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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die römische llaisergeschichte im Lehrxlan des Gymnasiums

Borschlag. Ihm beizutreten hindert mich die Erwägung, daß alsdann der
Geschichtskursus der Prima, der am Schluß wegen des Abiturientenexamens
mit einem nicht etatsmäßigen, aber in der Regel empfindlichen Ausfall zu
rechnen hat, auch noch im Anfang von seinem eigentlichen Pensum eine be¬
trächtliche Zeit -- nach dem Vorschlage von Marcks fünf bis sechs Wochen --
abzugeben hätte. Schon jetzt aber hört man nicht selten klagen, daß sich das
Pensum der Prima nur mit knapper Not bewältigen lasse, und daß der praktisch
so wichtige Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts in Siebenmeilenstiefeln
zurückgelegt werden müsse. Wollte man angesichts dessen jenem Vorschlag
folgen, so geriete man voraussichtlich vom Regen unter die Traufe.

Den Vorschlag Harnacks bekämpft Marcks, indem er ausführt, daß die
Geschichte der römischen Republik eine weitere Verkürzung nicht ertrage, denn
sie sei nicht nur die Voraussetzung für die Kaisergeschichte, sondern enthalte
auch in ungleich höherm Maße als diese das spezifisch Römische, das für den
Unterricht von besonders bildenden und vorbildlichem Werte sei. Diese Gründe
sind stichhaltig; aber nichtsdestoweniger scheint mir Harnacks Gedanke, auf der
Obersekunda die erforderliche Zeit zu ersparen, auf die richtige Spur zu führen.
Wir stoßen hier zum zweitenmal an eine Stelle, wo Erinnerungen an den
alten Lehrplan die Ausführung des neuen zu erschweren pflegen. Bis zum
Jahre 1892 hatte man aus die griechische Geschichte ebensoviel Zeit verwandt
wie auf die römische, je ein Jahr; und soweit die Lehrbücher, auch die auf
Grund des neuen Lehrplans entstandnen und umgearbeiteten, erkennen lassen,
scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Aber gerade mit der Frage
nach der Berechtigung dieses traditionellen Verhältnisses hätte die Sichtung
des Stoffs einsetzen müssen. Die Griechen in Ehren -- aber ihre Größe und
ihre Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart liegt doch nicht in ihrer
politischen Geschichte! Indem das Gymnasium seine Schüler zu den großen
Werken der griechischen Litteratur, zu den Gesängen des Homer, den Tragödien
des Äschylos und Sophokles, den Geschichtsbüchern des Herodot, Xenophon
und Thukydides, zu den Dialogen Platons und den Reden des Demosthenes
führt, und indem es sie in geistiger Zwiesprache die Kraft und den Hauch
dieser unsterblichen Geister verspüren läßt, vermittelt es ihnen das Höchste
und Beste, was die Griechen uns und der Menschheit bedeuten. Das geschieht
in den Stunden der griechischen Lektüre. Einiges andre, wie Architektur und
Plastik, zu würdigen oder, bescheidner gesprochen, ihre Würdigung anzubahnen,
mag der Geschichtsunterricht unternehmen, wofern für diese Aufgabe die nötigen
Anschauungsmittel vorhanden sind; nur lasse man sich durch die sehr in Mode
gekommne Etikette "Kulturgeschichte" nicht davon abbringen, daß der eigent¬
liche Gegenstand des Geschichtsunterrichts, gewissermaßen sein tägliches Brot,
die politische Geschichte bleiben muß. Denn nicht Schöngeister und Ästhetiker
hat er zu erziehn, sondern Männer, die zur Arbeit im öffentlichen, politischen
Leben taugen.

Halten wir hieran fest, so ergiebt die griechische Geschichte im Vergleich


Die römische llaisergeschichte im Lehrxlan des Gymnasiums

Borschlag. Ihm beizutreten hindert mich die Erwägung, daß alsdann der
Geschichtskursus der Prima, der am Schluß wegen des Abiturientenexamens
mit einem nicht etatsmäßigen, aber in der Regel empfindlichen Ausfall zu
rechnen hat, auch noch im Anfang von seinem eigentlichen Pensum eine be¬
trächtliche Zeit — nach dem Vorschlage von Marcks fünf bis sechs Wochen —
abzugeben hätte. Schon jetzt aber hört man nicht selten klagen, daß sich das
Pensum der Prima nur mit knapper Not bewältigen lasse, und daß der praktisch
so wichtige Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts in Siebenmeilenstiefeln
zurückgelegt werden müsse. Wollte man angesichts dessen jenem Vorschlag
folgen, so geriete man voraussichtlich vom Regen unter die Traufe.

