Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

sich klar darüber zu werden, wie notwendig der Zug nach der Stadt mit der
gesamten wirtschaftlichen lind sozialen Entwicklung verknüpft sei, und welche
Aufgaben daraus erwüchsen, Sie machten zusammen das "Stadtproblem" aus.
Es bestehe darin, den jährlich anwachsenden Millionen städtischer Bevölkerung
die Bedingungen für die Wahrung und die Entwicklung voller physischer Kraft,
sittlicher und geistiger Wohlfahrt zu schaffen, um zu verhindern, daß die länd¬
lichen Kulturelemente, dem heimatlichen Nährboden entrückt, verloren gingen,
ohne durch eine andre Kultur abgelöst zu werden. Nicht mit einem Schlage
oder durch vereinzelte Maßnahmen könne dieses Problem gelöst werden, sondern
es durchdringe alle Gebiete des städtischen Lebens und fordre, sie als Akkli¬
matisation der Volksmassen zu betrachten, die durch die Umbildung unsrer
Wirtschaftsverfassung "mit unwiderstehlicher Gewalt" in neue Lebensverhült-
uisse versetzt worden wären.

Auch hier die äirg, nsossÄt^s, wenn auch in etwas bescheidneren Sinne,
Aber sonst liegt darin sehr viel Wahres und Belehrendes; der "Akklimatisa¬
tionsprozeß" kann gar nicht genug betont werdeu. Die Arbeiter, und vollends
die Arbeiterfamilien, die ans ostdeutschen Dörfern auf das großstädtische Pflaster
und in die großstädtischen Mietkasernen oder Mietpaläste, jenachdem wie sie
ihnen vorkommen, versetzt werden, bedürfen in der That einer ganz besondern
Fürsorge, wenn ihr Leben, namentlich ihr Familienleben und ihre Kinder¬
erziehung nicht verkommen soll. Wenn sie alles mit der Zeit lernen, Kinder
in der Großstadt erziehn lernen sie fast nie, weder physisch noch moralisch,
und dadurch werden die bösen Folgen der vernachlässigten Akklimatisation ver¬
vielfacht. Weit entfernt, die ungeheuer ernste Bedeutung des Stadtproblems
Rauchbergs zu unterschützen, erkenne ich auch um, daß die Wohnungsfrage
dabei eine wichtige Rolle spielt, aber nicht die einzige, auch nicht die wichtigste.
Das ganze Großstadtleben thut es in seinem scharfen Kontrast zu den Ver¬
hältnissen, in denen die Arbeiter im Osten aufgewachsen sind. Wie ich schon
früher einmal in den Grenzboten gesagt habe, sollte man nicht vergessen, daß
die Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter in den Ostprovinzen die
Gefahren der Akklimatisation der in die altpreußischen Großstädte abwandernden
Massen wesentlich mildern würde, vielleicht mehr als alle zärtliche Fürsorge,
die die Großstadt den Zugewanderten angedeihen zu lassen imstande ist.

Das zwanzigste Jahrhundert, meint Rauchberg, treffe schon die größere
Hälfte der Bevölkerung Deutschlands in städtischen Wohnplätzen an. Diese
Thatsache sei eine der wichtigsten in der Entwicklung des deutschen Volkes.
Niemand könne übersehen, welche Führlichkeitcn mit der Verpflanzung so ge¬
waltiger Volksmassen in neue Lebensbedingungen verbunden seien: sowohl vom
Standpunkt des Zuzug- wie des Wegzuggebiets aus müsse sie dre ernstesten
Bedenken erwecken Er sieht also selbst die Gefährlichkeit der Bewegung für
das ..Wegzugsgebiet" ein. aber er unterschätzt den Umfang der Landflucht im
Osten doch stark wenn er nicht nachdrücklich genug hervorheben zu können
glaubt, daß vou einer Entvölkerung des platten Landes nicht gesprochen werden


sich klar darüber zu werden, wie notwendig der Zug nach der Stadt mit der
gesamten wirtschaftlichen lind sozialen Entwicklung verknüpft sei, und welche
Aufgaben daraus erwüchsen, Sie machten zusammen das „Stadtproblem" aus.
