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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Gedanken zur Revision des Arankenversicherungsgesctzes

die Antragsteller bei der Krankenversicherung zugehörten, und die mit seinen
Krankheits- und Berufsverhältnissen vertraut sind. So kann der Ungleichheit
der Rechtsprechung und der daraus folgenden Unzufriedenheit, dem Mißtrauen,
dem Neid besser vorgebeugt werden.

Bei einer solchen einheitlichen Organisation der Kranken- und Invaliden¬
versicherung eröffnet sich die schöne Aussicht, daß die wichtigen hygienischen,
mechauotherapeutischen Maßnahmen, die allein die Krankheitszahl herabzudrücken
vermögen, in Angriff genommen werden, daß die vorbeugende Medizin zu
ihrem Rechte kommt. Denn die weitsichtigen! Jnvalideiwersicheruugsanstnlten
sind ja jetzt schon über die Auffassung, als Hütten sie bloß die Verpflichtung
materieller Leistungen, hinausgegangen. Nach einer innern Verbindung beider
Versicherungsarten werden die Anstalten ihre Aufgabe, eine hygienische Er¬
ziehung der Versicherten zu fördern, in verschiedner Hinsicht noch vertiefen
wollen. Die Hygiene fordert z. B. einen Verweudungsschutz, Ich deute mir
nun, eine weltsichtige Versicherungsanstalt ist in der Lage, auch auf die Art
der Beschäftigung der Versicherten, auch auf die Berufswahl einzuwirken. Durch
ihren weitreichenden machtvollen Einfluß wird sie z, B, blutarme Nüheriuueu,
lungenkranke Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen zur Beschäftigung in andern für
sie passenden Verufscirten veranlassen und ihnen mit Hilfe von Arbeitsuachweis-
ämtern behilflich sein können. Der Gedanke liegt gar nicht fern, daß dadurch
ein Rückfluß der städtischen Arbeiterbevölkerung nach dem Lande wohlverstanden
im Interesse des Versicherten, eintreten könnte. Man wende nicht ein, daß
ein so weit reichender Machtbereich der Anstalten das heilige Recht der Per¬
sönlichkeit antaste, in die freie Selbstbestimmung eingreife. Die Thatsache,
daß nur eine Zwangsversichernng haben, beweist ja, daß diesen Bevölke-
rungslreisen die sittlichen und wirtschaftlichen Kräfte und Einsichten fehlen,
sich selbst zu helfen. Da hat der Staat eingegriffen mit seinem Zwang im
Interesse derer selbst, deren Persönlichkeitsrechte eingeschränkt sind. Im
Interesse des von der Hygiene geforderten Verweudungsschutzes müßte auch
ein Zwang von den Anstalten ausgeübt werden können. Ich habe schon
manchem Fabrikarbeiter und mancher Arbeiterin, bei denen die Symptome eines
beginnenden chronischen Lungenleidens vorhanden waren, und denen die Jnva-
liditütsanstalt ein Heilverfahren gewährte, eindringlich geraten, die Fnbrikarbeit
aufzugeben, wieder in ihre ländliche Heimat zu gehn oder sich in einer Dicnst-
botenstellung in hygienisch günstigere Lebensverhültnisse zu bringen. Aber ohne
Erfolg, Jn solchen Füllen muß ein Zwang ausgeübt werden.

(Schluß folgt)




Gedanken zur Revision des Arankenversicherungsgesctzes

die Antragsteller bei der Krankenversicherung zugehörten, und die mit seinen
Krankheits- und Berufsverhältnissen vertraut sind. So kann der Ungleichheit
der Rechtsprechung und der daraus folgenden Unzufriedenheit, dem Mißtrauen,
dem Neid besser vorgebeugt werden.

Bei einer solchen einheitlichen Organisation der Kranken- und Invaliden¬
versicherung eröffnet sich die schöne Aussicht, daß die wichtigen hygienischen,
mechauotherapeutischen Maßnahmen, die allein die Krankheitszahl herabzudrücken
vermögen, in Angriff genommen werden, daß die vorbeugende Medizin zu
ihrem Rechte kommt. Denn die weitsichtigen! Jnvalideiwersicheruugsanstnlten
sind ja jetzt schon über die Auffassung, als Hütten sie bloß die Verpflichtung
materieller Leistungen, hinausgegangen. Nach einer innern Verbindung beider
Versicherungsarten werden die Anstalten ihre Aufgabe, eine hygienische Er¬
ziehung der Versicherten zu fördern, in verschiedner Hinsicht noch vertiefen
wollen. Die Hygiene fordert z. B. einen Verweudungsschutz, Ich deute mir
nun, eine weltsichtige Versicherungsanstalt ist in der Lage, auch auf die Art
der Beschäftigung der Versicherten, auch auf die Berufswahl einzuwirken. Durch
ihren weitreichenden machtvollen Einfluß wird sie z, B, blutarme Nüheriuueu,
lungenkranke Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen zur Beschäftigung in andern für
sie passenden Verufscirten veranlassen und ihnen mit Hilfe von Arbeitsuachweis-
ämtern behilflich sein können. Der Gedanke liegt gar nicht fern, daß dadurch
ein Rückfluß der städtischen Arbeiterbevölkerung nach dem Lande wohlverstanden
im Interesse des Versicherten, eintreten könnte. Man wende nicht ein, daß
ein so weit reichender Machtbereich der Anstalten das heilige Recht der Per¬
sönlichkeit antaste, in die freie Selbstbestimmung eingreife. Die Thatsache,
daß nur eine Zwangsversichernng haben, beweist ja, daß diesen Bevölke-
rungslreisen die sittlichen und wirtschaftlichen Kräfte und Einsichten fehlen,
sich selbst zu helfen. Da hat der Staat eingegriffen mit seinem Zwang im
Interesse derer selbst, deren Persönlichkeitsrechte eingeschränkt sind. Im
Interesse des von der Hygiene geforderten Verweudungsschutzes müßte auch
ein Zwang von den Anstalten ausgeübt werden können. Ich habe schon
manchem Fabrikarbeiter und mancher Arbeiterin, bei denen die Symptome eines
beginnenden chronischen Lungenleidens vorhanden waren, und denen die Jnva-
liditütsanstalt ein Heilverfahren gewährte, eindringlich geraten, die Fnbrikarbeit
aufzugeben, wieder in ihre ländliche Heimat zu gehn oder sich in einer Dicnst-
botenstellung in hygienisch günstigere Lebensverhültnisse zu bringen. Aber ohne
Erfolg, Jn solchen Füllen muß ein Zwang ausgeübt werden.

(Schluß folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/223>, abgerufen am 03.07.2024.