Den Vorschlag Harnacks bekämpft Marcks, indem er ausführt, daß die
Geschichte der römischen Republik eine weitere Verkürzung nicht ertrage, denn
sie sei nicht nur die Voraussetzung für die Kaisergeschichte, sondern enthalte
auch in ungleich höherm Maße als diese das spezifisch Römische, das für den
Unterricht von besonders bildenden und vorbildlichem Werte sei. Diese Gründe
sind stichhaltig; aber nichtsdestoweniger scheint mir Harnacks Gedanke, auf der
Obersekunda die erforderliche Zeit zu ersparen, auf die richtige Spur zu führen.
Wir stoßen hier zum zweitenmal an eine Stelle, wo Erinnerungen an den
alten Lehrplan die Ausführung des neuen zu erschweren pflegen. Bis zum
Jahre 1892 hatte man aus die griechische Geschichte ebensoviel Zeit verwandt
wie auf die römische, je ein Jahr; und soweit die Lehrbücher, auch die auf
Grund des neuen Lehrplans entstandnen und umgearbeiteten, erkennen lassen,
scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Aber gerade mit der Frage
nach der Berechtigung dieses traditionellen Verhältnisses hätte die Sichtung
des Stoffs einsetzen müssen. Die Griechen in Ehren — aber ihre Größe und
ihre Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart liegt doch nicht in ihrer
politischen Geschichte! Indem das Gymnasium seine Schüler zu den großen
Werken der griechischen Litteratur, zu den Gesängen des Homer, den Tragödien
des Äschylos und Sophokles, den Geschichtsbüchern des Herodot, Xenophon
und Thukydides, zu den Dialogen Platons und den Reden des Demosthenes
führt, und indem es sie in geistiger Zwiesprache die Kraft und den Hauch
dieser unsterblichen Geister verspüren läßt, vermittelt es ihnen das Höchste
und Beste, was die Griechen uns und der Menschheit bedeuten. Das geschieht
in den Stunden der griechischen Lektüre. Einiges andre, wie Architektur und
Plastik, zu würdigen oder, bescheidner gesprochen, ihre Würdigung anzubahnen,
mag der Geschichtsunterricht unternehmen, wofern für diese Aufgabe die nötigen
Anschauungsmittel vorhanden sind; nur lasse man sich durch die sehr in Mode
gekommne Etikette „Kulturgeschichte" nicht davon abbringen, daß der eigent¬
liche Gegenstand des Geschichtsunterrichts, gewissermaßen sein tägliches Brot,
die politische Geschichte bleiben muß. Denn nicht Schöngeister und Ästhetiker
hat er zu erziehn, sondern Männer, die zur Arbeit im öffentlichen, politischen
Leben taugen.

Halten wir hieran fest, so ergiebt die griechische Geschichte im Vergleich


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[0270] Die römische llaisergeschichte im Lehrxlan des Gymnasiums Borschlag. Ihm beizutreten hindert mich die Erwägung, daß alsdann der Geschichtskursus der Prima, der am Schluß wegen des Abiturientenexamens mit einem nicht etatsmäßigen, aber in der Regel empfindlichen Ausfall zu rechnen hat, auch noch im Anfang von seinem eigentlichen Pensum eine be¬ trächtliche Zeit — nach dem Vorschlage von Marcks fünf bis sechs Wochen — abzugeben hätte. Schon jetzt aber hört man nicht selten klagen, daß sich das Pensum der Prima nur mit knapper Not bewältigen lasse, und daß der praktisch so wichtige Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts in Siebenmeilenstiefeln zurückgelegt werden müsse. Wollte man angesichts dessen jenem Vorschlag folgen, so geriete man voraussichtlich vom Regen unter die Traufe. Den Vorschlag Harnacks bekämpft Marcks, indem er ausführt, daß die Geschichte der römischen Republik eine weitere Verkürzung nicht ertrage, denn sie sei nicht nur die Voraussetzung für die Kaisergeschichte, sondern enthalte auch in ungleich höherm Maße als diese das spezifisch Römische, das für den Unterricht von besonders bildenden und vorbildlichem Werte sei. Diese Gründe sind stichhaltig; aber nichtsdestoweniger scheint mir Harnacks Gedanke, auf der Obersekunda die erforderliche Zeit zu ersparen, auf die richtige Spur zu führen. Wir stoßen hier zum zweitenmal an eine Stelle, wo Erinnerungen an den alten Lehrplan die Ausführung des neuen zu erschweren pflegen. Bis zum Jahre 1892 hatte man aus die griechische Geschichte ebensoviel Zeit verwandt wie auf die römische, je ein Jahr; und soweit die Lehrbücher, auch die auf Grund des neuen Lehrplans entstandnen und umgearbeiteten, erkennen lassen, scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Aber gerade mit der Frage nach der Berechtigung dieses traditionellen Verhältnisses hätte die Sichtung des Stoffs einsetzen müssen. Die Griechen in Ehren — aber ihre Größe und ihre Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart liegt doch nicht in ihrer politischen Geschichte! Indem das Gymnasium seine Schüler zu den großen Werken der griechischen Litteratur, zu den Gesängen des Homer, den Tragödien des Äschylos und Sophokles, den Geschichtsbüchern des Herodot, Xenophon und Thukydides, zu den Dialogen Platons und den Reden des Demosthenes führt, und indem es sie in geistiger Zwiesprache die Kraft und den Hauch dieser unsterblichen Geister verspüren läßt, vermittelt es ihnen das Höchste und Beste, was die Griechen uns und der Menschheit bedeuten. Das geschieht in den Stunden der griechischen Lektüre. Einiges andre, wie Architektur und Plastik, zu würdigen oder, bescheidner gesprochen, ihre Würdigung anzubahnen, mag der Geschichtsunterricht unternehmen, wofern für diese Aufgabe die nötigen Anschauungsmittel vorhanden sind; nur lasse man sich durch die sehr in Mode gekommne Etikette „Kulturgeschichte" nicht davon abbringen, daß der eigent¬ liche Gegenstand des Geschichtsunterrichts, gewissermaßen sein tägliches Brot, die politische Geschichte bleiben muß. Denn nicht Schöngeister und Ästhetiker hat er zu erziehn, sondern Männer, die zur Arbeit im öffentlichen, politischen Leben taugen. Halten wir hieran fest, so ergiebt die griechische Geschichte im Vergleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/270>, abgerufen am 03.07.2024.