Menschen der Guillotine überlieferte, ein
Geschwornengericht war; es bestand, wie noch jetzt die französischen Assisen,
aus fünf Richtern nud zwölf Geschwornen. Wie herrlich hat sich da die
Neigung bewährt, lieber tausend Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen
zu verurteilen! Wie herrlich auch der gesunde Menschenverstand und die Un¬
befangenheit, die nicht so allgemein, aber doch noch oft genug den Geschwornen
im Gegensatz zu den Juristen nachgerühmt werden! Das ist doch reine Phrase.
Kann man es den Juristen verübeln, daß sie dergleichen mit der bekannten
Erwiderung abfertigen, dieser gesunde Menschenverstand und diese Unbefangen¬
heit seien durch keinerlei Sachkenntnis getrübt?

Es ist nicht anders: jeder einzelne Straffall, für sich genommen, kann
keinen bessern Richter finden als den, der seinen Geist daraufhin ausgebildet
und geschärft hat, als den berufsmäßigen Richter. Das ist ebenso selbstver¬
ständlich, wie es natürlich ist, daß der Arzt eher heilt als der Quacksalber,
daß der Lehrer bessere Schulstunden giebt als der Handwerksmeister, und daß
der Pfarrer im Predigen mehr bewandert ist als der Küster. Aber wie der
Arzt, wenn er im Menschenleib nicht den Tempel der unsterblichen Seele sieht,
der Gemütsroheit verfällt, wie aus dein Lehrer ein Pedant wird, wenn er der
Versuchung unterliegt, den Geist des Schülers zu knechten, und wie uns der
Pfarrer, der gemütsarm der Neigung zu Selbstgerechtigkeit und Gesalbe front,
ans der Kirche hinauspredigt, ebenso hat der Richterberuf seine Gefahren und
Versuchungen, die gleich ungünstig wirken können. Von diesen bedenklichen
Einflüssen kommt für unser Thema besonders einer in Betracht: die Macht
der Gewohnheit.

Im Gegensatz zu der Meinung, die sich die Leute aus Kriminaluovellcn
und Gerichtszeituugen bilden, sind die Strafsachen im Durchschnitt sehr wenig
„interessant," sehen sich sehr ähnlich und haben insbesondre für die Übuiig des
juristisch geschulte» Verstands weit geringern Reiz als die Zivilsachen. Man
könnte sagen, ihre intellektuelle Bedeutung stehe im umgekehrten Verhältnis zu
ihrer Wichtigkeit; dem Geiste bieten die Gerichtsfälle, in denen es sich um
Freiheit, Ehre und Gut, unter Umstünden sogar ums Leben handelt, im all¬
gemeinen weniger als die, bei denen es sich bloß um Vermögeusfragen dreht.
Es giebt nur eine kleine Anzahl von Anwälten, die die Strafpraxis noch
Pflegen, wenn sie es zu einer guten Zivilpraxis gebracht haben, und der Spott¬
name „Schlafkammern" für Strafkammer» ist ein Wertmesser für ihre Schätzung
in Nichterkreisen. So liegt denn in der berufsmäßigen Beschäftigung mit Straf¬
sachen etwas, was den Richter zu schablonenhafter Behandlung verführt. Es
ist das sogar bei den Richtern, die den Vorsitz führen, zu beobachten; sie haben
ja viel mehr spontane Thätigkeit zu leisten, haben sie jedoch erst die Führung
des Borsitzes, namentlich das sehr schwierige Befragen der Angeklagten und
der Zeugen, gelernt — oder glauben sie es —, so verfallen auch sie leicht


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[0405] Ausdehnung der Schöffengerichte Wisse,? Siegesstolze geschah, der mir noch vor Augen steht. Jeder hat von der Schreckenszeit gehört, aber weniger bekannt ist, daß das Revolutions- tribunal, das in zwei Jahren 2700 Menschen der Guillotine überlieferte, ein Geschwornengericht war; es bestand, wie noch jetzt die französischen Assisen, aus fünf Richtern nud zwölf Geschwornen. Wie herrlich hat sich da die Neigung bewährt, lieber tausend Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen zu verurteilen! Wie herrlich auch der gesunde Menschenverstand und die Un¬ befangenheit, die nicht so allgemein, aber doch noch oft genug den Geschwornen im Gegensatz zu den Juristen nachgerühmt werden! Das ist doch reine Phrase. Kann man es den Juristen verübeln, daß sie dergleichen mit der bekannten Erwiderung abfertigen, dieser gesunde Menschenverstand und diese Unbefangen¬ heit seien durch keinerlei Sachkenntnis getrübt? Es ist nicht anders: jeder einzelne Straffall, für sich genommen, kann keinen bessern Richter finden als den, der seinen Geist daraufhin ausgebildet und geschärft hat, als den berufsmäßigen Richter. Das ist ebenso selbstver¬ ständlich, wie es natürlich ist, daß der Arzt eher heilt als der Quacksalber, daß der Lehrer bessere Schulstunden giebt als der Handwerksmeister, und daß der Pfarrer im Predigen mehr bewandert ist als der Küster. Aber wie der Arzt, wenn er im Menschenleib nicht den Tempel der unsterblichen Seele sieht, der Gemütsroheit verfällt, wie aus dein Lehrer ein Pedant wird, wenn er der Versuchung unterliegt, den Geist des Schülers zu knechten, und wie uns der Pfarrer, der gemütsarm der Neigung zu Selbstgerechtigkeit und Gesalbe front, ans der Kirche hinauspredigt, ebenso hat der Richterberuf seine Gefahren und Versuchungen, die gleich ungünstig wirken können. Von diesen bedenklichen Einflüssen kommt für unser Thema besonders einer in Betracht: die Macht der Gewohnheit. Im Gegensatz zu der Meinung, die sich die Leute aus Kriminaluovellcn und Gerichtszeituugen bilden, sind die Strafsachen im Durchschnitt sehr wenig „interessant," sehen sich sehr ähnlich und haben insbesondre für die Übuiig des juristisch geschulte» Verstands weit geringern Reiz als die Zivilsachen. Man könnte sagen, ihre intellektuelle Bedeutung stehe im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wichtigkeit; dem Geiste bieten die Gerichtsfälle, in denen es sich um Freiheit, Ehre und Gut, unter Umstünden sogar ums Leben handelt, im all¬ gemeinen weniger als die, bei denen es sich bloß um Vermögeusfragen dreht. Es giebt nur eine kleine Anzahl von Anwälten, die die Strafpraxis noch Pflegen, wenn sie es zu einer guten Zivilpraxis gebracht haben, und der Spott¬ name „Schlafkammern" für Strafkammer» ist ein Wertmesser für ihre Schätzung in Nichterkreisen. So liegt denn in der berufsmäßigen Beschäftigung mit Straf¬ sachen etwas, was den Richter zu schablonenhafter Behandlung verführt. Es ist das sogar bei den Richtern, die den Vorsitz führen, zu beobachten; sie haben ja viel mehr spontane Thätigkeit zu leisten, haben sie jedoch erst die Führung des Borsitzes, namentlich das sehr schwierige Befragen der Angeklagten und der Zeugen, gelernt — oder glauben sie es —, so verfallen auch sie leicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/405>, abgerufen am 03.07.2024.