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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Wohnmigs und Bodenpolitik

wie jede eigne Verantwortlichkeit ersparen möchte. Das ist ganz gewiß auch
im zwanzigsten Jahrhundert uicht recht und weise, sonder" wahrscheinlich sehr
unrecht und unweise.

Nicht weniger zutreffend verlangte schon damals Ernst Engel für die
Gemeinde das Recht, von den großen Erwerbskorporationen und Privatunter-
nehmungen zu fordern, daß sie "wenigstens für den Stamm ihrer Arbeiter
die Wohnungsfrage übernehmen und nicht auf die Kommune abwälzen," Im
eignen Interesse hatten schon einige Berliner Großunternehmer mit dem Bauen
eigner Arbeiterwohnungen begonnen, aber die "weniger Humaner" gedächten
schon aus dem, Ums andre thun, Vorteil für sich mit zu ziehn, weil ja, wie
sie sich sagten, jede Abnahme der Wohnungsnchenden vermindernd auf die
Wohnungspreise einwirke. Jede Gemeinde müßte deshalb unbedingt ein Zwangs-
recht auf dergleichen Pflichtsäumige zu üben imstande sein, das äußerstenfalls
bis zur Schließung der betreffenden Fabriken reichte. Leider ist bis jetzt nichts
in der Richtung geschehn, obgleich das, was Engel vor dreißig Jahren forderte,
hente gar nicht mehr ausreicht für eine zeitgemäße großstädtische Wohnungs-
uud Bodenpolitik, Der großindustrielle Betrieb muß zum großen Teil hinaus
aus der Großstadt; nicht nnr in die Vororte, sondern in die Provinz. Ich
werde später noch darauf zurückkommen. Hier nnr noch ein Beispiel dafür,
wie wenig man zur Zeit an Engels Rat denkt: die Konzessionierung der
großen Berliner Straßenbahn durch die Regierung bis zur Mitte des Jahr¬
hunderts ohne die Verpflichtung zum Bau ausreichender Beamten- und
Arbeiterwohnungen, Diese Unternehmung ist örtlich festgelegt; um so mehr
erforderte eine richtige Wohnnngs- und Bodenpolitik den Zwang zur Fürsorge
für Arbeiterwohnungen,

Den engen Zusammenhang und die Notwendigkeit größter, unausgesetzter
gegenseitiger Rücksicht der Wohnnngs- und Bodenpolitik in den Städten einer¬
seits und auf dem platten Lande andrerseits besonders zu betonen, dafür liegt
ein triftiger Grund namentlich auch darin, daß jetzt eine lebhafte Agitation,
vielleicht auch schon eine gesetzgeberische Absicht auf tief eingreifende Reformen
der Agrarverfassuug und der landwirtschaftlichen Bodenpolitik besteht. Wenn
auf beiden Seiten einseitig vorgegangen werden sollte, so könnte um so mehr
geschadet werden,, und die Agitation wenigstens neigt vorläufig noch ans beiden
Seiten bedenklich zur Einseitigkeit, Die wichtige Aktion der innern Kolonisation
im Osten ist schon in Angriff genommen worden, aber über ein bescheidnes
Anfangs- und Versuchsstadinm nicht hinausgekommen, Angesichts der Über¬
völkerung der Großstädte, die zu umfassenden gesetzgeberischen Vorgehn ver¬
anlaßt, sollte die Dringlichkeit großer Maßnahmen zur Beschleunigung der
Kolonisation der Negierung doppelt und dreifach zum Bewußtsein kommen.
Wie die Sachen heute stehn, heißt hier schnell helfen überhaupt helfen. Eng
damit zusammen hängt die "Fesselung" der noch in der Heimat verblichnen
Landarbeiter und wenigstens eines Teils ihres Nachwuchses an den väter¬
lichen Beruf und an die Scholle, die leider nicht väterlich ist, sondern Herr-


Wohnmigs und Bodenpolitik

wie jede eigne Verantwortlichkeit ersparen möchte. Das ist ganz gewiß auch
im zwanzigsten Jahrhundert uicht recht und weise, sonder« wahrscheinlich sehr
unrecht und unweise.

Nicht weniger zutreffend verlangte schon damals Ernst Engel für die
Gemeinde das Recht, von den großen Erwerbskorporationen und Privatunter-
nehmungen zu fordern, daß sie „wenigstens für den Stamm ihrer Arbeiter
die Wohnungsfrage übernehmen und nicht auf die Kommune abwälzen," Im
eignen Interesse hatten schon einige Berliner Großunternehmer mit dem Bauen
eigner Arbeiterwohnungen begonnen, aber die „weniger Humaner" gedächten
schon aus dem, Ums andre thun, Vorteil für sich mit zu ziehn, weil ja, wie
sie sich sagten, jede Abnahme der Wohnungsnchenden vermindernd auf die
Wohnungspreise einwirke. Jede Gemeinde müßte deshalb unbedingt ein Zwangs-
recht auf dergleichen Pflichtsäumige zu üben imstande sein, das äußerstenfalls
bis zur Schließung der betreffenden Fabriken reichte. Leider ist bis jetzt nichts
in der Richtung geschehn, obgleich das, was Engel vor dreißig Jahren forderte,
hente gar nicht mehr ausreicht für eine zeitgemäße großstädtische Wohnungs-
uud Bodenpolitik, Der großindustrielle Betrieb muß zum großen Teil hinaus
aus der Großstadt; nicht nnr in die Vororte, sondern in die Provinz. Ich
werde später noch darauf zurückkommen. Hier nnr noch ein Beispiel dafür,
wie wenig man zur Zeit an Engels Rat denkt: die Konzessionierung der
großen Berliner Straßenbahn durch die Regierung bis zur Mitte des Jahr¬
hunderts ohne die Verpflichtung zum Bau ausreichender Beamten- und
Arbeiterwohnungen, Diese Unternehmung ist örtlich festgelegt; um so mehr
erforderte eine richtige Wohnnngs- und Bodenpolitik den Zwang zur Fürsorge
für Arbeiterwohnungen,

