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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Uixling und Tolstoi

der herrschenden Naturgesetze wäre es. Wer weiß, warum sie herrschen? Nie¬
mand! Die ganze Welt ist, das Wort Hexerei in diesem Sinne verstanden,
eine einzige ungeheure Hexerei," Nicht leicht versteht es ein andrer, den Leser
von seiner Unwissenheit zu überzeuge", wie Liebmann, der darin ein zweiter
Sokrates ist, nud von der unergründlichen Tiefe der Geheimnisse, die uns
umgeben und erfüllen. Wer "licht Zeit hat, das ganze Werk durchzulesen, der
lese zur Probe wenigstens die herrliche Betrachtung über die Wunder des
tierischen Instinkts Seite 415 ff. Ente Narren freilich, für die es eine Kleinig¬
keit wäre, den Homunkulus in der Retorte zu brauen, wenn sie geruhen wollte",
sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, werden über Liebmann die Nase rümpfen,
und grobe Geister englischer Art verstehn ihn gar nicht. Auch er ist der An¬
sicht, daß britische Denker in der Regel "nur für die zwei Dimensionen der
Länge und Breite Sinn haben, während ihnen die dritte Denkdimeusion, die
Hohe oder Tiefe, unzugänglich bleibt." Sie glauben den Entstehungsgrund
eines Dinges erklärt zu haben, wenn sie das Ding beschrieben und seine Ent¬
stehung erzählt haben, und verstehn das gar nicht, was der Philosoph noch
außerdem will.

(Schluß folgt)




Kipling und Tolstoi

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Hui a xcmr xatris "ig, inoitis' als ig, teirs," es oui 6on rsuclrs
trss sg. motion ein patnotismö, est an kama triste et airiörs.
Il veins en rssto l'borrsur as vos AUörrös lointaines eutrsprisss
80U8 ass pr^tsxtss ir^pooritss Mi rsoonvrsut is Zone öllrön^
6s ig, clomination et cku luore.^)

Abscheu, nicht bloß vor jenen barbarischen Kämpfen, sondern vor einer
Dichtung, die sie verherrlicht, wird jeder zivilisierte Europäer empfinden, der
überhaupt noch sittlich, ja auch nur ästhetisch zu empfinden imstande ist. Ich
keime zum Glück leinen andern Dichter, der so nackt und zufrieden die rohe
Bestie im Menschen uns lächelnd vor Augen stellt, wie Kipling. Wenn man
uns die Greuel schildert, die afrikanische Kannibalen, religiöse Fanatiker, spanische
Eroberer vollführten, so wendet man sich traurig von solchen historischen That¬
sachen ab, von denen man sich durch eine Welt sittlicher Veredlung entfernt
fühlt. Was Kipling erzählt, sind ohne Zweifel auch wirkliche Begebenheiten;
aber diese menschlichen Bestien, die scherzend Dinge begehn, die man sich nach-



*) M". Lsntsoll, I/armss iwZwiss, in Rovus ass ckswc wowclos, 1. April 1900.
Uixling und Tolstoi

der herrschenden Naturgesetze wäre es. Wer weiß, warum sie herrschen? Nie¬
mand! Die ganze Welt ist, das Wort Hexerei in diesem Sinne verstanden,
eine einzige ungeheure Hexerei," Nicht leicht versteht es ein andrer, den Leser
von seiner Unwissenheit zu überzeuge», wie Liebmann, der darin ein zweiter
Sokrates ist, nud von der unergründlichen Tiefe der Geheimnisse, die uns
umgeben und erfüllen. Wer »licht Zeit hat, das ganze Werk durchzulesen, der
lese zur Probe wenigstens die herrliche Betrachtung über die Wunder des
tierischen Instinkts Seite 415 ff. Ente Narren freilich, für die es eine Kleinig¬
keit wäre, den Homunkulus in der Retorte zu brauen, wenn sie geruhen wollte»,
sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, werden über Liebmann die Nase rümpfen,
und grobe Geister englischer Art verstehn ihn gar nicht. Auch er ist der An¬
sicht, daß britische Denker in der Regel „nur für die zwei Dimensionen der
Länge und Breite Sinn haben, während ihnen die dritte Denkdimeusion, die
Hohe oder Tiefe, unzugänglich bleibt." Sie glauben den Entstehungsgrund
eines Dinges erklärt zu haben, wenn sie das Ding beschrieben und seine Ent¬
stehung erzählt haben, und verstehn das gar nicht, was der Philosoph noch
außerdem will.

