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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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ZVohmmgs- und Bodenpolitik

Mangel in der Landwirtschaft und zu einer Entvölkerung des platten Landes
geführt hat, die den nationalen Besitzstand zu bedrohen anfängt. Freilich
haben wir mit der Thatsache zu rechnen, daß die Bevölkerung in Industrie,
Handel und Verkehr und ganz besonders die Arbeiterbevölkerung zu eiuer ge¬
waltigen Masse angeschwollen ist und dadurch eine nationale Wichtigkeit er¬
langt hat, die die Fürsorge für ihre wirtschaftliche, soziale, hygienische Ent¬
wicklung dem Staat in einem viel höhern Grade zur Pflicht macht als vor
zwanzig Jahren, und auch damit ist nun einmal zu rechnen, daß der Zudrang
zur Industrie bis jetzt fast völlig mit der Abwandrung vom Lande nach der
Stadt zusammengefallen ist. Ja wir werden zugeben und sogar froh darüber
sein müssen, daß auch in Zukunft das Gewerbe eine stark wachsende Bevölke¬
rung viel mehr und viel länger im Lande zu halten vermögen wird als die
Landwirtschaft. Wir wollen noch mehr Deutsche in der Welt und namentlich
im Deutschen Reiche haben. Aber das enthebt den Staat doch nicht der
Pflicht, sich zu fragen, ob nicht zeitweise, und zwar gerade jetzt, das Anwachsen
des Gewerbepersonals zu rnpid und ungesund geworden sei, und deshalb eher
zurückhaltende als fördernde Maßnahmen geboten seien. Auch muß doch das
Zuströmen zum Gewerbe nicht notwendig mit dem Zuströmen vom Lande in
die Stadt identifiziert werden, vielmehr kann eine Dezentralisation der Industrie
ins Auge gefaßt werden. Jedenfalls kann dem doch uur mit dem allergrößten
Vorbehalt, ja in der Hauptsache gar nicht, beigestimmt werden, was Brentano
in der Wiener "Zeit" vom 29. Dezember 1900 wieder einmal in seiner über¬
treibender Manier gesagt hat: "Trotz aller romantischen Begeisterung für Land
und Landwirtschaft werden die Menschen zur Stadt und Industrie getrieben.
Und so wird es bleiben, solange die aira nsosssitas des Menschen Schicksal
bestimmt." In Preußen und in Berlin wäre es heutigestags einfach unver¬
antwortlicher Leichtsinn, wenn man der zärtlichen Fürsorge für die Industrie¬
arbeiter und nota v"zu6 auch den Fabrikherren gegenüber, die sich natürlich ganz
besonders darüber freuen könnten, das platte Land und die Landflucht im
Osten als "zMvtit6 nöAligsablö behandeln wollte. Diese ganze Frage -- wie
er es nennt: das Stadtproblem -- hat Professor Rauchberg ganz neuerdings
in einer Betrachtung über die "Entwicklungstendenzen der deutschen Volks¬
wirtschaft"*) sehr schön und lehrreich, aber freilich auch in mancher Beziehung
sehr einseitig besprochen. Was er sagt, ist so wichtig, daß etwas näher darauf
eingegangen werden muß.

Die Umbildung der Berufsgliederung, schreibt er, in der Richtung ucich
der Industrie und die der Ansiedlungsverhältnissc in der Richtung nach der
Stadt bedeute für Millionen Deutscher einen "gefährlichen Akklimatisations¬
prozeß." Ihn planmäßig zu erleichtern und zu fördern sei eine der wichtigsten
aber auch der schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik. Aber es sei wichtig,



") Die Berufs- und Gewerbezählimg im Deutschen Reich vom 14. Juni 189V. Berlin,
Carl Heymmm, 1901.
ZVohmmgs- und Bodenpolitik

Mangel in der Landwirtschaft und zu einer Entvölkerung des platten Landes
geführt hat, die den nationalen Besitzstand zu bedrohen anfängt. Freilich
haben wir mit der Thatsache zu rechnen, daß die Bevölkerung in Industrie,
Handel und Verkehr und ganz besonders die Arbeiterbevölkerung zu eiuer ge¬
waltigen Masse angeschwollen ist und dadurch eine nationale Wichtigkeit er¬
langt hat, die die Fürsorge für ihre wirtschaftliche, soziale, hygienische Ent¬
wicklung dem Staat in einem viel höhern Grade zur Pflicht macht als vor
zwanzig Jahren, und auch damit ist nun einmal zu rechnen, daß der Zudrang
zur Industrie bis jetzt fast völlig mit der Abwandrung vom Lande nach der
Stadt zusammengefallen ist. Ja wir werden zugeben und sogar froh darüber
sein müssen, daß auch in Zukunft das Gewerbe eine stark wachsende Bevölke¬
rung viel mehr und viel länger im Lande zu halten vermögen wird als die
Landwirtschaft. Wir wollen noch mehr Deutsche in der Welt und namentlich
im Deutschen Reiche haben. Aber das enthebt den Staat doch nicht der
Pflicht, sich zu fragen, ob nicht zeitweise, und zwar gerade jetzt, das Anwachsen
des Gewerbepersonals zu rnpid und ungesund geworden sei, und deshalb eher
zurückhaltende als fördernde Maßnahmen geboten seien. Auch muß doch das
Zuströmen zum Gewerbe nicht notwendig mit dem Zuströmen vom Lande in
die Stadt identifiziert werden, vielmehr kann eine Dezentralisation der Industrie
ins Auge gefaßt werden. Jedenfalls kann dem doch uur mit dem allergrößten
Vorbehalt, ja in der Hauptsache gar nicht, beigestimmt werden, was Brentano
in der Wiener „Zeit" vom 29. Dezember 1900 wieder einmal in seiner über¬
treibender Manier gesagt hat: „Trotz aller romantischen Begeisterung für Land
und Landwirtschaft werden die Menschen zur Stadt und Industrie getrieben.
Und so wird es bleiben, solange die aira nsosssitas des Menschen Schicksal
bestimmt." In Preußen und in Berlin wäre es heutigestags einfach unver¬
antwortlicher Leichtsinn, wenn man der zärtlichen Fürsorge für die Industrie¬
arbeiter und nota v«zu6 auch den Fabrikherren gegenüber, die sich natürlich ganz
besonders darüber freuen könnten, das platte Land und die Landflucht im
Osten als «zMvtit6 nöAligsablö behandeln wollte. Diese ganze Frage — wie
er es nennt: das Stadtproblem — hat Professor Rauchberg ganz neuerdings
in einer Betrachtung über die „Entwicklungstendenzen der deutschen Volks¬
wirtschaft"*) sehr schön und lehrreich, aber freilich auch in mancher Beziehung
sehr einseitig besprochen. Was er sagt, ist so wichtig, daß etwas näher darauf
eingegangen werden muß.

