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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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volksbibliotheken und Lesehallen

Männer angestellt werden. Der Bibliothekar hat die individuellen Wünsche
und Neigungen der Leser zu prüfen, ihnen entweder entgegenzukommen oder
sie auf andre Gebiete hinüberzuleiten; er hat zur Anschaffung die Bücher vorzu¬
schlagen, die für die sozialen Verhältnisse des Orts am besten passen; er be¬
darf also einer gründlichen Kenntnis der Litteratur und des praktischen Lebens.
Nur unter der Leitung solcher Männer werden die Bibliotheken geistige Rüst¬
kammern für das Volk." Auf dem Dorfe, führt Schultze fort, sei freilich der
Lehrer der geborne Bibliothekar. In größern Städten aber müsse man aka¬
demisch gebildete und womöglich für das Bibliothekfach vorgebildete Männer
anstellen. Dieses Fach sei heute schon eine umfangreiche Wissenschaft, die man
sich nicht nebenbei aneignen könne. In Amerika, wo die Berufstände nicht
scharf geschieden sind wie bei uns, wo man heute Seifensieder, morgen Pre¬
diger und übermorgen Arzt sein kann, und von Berechtigungen wenig weiß,
werde gerade für die Bibliothekverwaltung eine besondre Vorbildung verlangt,
und in die leitenden Stellungen würden nur Fachleute berufen.

Sehr lebhaft polemisiert Schultze gegen alle Bevormundungsversuche. Das
widerspricht eigentlich seiner Zeichnung des idealen Bibliothekars, der ja die
unerfahrnen und namentlich die jungen Leser zum besten hinleiten soll. Aber
er meint eben nur eine bestimmte Bevormundung: die zu dem Zweck, kirchliche
und politisch konservative Gesinnung zu züchten. Allerdings verwirft er auch
die entgegengesetzte Tendenz, und er führt zwei Fälle an zum Beweise dafür,
daß jede politische Tendenz nicht mir ihr eigentliches Ziel verfehle, sondern
bei dem heutigen mißtrauischen Unabhängigkeitssinn der Arbeiter das ganze
Unternehmen gefährde. Als der dänische Adel versucht habe, zwei der treff¬
lichen Volkshochschulen, die die ländliche Bevölkerung des kleinen Staats auf
eine Bildungsstufe gehoben haben, die der der siebenbürgischen Sachsen nahe
kommt, in den Dienst seiner Partei zu ziehn, da seien sie sofort verödet. Ganz
ebenso sei es aber auch der sozialdemokrntischen Arbeiterbildungsschule in Berlin
ergangen; anfangs habe sie starken Zulauf gehabt; aber als die Arbeiter
merkten, daß ihnen hier nicht objektive Wissenschaft, sondern für den Partei¬
zweck präpariertes Wissen dargeboten werde, seien sie weggeblieben. Sollte
das wirklich der Grund gewesen sein? Das wäre ja sehr erfreulich; es könnte
aber auch sein, daß die Berliner Arbeiter überhaupt keine Lust hätten, sich
nach des Tages Last und Hitze uoch mit Wissenschaft zu plagen, sondern die
Kneipe und den Tingeltangel vorzögen. Schnitze will also, daß man bei der
Auswahl von Büchern und Zeitungen ganz allein den litterarischen Wert ent¬
scheiden lasse, wobei allerdings zwei verschiedne Maßstäbe anzutuenden seien,
da der litterarische Wert der Zeitungen im allgemeinen sehr gering sei. Fehlen,
meint er, dürfen sie nicht, weil sie zuerst den Appetit zum Lesen wecken, aber
Parteirücksichten dürfen bei ihrer Auswahl nicht entscheiden. Im Gegenteil
wirken gut ausgestattete Lesehallen gerade dadurch heilsam, daß sie Blätter
aller Richtungen darbieten. "Wohin sollen wir kommen, wenn keine Partei
mehr die Gründe der andern hören null? Und wer hat Lust und Geld, mehr