Es bestehe darin, den jährlich anwachsenden Millionen städtischer Bevölkerung
die Bedingungen für die Wahrung und die Entwicklung voller physischer Kraft,
sittlicher und geistiger Wohlfahrt zu schaffen, um zu verhindern, daß die länd¬
lichen Kulturelemente, dem heimatlichen Nährboden entrückt, verloren gingen,
ohne durch eine andre Kultur abgelöst zu werden. Nicht mit einem Schlage
oder durch vereinzelte Maßnahmen könne dieses Problem gelöst werden, sondern
es durchdringe alle Gebiete des städtischen Lebens und fordre, sie als Akkli¬
matisation der Volksmassen zu betrachten, die durch die Umbildung unsrer
Wirtschaftsverfassung „mit unwiderstehlicher Gewalt" in neue Lebensverhült-
uisse versetzt worden wären.

Auch hier die äirg, nsossÄt^s, wenn auch in etwas bescheidneren Sinne,
Aber sonst liegt darin sehr viel Wahres und Belehrendes; der „Akklimatisa¬
tionsprozeß" kann gar nicht genug betont werdeu. Die Arbeiter, und vollends
die Arbeiterfamilien, die ans ostdeutschen Dörfern auf das großstädtische Pflaster
und in die großstädtischen Mietkasernen oder Mietpaläste, jenachdem wie sie
ihnen vorkommen, versetzt werden, bedürfen in der That einer ganz besondern
Fürsorge, wenn ihr Leben, namentlich ihr Familienleben und ihre Kinder¬
erziehung nicht verkommen soll. Wenn sie alles mit der Zeit lernen, Kinder
in der Großstadt erziehn lernen sie fast nie, weder physisch noch moralisch,
und dadurch werden die bösen Folgen der vernachlässigten Akklimatisation ver¬
vielfacht. Weit entfernt, die ungeheuer ernste Bedeutung des Stadtproblems
Rauchbergs zu unterschützen, erkenne ich auch um, daß die Wohnungsfrage
dabei eine wichtige Rolle spielt, aber nicht die einzige, auch nicht die wichtigste.
Das ganze Großstadtleben thut es in seinem scharfen Kontrast zu den Ver¬
hältnissen, in denen die Arbeiter im Osten aufgewachsen sind. Wie ich schon
früher einmal in den Grenzboten gesagt habe, sollte man nicht vergessen, daß
die Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter in den Ostprovinzen die
Gefahren der Akklimatisation der in die altpreußischen Großstädte abwandernden
Massen wesentlich mildern würde, vielleicht mehr als alle zärtliche Fürsorge,
die die Großstadt den Zugewanderten angedeihen zu lassen imstande ist.

Das zwanzigste Jahrhundert, meint Rauchberg, treffe schon die größere
Hälfte der Bevölkerung Deutschlands in städtischen Wohnplätzen an. Diese
Thatsache sei eine der wichtigsten in der Entwicklung des deutschen Volkes.