Die Umbildung der Berufsgliederung, schreibt er, in der Richtung ucich
der Industrie und die der Ansiedlungsverhältnissc in der Richtung nach der
Stadt bedeute für Millionen Deutscher einen „gefährlichen Akklimatisations¬
prozeß." Ihn planmäßig zu erleichtern und zu fördern sei eine der wichtigsten
aber auch der schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik. Aber es sei wichtig,



") Die Berufs- und Gewerbezählimg im Deutschen Reich vom 14. Juni 189V. Berlin,
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[0258] ZVohmmgs- und Bodenpolitik Mangel in der Landwirtschaft und zu einer Entvölkerung des platten Landes geführt hat, die den nationalen Besitzstand zu bedrohen anfängt. Freilich haben wir mit der Thatsache zu rechnen, daß die Bevölkerung in Industrie, Handel und Verkehr und ganz besonders die Arbeiterbevölkerung zu eiuer ge¬ waltigen Masse angeschwollen ist und dadurch eine nationale Wichtigkeit er¬ langt hat, die die Fürsorge für ihre wirtschaftliche, soziale, hygienische Ent¬ wicklung dem Staat in einem viel höhern Grade zur Pflicht macht als vor zwanzig Jahren, und auch damit ist nun einmal zu rechnen, daß der Zudrang zur Industrie bis jetzt fast völlig mit der Abwandrung vom Lande nach der Stadt zusammengefallen ist. Ja wir werden zugeben und sogar froh darüber sein müssen, daß auch in Zukunft das Gewerbe eine stark wachsende Bevölke¬ rung viel mehr und viel länger im Lande zu halten vermögen wird als die Landwirtschaft. Wir wollen noch mehr Deutsche in der Welt und namentlich im Deutschen Reiche haben. Aber das enthebt den Staat doch nicht der Pflicht, sich zu fragen, ob nicht zeitweise, und zwar gerade jetzt, das Anwachsen des Gewerbepersonals zu rnpid und ungesund geworden sei, und deshalb eher zurückhaltende als fördernde Maßnahmen geboten seien. Auch muß doch das Zuströmen zum Gewerbe nicht notwendig mit dem Zuströmen vom Lande in die Stadt identifiziert werden, vielmehr kann eine Dezentralisation der Industrie ins Auge gefaßt werden. Jedenfalls kann dem doch uur mit dem allergrößten Vorbehalt, ja in der Hauptsache gar nicht, beigestimmt werden, was Brentano in der Wiener „Zeit" vom 29. Dezember 1900 wieder einmal in seiner über¬ treibender Manier gesagt hat: „Trotz aller romantischen Begeisterung für Land und Landwirtschaft werden die Menschen zur Stadt und Industrie getrieben. Und so wird es bleiben, solange die aira nsosssitas des Menschen Schicksal bestimmt." In Preußen und in Berlin wäre es heutigestags einfach unver¬ antwortlicher Leichtsinn, wenn man der zärtlichen Fürsorge für die Industrie¬ arbeiter und nota v«zu6 auch den Fabrikherren gegenüber, die sich natürlich ganz besonders darüber freuen könnten, das platte Land und die Landflucht im Osten als «zMvtit6 nöAligsablö behandeln wollte. Diese ganze Frage — wie er es nennt: das Stadtproblem — hat Professor Rauchberg ganz neuerdings in einer Betrachtung über die „Entwicklungstendenzen der deutschen Volks¬ wirtschaft"*) sehr schön und lehrreich, aber freilich auch in mancher Beziehung sehr einseitig besprochen. Was er sagt, ist so wichtig, daß etwas näher darauf eingegangen werden muß. Die Umbildung der Berufsgliederung, schreibt er, in der Richtung ucich der Industrie und die der Ansiedlungsverhältnissc in der Richtung nach der Stadt bedeute für Millionen Deutscher einen „gefährlichen Akklimatisations¬ prozeß." Ihn planmäßig zu erleichtern und zu fördern sei eine der wichtigsten aber auch der schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik. Aber es sei wichtig, ") Die Berufs- und Gewerbezählimg im Deutschen Reich vom 14. Juni 189V. Berlin, Carl Heymmm, 1901.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/258>, abgerufen am 22.07.2024.