(Schluß folgt)




Kipling und Tolstoi

ello xeinturs clef mozurs brutg,I<zö et'uns solcliitssciuk eolonigls
Hui a xcmr xatris „ig, inoitis' als ig, teirs," es oui 6on rsuclrs
trss sg. motion ein patnotismö, est an kama triste et airiörs.
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6s ig, clomination et cku luore.^)

Abscheu, nicht bloß vor jenen barbarischen Kämpfen, sondern vor einer
Dichtung, die sie verherrlicht, wird jeder zivilisierte Europäer empfinden, der
überhaupt noch sittlich, ja auch nur ästhetisch zu empfinden imstande ist. Ich
keime zum Glück leinen andern Dichter, der so nackt und zufrieden die rohe
Bestie im Menschen uns lächelnd vor Augen stellt, wie Kipling. Wenn man
uns die Greuel schildert, die afrikanische Kannibalen, religiöse Fanatiker, spanische
Eroberer vollführten, so wendet man sich traurig von solchen historischen That¬
sachen ab, von denen man sich durch eine Welt sittlicher Veredlung entfernt
fühlt. Was Kipling erzählt, sind ohne Zweifel auch wirkliche Begebenheiten;
aber diese menschlichen Bestien, die scherzend Dinge begehn, die man sich nach-



*) M». Lsntsoll, I/armss iwZwiss, in Rovus ass ckswc wowclos, 1. April 1900.
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[0027] Uixling und Tolstoi der herrschenden Naturgesetze wäre es. Wer weiß, warum sie herrschen? Nie¬ mand! Die ganze Welt ist, das Wort Hexerei in diesem Sinne verstanden, eine einzige ungeheure Hexerei," Nicht leicht versteht es ein andrer, den Leser von seiner Unwissenheit zu überzeuge», wie Liebmann, der darin ein zweiter Sokrates ist, nud von der unergründlichen Tiefe der Geheimnisse, die uns umgeben und erfüllen. Wer »licht Zeit hat, das ganze Werk durchzulesen, der lese zur Probe wenigstens die herrliche Betrachtung über die Wunder des tierischen Instinkts Seite 415 ff. Ente Narren freilich, für die es eine Kleinig¬ keit wäre, den Homunkulus in der Retorte zu brauen, wenn sie geruhen wollte», sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, werden über Liebmann die Nase rümpfen, und grobe Geister englischer Art verstehn ihn gar nicht. Auch er ist der An¬ sicht, daß britische Denker in der Regel „nur für die zwei Dimensionen der Länge und Breite Sinn haben, während ihnen die dritte Denkdimeusion, die Hohe oder Tiefe, unzugänglich bleibt." Sie glauben den Entstehungsgrund eines Dinges erklärt zu haben, wenn sie das Ding beschrieben und seine Ent¬ stehung erzählt haben, und verstehn das gar nicht, was der Philosoph noch außerdem will. (Schluß folgt) Kipling und Tolstoi ello xeinturs clef mozurs brutg,I<zö et'uns solcliitssciuk eolonigls Hui a xcmr xatris „ig, inoitis' als ig, teirs," es oui 6on rsuclrs trss sg. motion ein patnotismö, est an kama triste et airiörs. Il veins en rssto l'borrsur as vos AUörrös lointaines eutrsprisss 80U8 ass pr^tsxtss ir^pooritss Mi rsoonvrsut is Zone öllrön^ 6s ig, clomination et cku luore.^) Abscheu, nicht bloß vor jenen barbarischen Kämpfen, sondern vor einer Dichtung, die sie verherrlicht, wird jeder zivilisierte Europäer empfinden, der überhaupt noch sittlich, ja auch nur ästhetisch zu empfinden imstande ist. Ich keime zum Glück leinen andern Dichter, der so nackt und zufrieden die rohe Bestie im Menschen uns lächelnd vor Augen stellt, wie Kipling. Wenn man uns die Greuel schildert, die afrikanische Kannibalen, religiöse Fanatiker, spanische Eroberer vollführten, so wendet man sich traurig von solchen historischen That¬ sachen ab, von denen man sich durch eine Welt sittlicher Veredlung entfernt fühlt. Was Kipling erzählt, sind ohne Zweifel auch wirkliche Begebenheiten; aber diese menschlichen Bestien, die scherzend Dinge begehn, die man sich nach- *) M». Lsntsoll, I/armss iwZwiss, in Rovus ass ckswc wowclos, 1. April 1900.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/27>, abgerufen am 01.07.2024.