Niemand könne übersehen, welche Führlichkeitcn mit der Verpflanzung so ge¬
waltiger Volksmassen in neue Lebensbedingungen verbunden seien: sowohl vom
Standpunkt des Zuzug- wie des Wegzuggebiets aus müsse sie dre ernstesten
Bedenken erwecken Er sieht also selbst die Gefährlichkeit der Bewegung für
das ..Wegzugsgebiet" ein. aber er unterschätzt den Umfang der Landflucht im
Osten doch stark wenn er nicht nachdrücklich genug hervorheben zu können
glaubt, daß vou einer Entvölkerung des platten Landes nicht gesprochen werden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234789"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_771" prev="#ID_770"> sich klar darüber zu werden, wie notwendig der Zug nach der Stadt mit der<lb/>
gesamten wirtschaftlichen lind sozialen Entwicklung verknüpft sei, und welche<lb/>
Aufgaben daraus erwüchsen, Sie machten zusammen das &#x201E;Stadtproblem" aus.<lb/>
Es bestehe darin, den jährlich anwachsenden Millionen städtischer Bevölkerung<lb/>
die Bedingungen für die Wahrung und die Entwicklung voller physischer Kraft,<lb/>
sittlicher und geistiger Wohlfahrt zu schaffen, um zu verhindern, daß die länd¬<lb/>
lichen Kulturelemente, dem heimatlichen Nährboden entrückt, verloren gingen,<lb/>
ohne durch eine andre Kultur abgelöst zu werden. Nicht mit einem Schlage<lb/>
oder durch vereinzelte Maßnahmen könne dieses Problem gelöst werden, sondern<lb/>
es durchdringe alle Gebiete des städtischen Lebens und fordre, sie als Akkli¬<lb/>
matisation der Volksmassen zu betrachten, die durch die Umbildung unsrer<lb/>
Wirtschaftsverfassung &#x201E;mit unwiderstehlicher Gewalt" in neue Lebensverhült-<lb/>
uisse versetzt worden wären.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_772"> Auch hier die äirg, nsossÄt^s, wenn auch in etwas bescheidneren Sinne,<lb/>
Aber sonst liegt darin sehr viel Wahres und Belehrendes; der &#x201E;Akklimatisa¬<lb/>
tionsprozeß" kann gar nicht genug betont werdeu. Die Arbeiter, und vollends<lb/>
die Arbeiterfamilien, die ans ostdeutschen Dörfern auf das großstädtische Pflaster<lb/>
und in die großstädtischen Mietkasernen oder Mietpaläste, jenachdem wie sie<lb/>
ihnen vorkommen, versetzt werden, bedürfen in der That einer ganz besondern<lb/>
Fürsorge, wenn ihr Leben, namentlich ihr Familienleben und ihre Kinder¬<lb/>
erziehung nicht verkommen soll. Wenn sie alles mit der Zeit lernen, Kinder<lb/>
in der Großstadt erziehn lernen sie fast nie, weder physisch noch moralisch,<lb/>
und dadurch werden die bösen Folgen der vernachlässigten Akklimatisation ver¬<lb/>
vielfacht. Weit entfernt, die ungeheuer ernste Bedeutung des Stadtproblems<lb/>
Rauchbergs zu unterschützen, erkenne ich auch um, daß die Wohnungsfrage<lb/>
dabei eine wichtige Rolle spielt, aber nicht die einzige, auch nicht die wichtigste.<lb/>
Das ganze Großstadtleben thut es in seinem scharfen Kontrast zu den Ver¬<lb/>
hältnissen, in denen die Arbeiter im Osten aufgewachsen sind. Wie ich schon<lb/>
früher einmal in den Grenzboten gesagt habe, sollte man nicht vergessen, daß<lb/>
die Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter in den Ostprovinzen die<lb/>
Gefahren der Akklimatisation der in die altpreußischen Großstädte abwandernden<lb/>
Massen wesentlich mildern würde, vielleicht mehr als alle zärtliche Fürsorge,<lb/>
die die Großstadt den Zugewanderten angedeihen zu lassen imstande ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_773" next="#ID_774"> Das zwanzigste Jahrhundert, meint Rauchberg, treffe schon die größere<lb/>
Hälfte der Bevölkerung Deutschlands in städtischen Wohnplätzen an. Diese<lb/>
Thatsache sei eine der wichtigsten in der Entwicklung des deutschen Volkes.<lb/>
Niemand könne übersehen, welche Führlichkeitcn mit der Verpflanzung so ge¬<lb/>
waltiger Volksmassen in neue Lebensbedingungen verbunden seien: sowohl vom<lb/>