volksbibliotheken und Lesehallen

Männer angestellt werden. Der Bibliothekar hat die individuellen Wünsche
und Neigungen der Leser zu prüfen, ihnen entweder entgegenzukommen oder
sie auf andre Gebiete hinüberzuleiten; er hat zur Anschaffung die Bücher vorzu¬
schlagen, die für die sozialen Verhältnisse des Orts am besten passen; er be¬
darf also einer gründlichen Kenntnis der Litteratur und des praktischen Lebens.
Nur unter der Leitung solcher Männer werden die Bibliotheken geistige Rüst¬
kammern für das Volk." Auf dem Dorfe, führt Schultze fort, sei freilich der
Lehrer der geborne Bibliothekar. In größern Städten aber müsse man aka¬
demisch gebildete und womöglich für das Bibliothekfach vorgebildete Männer
anstellen. Dieses Fach sei heute schon eine umfangreiche Wissenschaft, die man
sich nicht nebenbei aneignen könne. In Amerika, wo die Berufstände nicht
scharf geschieden sind wie bei uns, wo man heute Seifensieder, morgen Pre¬
diger und übermorgen Arzt sein kann, und von Berechtigungen wenig weiß,
werde gerade für die Bibliothekverwaltung eine besondre Vorbildung verlangt,
und in die leitenden Stellungen würden nur Fachleute berufen.

Sehr lebhaft polemisiert Schultze gegen alle Bevormundungsversuche. Das
widerspricht eigentlich seiner Zeichnung des idealen Bibliothekars, der ja die
unerfahrnen und namentlich die jungen Leser zum besten hinleiten soll. Aber
er meint eben nur eine bestimmte Bevormundung: die zu dem Zweck, kirchliche
und politisch konservative Gesinnung zu züchten. Allerdings verwirft er auch
die entgegengesetzte Tendenz, und er führt zwei Fälle an zum Beweise dafür,
daß jede politische Tendenz nicht mir ihr eigentliches Ziel verfehle, sondern
bei dem heutigen mißtrauischen Unabhängigkeitssinn der Arbeiter das ganze
Unternehmen gefährde. Als der dänische Adel versucht habe, zwei der treff¬
lichen Volkshochschulen, die die ländliche Bevölkerung des kleinen Staats auf
eine Bildungsstufe gehoben haben, die der der siebenbürgischen Sachsen nahe
kommt, in den Dienst seiner Partei zu ziehn, da seien sie sofort verödet. Ganz
ebenso sei es aber auch der sozialdemokrntischen Arbeiterbildungsschule in Berlin
ergangen; anfangs habe sie starken Zulauf gehabt; aber als die Arbeiter
merkten, daß ihnen hier nicht objektive Wissenschaft, sondern für den Partei¬
zweck präpariertes Wissen dargeboten werde, seien sie weggeblieben. Sollte
das wirklich der Grund gewesen sein? Das wäre ja sehr erfreulich; es könnte
aber auch sein, daß die Berliner Arbeiter überhaupt keine Lust hätten, sich
nach des Tages Last und Hitze uoch mit Wissenschaft zu plagen, sondern die
Kneipe und den Tingeltangel vorzögen. Schnitze will also, daß man bei der
Auswahl von Büchern und Zeitungen ganz allein den litterarischen Wert ent¬
scheiden lasse, wobei allerdings zwei verschiedne Maßstäbe anzutuenden seien,
da der litterarische Wert der Zeitungen im allgemeinen sehr gering sei. Fehlen,
meint er, dürfen sie nicht, weil sie zuerst den Appetit zum Lesen wecken, aber
Parteirücksichten dürfen bei ihrer Auswahl nicht entscheiden. Im Gegenteil
wirken gut ausgestattete Lesehallen gerade dadurch heilsam, daß sie Blätter
aller Richtungen darbieten. „Wohin sollen wir kommen, wenn keine Partei
mehr die Gründe der andern hören null? Und wer hat Lust und Geld, mehr


