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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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führen würde. Man warte mit der Sozialrcform auf dem Lande um Gottes
willen nicht, bis die Sozialdemokratie dort das Feuer angezündet hat. Man
soll das "Stadtproblcm" anerkennen, aber das "Landproblem" nicht leugnen;
man soll dieses thun und jenes nicht lassen.

Und weiter: Ist es denn wirklich so ganz und unbedingt als recht und weise
anzuerkennen, das; den vom Lande in die Industriezentren und Großstädte ab¬
wandernden Arbeitern mehr und mehr jedes Risiko, jede eigne Verantwortlichkeit
dabei abgenommen wird? Unter dem unmittelbaren Eindruck der furchtbaren
Wohnungsnot, die Berlin und andre deutsche Großstädte zu Anfang der siebziger
Jahre in seitdem nicht erlebtem Grade heimsuchte, hatte Ernst Engel der bekannten
Eisenacher Konferenz vom 6. und 7. Oktober 1872 über diese Frage den Be¬
richt zu erstatten. Er bekannte sich dabei im allgemeinen zu scharf staats¬
sozialistischen Grundsätzen, aber das hielt ihn doch nicht ab, folgendes zu sagen:
Bei dem Zusammendrängen so vieler Menschen in den großen Städten litten
die öffentliche Gesundheit, die Sittlichkeit, die Sicherheit der Person und des
Eigentums zusehends mehr und mehr Schaden. Die betreffenden Städte könnten
sich infolgedessen der Notwendigkeit eines enormen Anwachsens ihrer Ausgaben
für die Polizei, für die Gesundheitspflege, für den Verkehr, für die Ent- und
Bewässerung usw. Nieder verschließen noch entziehn. Sie könnten, solange der
Zudrang stattfinde, auch nicht daran denken, durch Kontrahierung von Schulden
der Zukunft die Opfer aufzubürden, die die Gegenwart erheische, denn diese
Opfer wüchsen mit dem Zudrange. Der ganze Bedarf für diese unerläßlichen
Einrichtungen müsse jährlich aufgebracht werden, nicht aber durch Besteuerung
der notwendigsten Lebensmittel, sondern durch direkte Steuern, wobei von einer
Verschönung der sogenannten unbemittelten Klassen, ans denen sich der Zu¬
drang vorzugsweise rekrutiere, und die zu der Teuerung und Unbehaglichkeit
des Aufenthalts in großen Städten ihren vollen Teil beitrügen, nicht die Rede
sein dürfe. Alle, die dahin zögen, müßten wissen, welche Lasten ihrer dort
harrten, und welche sie dauernd auf ihre Schultern nehmen müßten. Das
Hinnehmen und die Verteilung der selbstgeschaffneu Konsequenzen auf alle
Schultern, das sei das Korrektiv des ungesunden Zudrangs nach den Gro߬
städten.

Wie steht die Sache heute? Die zuströmenden Arbeitermassen zahlen
überhaupt keine Gemeindesteuern mehr, und was ihnen trotzdem in der Gro߬
stadt an sozialer Fürsorge, d. h. für die Notdurft und die Annehmlichkeit des
Lebens geboten wird, ist im letzten Menschenalter vervielfacht worden. Daß
sie die "selbstgeschaffneu Konsequenzen" zu tragen haben sollten, der Gedanke
scheint der Gegenwart ganz abhanden gekommen zu sein, und natürlich denkt
man deshalb auch nicht mehr daran, in diesen Konsequenzen ein Korrektiv des
ungesunden Zudrangs nach den Großstädten zu sehen. In einer Zeit, wo
man sich mit dem Satz: Macht geht vor Recht, und mit der Verachtung der
"weichlichen individualistischen Humanitätsideen" brüstet, geht man in weich¬
lichem sozialistischen Humanitätsdusel so weit, daß man den Arbeitern so gut


führen würde. Man warte mit der Sozialrcform auf dem Lande um Gottes
willen nicht, bis die Sozialdemokratie dort das Feuer angezündet hat. Man
soll das „Stadtproblcm" anerkennen, aber das „Landproblem" nicht leugnen;
man soll dieses thun und jenes nicht lassen.

Und weiter: Ist es denn wirklich so ganz und unbedingt als recht und weise
anzuerkennen, das; den vom Lande in die Industriezentren und Großstädte ab¬
wandernden Arbeitern mehr und mehr jedes Risiko, jede eigne Verantwortlichkeit
dabei abgenommen wird? Unter dem unmittelbaren Eindruck der furchtbaren
Wohnungsnot, die Berlin und andre deutsche Großstädte zu Anfang der siebziger
Jahre in seitdem nicht erlebtem Grade heimsuchte, hatte Ernst Engel der bekannten
Eisenacher Konferenz vom 6. und 7. Oktober 1872 über diese Frage den Be¬
richt zu erstatten. Er bekannte sich dabei im allgemeinen zu scharf staats¬
sozialistischen Grundsätzen, aber das hielt ihn doch nicht ab, folgendes zu sagen:
Bei dem Zusammendrängen so vieler Menschen in den großen Städten litten
die öffentliche Gesundheit, die Sittlichkeit, die Sicherheit der Person und des
Eigentums zusehends mehr und mehr Schaden. Die betreffenden Städte könnten
sich infolgedessen der Notwendigkeit eines enormen Anwachsens ihrer Ausgaben
für die Polizei, für die Gesundheitspflege, für den Verkehr, für die Ent- und
Bewässerung usw. Nieder verschließen noch entziehn. Sie könnten, solange der
Zudrang stattfinde, auch nicht daran denken, durch Kontrahierung von Schulden
der Zukunft die Opfer aufzubürden, die die Gegenwart erheische, denn diese
Opfer wüchsen mit dem Zudrange. Der ganze Bedarf für diese unerläßlichen
Einrichtungen müsse jährlich aufgebracht werden, nicht aber durch Besteuerung
der notwendigsten Lebensmittel, sondern durch direkte Steuern, wobei von einer
Verschönung der sogenannten unbemittelten Klassen, ans denen sich der Zu¬
drang vorzugsweise rekrutiere, und die zu der Teuerung und Unbehaglichkeit
des Aufenthalts in großen Städten ihren vollen Teil beitrügen, nicht die Rede
sein dürfe. Alle, die dahin zögen, müßten wissen, welche Lasten ihrer dort
harrten, und welche sie dauernd auf ihre Schultern nehmen müßten. Das
Hinnehmen und die Verteilung der selbstgeschaffneu Konsequenzen auf alle
Schultern, das sei das Korrektiv des ungesunden Zudrangs nach den Gro߬
städten.

Wie steht die Sache heute? Die zuströmenden Arbeitermassen zahlen
überhaupt keine Gemeindesteuern mehr, und was ihnen trotzdem in der Gro߬
stadt an sozialer Fürsorge, d. h. für die Notdurft und die Annehmlichkeit des
Lebens geboten wird, ist im letzten Menschenalter vervielfacht worden. Daß
sie die „selbstgeschaffneu Konsequenzen" zu tragen haben sollten, der Gedanke
scheint der Gegenwart ganz abhanden gekommen zu sein, und natürlich denkt
man deshalb auch nicht mehr daran, in diesen Konsequenzen ein Korrektiv des
ungesunden Zudrangs nach den Großstädten zu sehen. In einer Zeit, wo
man sich mit dem Satz: Macht geht vor Recht, und mit der Verachtung der
»weichlichen individualistischen Humanitätsideen" brüstet, geht man in weich¬
lichem sozialistischen Humanitätsdusel so weit, daß man den Arbeitern so gut


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/263>, abgerufen am 22.07.2024.