Standpunkt des Zuzug- wie des Wegzuggebiets aus müsse sie dre ernstesten<lb/>
Bedenken erwecken Er sieht also selbst die Gefährlichkeit der Bewegung für<lb/>
das ..Wegzugsgebiet" ein. aber er unterschätzt den Umfang der Landflucht im<lb/>
Osten doch stark wenn er nicht nachdrücklich genug hervorheben zu können<lb/>
glaubt, daß vou einer Entvölkerung des platten Landes nicht gesprochen werden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0259] sich klar darüber zu werden, wie notwendig der Zug nach der Stadt mit der gesamten wirtschaftlichen lind sozialen Entwicklung verknüpft sei, und welche Aufgaben daraus erwüchsen, Sie machten zusammen das „Stadtproblem" aus. Es bestehe darin, den jährlich anwachsenden Millionen städtischer Bevölkerung die Bedingungen für die Wahrung und die Entwicklung voller physischer Kraft, sittlicher und geistiger Wohlfahrt zu schaffen, um zu verhindern, daß die länd¬ lichen Kulturelemente, dem heimatlichen Nährboden entrückt, verloren gingen, ohne durch eine andre Kultur abgelöst zu werden. Nicht mit einem Schlage oder durch vereinzelte Maßnahmen könne dieses Problem gelöst werden, sondern es durchdringe alle Gebiete des städtischen Lebens und fordre, sie als Akkli¬ matisation der Volksmassen zu betrachten, die durch die Umbildung unsrer Wirtschaftsverfassung „mit unwiderstehlicher Gewalt" in neue Lebensverhült- uisse versetzt worden wären. Auch hier die äirg, nsossÄt^s, wenn auch in etwas bescheidneren Sinne, Aber sonst liegt darin sehr viel Wahres und Belehrendes; der „Akklimatisa¬ tionsprozeß" kann gar nicht genug betont werdeu. Die Arbeiter, und vollends die Arbeiterfamilien, die ans ostdeutschen Dörfern auf das großstädtische Pflaster und in die großstädtischen Mietkasernen oder Mietpaläste, jenachdem wie sie ihnen vorkommen, versetzt werden, bedürfen in der That einer ganz besondern Fürsorge, wenn ihr Leben, namentlich ihr Familienleben und ihre Kinder¬ erziehung nicht verkommen soll. Wenn sie alles mit der Zeit lernen, Kinder in der Großstadt erziehn lernen sie fast nie, weder physisch noch moralisch, und dadurch werden die bösen Folgen der vernachlässigten Akklimatisation ver¬ vielfacht. Weit entfernt, die ungeheuer ernste Bedeutung des Stadtproblems Rauchbergs zu unterschützen, erkenne ich auch um, daß die Wohnungsfrage dabei eine wichtige Rolle spielt, aber nicht die einzige, auch nicht die wichtigste. Das ganze Großstadtleben thut es in seinem scharfen Kontrast zu den Ver¬ hältnissen, in denen die Arbeiter im Osten aufgewachsen sind. Wie ich schon früher einmal in den Grenzboten gesagt habe, sollte man nicht vergessen, daß die Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter in den Ostprovinzen die Gefahren der Akklimatisation der in die altpreußischen Großstädte abwandernden Massen wesentlich mildern würde, vielleicht mehr als alle zärtliche Fürsorge, die die Großstadt den Zugewanderten angedeihen zu lassen imstande ist. Das zwanzigste Jahrhundert, meint Rauchberg, treffe schon die größere Hälfte der Bevölkerung Deutschlands in städtischen Wohnplätzen an. Diese Thatsache sei eine der wichtigsten in der Entwicklung des deutschen Volkes. Niemand könne übersehen, welche Führlichkeitcn mit der Verpflanzung so ge¬ waltiger Volksmassen in neue Lebensbedingungen verbunden seien: sowohl vom Standpunkt des Zuzug- wie des Wegzuggebiets aus müsse sie dre ernstesten Bedenken erwecken Er sieht also selbst die Gefährlichkeit der Bewegung für das ..Wegzugsgebiet" ein. aber er unterschätzt den Umfang der Landflucht im Osten doch stark wenn er nicht nachdrücklich genug hervorheben zu können glaubt, daß vou einer Entvölkerung des platten Landes nicht gesprochen werden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/259
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/259>, abgerufen am 22.07.2024.