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[0370] volksbibliotheken und Lesehallen Männer angestellt werden. Der Bibliothekar hat die individuellen Wünsche und Neigungen der Leser zu prüfen, ihnen entweder entgegenzukommen oder sie auf andre Gebiete hinüberzuleiten; er hat zur Anschaffung die Bücher vorzu¬ schlagen, die für die sozialen Verhältnisse des Orts am besten passen; er be¬ darf also einer gründlichen Kenntnis der Litteratur und des praktischen Lebens. Nur unter der Leitung solcher Männer werden die Bibliotheken geistige Rüst¬ kammern für das Volk." Auf dem Dorfe, führt Schultze fort, sei freilich der Lehrer der geborne Bibliothekar. In größern Städten aber müsse man aka¬ demisch gebildete und womöglich für das Bibliothekfach vorgebildete Männer anstellen. Dieses Fach sei heute schon eine umfangreiche Wissenschaft, die man sich nicht nebenbei aneignen könne. In Amerika, wo die Berufstände nicht scharf geschieden sind wie bei uns, wo man heute Seifensieder, morgen Pre¬ diger und übermorgen Arzt sein kann, und von Berechtigungen wenig weiß, werde gerade für die Bibliothekverwaltung eine besondre Vorbildung verlangt, und in die leitenden Stellungen würden nur Fachleute berufen. Sehr lebhaft polemisiert Schultze gegen alle Bevormundungsversuche. Das widerspricht eigentlich seiner Zeichnung des idealen Bibliothekars, der ja die unerfahrnen und namentlich die jungen Leser zum besten hinleiten soll. Aber er meint eben nur eine bestimmte Bevormundung: die zu dem Zweck, kirchliche und politisch konservative Gesinnung zu züchten. Allerdings verwirft er auch die entgegengesetzte Tendenz, und er führt zwei Fälle an zum Beweise dafür, daß jede politische Tendenz nicht mir ihr eigentliches Ziel verfehle, sondern bei dem heutigen mißtrauischen Unabhängigkeitssinn der Arbeiter das ganze Unternehmen gefährde. Als der dänische Adel versucht habe, zwei der treff¬ lichen Volkshochschulen, die die ländliche Bevölkerung des kleinen Staats auf eine Bildungsstufe gehoben haben, die der der siebenbürgischen Sachsen nahe kommt, in den Dienst seiner Partei zu ziehn, da seien sie sofort verödet. Ganz ebenso sei es aber auch der sozialdemokrntischen Arbeiterbildungsschule in Berlin ergangen; anfangs habe sie starken Zulauf gehabt; aber als die Arbeiter merkten, daß ihnen hier nicht objektive Wissenschaft, sondern für den Partei¬ zweck präpariertes Wissen dargeboten werde, seien sie weggeblieben. Sollte das wirklich der Grund gewesen sein? Das wäre ja sehr erfreulich; es könnte aber auch sein, daß die Berliner Arbeiter überhaupt keine Lust hätten, sich nach des Tages Last und Hitze uoch mit Wissenschaft zu plagen, sondern die Kneipe und den Tingeltangel vorzögen. Schnitze will also, daß man bei der Auswahl von Büchern und Zeitungen ganz allein den litterarischen Wert ent¬ scheiden lasse, wobei allerdings zwei verschiedne Maßstäbe anzutuenden seien, da der litterarische Wert der Zeitungen im allgemeinen sehr gering sei. Fehlen, meint er, dürfen sie nicht, weil sie zuerst den Appetit zum Lesen wecken, aber Parteirücksichten dürfen bei ihrer Auswahl nicht entscheiden. Im Gegenteil wirken gut ausgestattete Lesehallen gerade dadurch heilsam, daß sie Blätter aller Richtungen darbieten. „Wohin sollen wir kommen, wenn keine Partei mehr die Gründe der andern hören null? Und wer hat Lust und Geld, mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/370>, abgerufen am 25.08.2024.