Den engen Zusammenhang und die Notwendigkeit größter, unausgesetzter
gegenseitiger Rücksicht der Wohnnngs- und Bodenpolitik in den Städten einer¬
seits und auf dem platten Lande andrerseits besonders zu betonen, dafür liegt
ein triftiger Grund namentlich auch darin, daß jetzt eine lebhafte Agitation,
vielleicht auch schon eine gesetzgeberische Absicht auf tief eingreifende Reformen
der Agrarverfassuug und der landwirtschaftlichen Bodenpolitik besteht. Wenn
auf beiden Seiten einseitig vorgegangen werden sollte, so könnte um so mehr
geschadet werden,, und die Agitation wenigstens neigt vorläufig noch ans beiden
Seiten bedenklich zur Einseitigkeit, Die wichtige Aktion der innern Kolonisation
im Osten ist schon in Angriff genommen worden, aber über ein bescheidnes
Anfangs- und Versuchsstadinm nicht hinausgekommen, Angesichts der Über¬
völkerung der Großstädte, die zu umfassenden gesetzgeberischen Vorgehn ver¬
anlaßt, sollte die Dringlichkeit großer Maßnahmen zur Beschleunigung der
Kolonisation der Negierung doppelt und dreifach zum Bewußtsein kommen.
Wie die Sachen heute stehn, heißt hier schnell helfen überhaupt helfen. Eng
damit zusammen hängt die „Fesselung" der noch in der Heimat verblichnen
Landarbeiter und wenigstens eines Teils ihres Nachwuchses an den väter¬
lichen Beruf und an die Scholle, die leider nicht väterlich ist, sondern Herr-


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[0264] Wohnmigs und Bodenpolitik wie jede eigne Verantwortlichkeit ersparen möchte. Das ist ganz gewiß auch im zwanzigsten Jahrhundert uicht recht und weise, sonder« wahrscheinlich sehr unrecht und unweise. Nicht weniger zutreffend verlangte schon damals Ernst Engel für die Gemeinde das Recht, von den großen Erwerbskorporationen und Privatunter- nehmungen zu fordern, daß sie „wenigstens für den Stamm ihrer Arbeiter die Wohnungsfrage übernehmen und nicht auf die Kommune abwälzen," Im eignen Interesse hatten schon einige Berliner Großunternehmer mit dem Bauen eigner Arbeiterwohnungen begonnen, aber die „weniger Humaner" gedächten schon aus dem, Ums andre thun, Vorteil für sich mit zu ziehn, weil ja, wie sie sich sagten, jede Abnahme der Wohnungsnchenden vermindernd auf die Wohnungspreise einwirke. Jede Gemeinde müßte deshalb unbedingt ein Zwangs- recht auf dergleichen Pflichtsäumige zu üben imstande sein, das äußerstenfalls bis zur Schließung der betreffenden Fabriken reichte. Leider ist bis jetzt nichts in der Richtung geschehn, obgleich das, was Engel vor dreißig Jahren forderte, hente gar nicht mehr ausreicht für eine zeitgemäße großstädtische Wohnungs- uud Bodenpolitik, Der großindustrielle Betrieb muß zum großen Teil hinaus aus der Großstadt; nicht nnr in die Vororte, sondern in die Provinz. Ich werde später noch darauf zurückkommen. Hier nnr noch ein Beispiel dafür, wie wenig man zur Zeit an Engels Rat denkt: die Konzessionierung der großen Berliner Straßenbahn durch die Regierung bis zur Mitte des Jahr¬ hunderts ohne die Verpflichtung zum Bau ausreichender Beamten- und Arbeiterwohnungen, Diese Unternehmung ist örtlich festgelegt; um so mehr erforderte eine richtige Wohnnngs- und Bodenpolitik den Zwang zur Fürsorge für Arbeiterwohnungen, Den engen Zusammenhang und die Notwendigkeit größter, unausgesetzter gegenseitiger Rücksicht der Wohnnngs- und Bodenpolitik in den Städten einer¬ seits und auf dem platten Lande andrerseits besonders zu betonen, dafür liegt ein triftiger Grund namentlich auch darin, daß jetzt eine lebhafte Agitation, vielleicht auch schon eine gesetzgeberische Absicht auf tief eingreifende Reformen der Agrarverfassuug und der landwirtschaftlichen Bodenpolitik besteht. Wenn auf beiden Seiten einseitig vorgegangen werden sollte, so könnte um so mehr geschadet werden,, und die Agitation wenigstens neigt vorläufig noch ans beiden Seiten bedenklich zur Einseitigkeit, Die wichtige Aktion der innern Kolonisation im Osten ist schon in Angriff genommen worden, aber über ein bescheidnes Anfangs- und Versuchsstadinm nicht hinausgekommen, Angesichts der Über¬ völkerung der Großstädte, die zu umfassenden gesetzgeberischen Vorgehn ver¬ anlaßt, sollte die Dringlichkeit großer Maßnahmen zur Beschleunigung der Kolonisation der Negierung doppelt und dreifach zum Bewußtsein kommen. Wie die Sachen heute stehn, heißt hier schnell helfen überhaupt helfen. Eng damit zusammen hängt die „Fesselung" der noch in der Heimat verblichnen Landarbeiter und wenigstens eines Teils ihres Nachwuchses an den väter¬ lichen Beruf und an die Scholle, die leider nicht väterlich ist, sondern Herr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/264>, abgerufen am 22.07.2024.