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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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sich dem sich darüber aufbauenden Glauben in geistigen Dingen zu widersetzen?
Dieser Widerspruch hat nur eine geschichtliche, also vorübergehende Berechtigung
in dem alten Streit zwischen Kirche und Wissenschaft, der auf eine Zeit zurück
geht, wo die Priester Gott und die Welt zugleich erklärten, wo die Mythologie
einen großen Teil des Gebiets beherrschte, das spater die Wissenschaft sich zu
eigen gemacht hat. Aber dieser Streit ist nicht notwendig. Die mosaische
Schöpfungsgeschichte hat im Grund nichts mit Religion zu thun, und ob der
Leib des Menschen aus dein der Affe" hervorgegangen ist, berührt nicht die
Meinung, die ich von seiner Seele hege. Läuft nicht alles Wissen in Glauben aus,
gerade wo es ins Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Tiefste und Feinste geht?
In Glauben fortsetzen muß sich jedes Wissen um das, was ist. Wenn wir be¬
denken, wie die Allgemeingiltigkeit aller Naturgesetze nur aus der Erfahrung ab-
strahiert ist und keineswegs als notwendig erwiesen werden kann, so können wir
weder die nächsten noch die letzten Schritte ohne Glauben thun; wir wohnen und
leben sozusagen in einer Welt des Glaubens. Und so stützt sich denn die Tages¬
ansicht auf das Wissen, soweit es reicht; darüber hinaus glaubt sie, was sie
braucht; und erkennt endlich das historische Glaubensprinzip an, das
Fechner in den "Drei Motiven und Gründen des Glaubens" entwickelt hat. Man
könnte es am kürzesten so bezeichnen: ein Glaube erscheint uns um so triftiger, je
allgemeiner und einstimmiger, je haltbarer und wirksamer er sich durch Welt und
Zeit erstreckt, und je fähiger er sich gezeigt hat, mit wachsender Kultur zu er¬
starken und zu wachsen. Fechner hat zwar dieses Glaubensprinzip nur an die
dritte Stelle verwiesen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefsten Grunde die
Tagesansicht, sondern es ist mich am bezeichnendsten für die geistige Natur
des Denkers. Die Anerkennung des Rechtes dessen, was da ist und war,
auf eine entsprechende Zukunft sondert Fechner am tiefsten von der Masse der
Naturforscher, die kein historisches Recht in der Gedankenwelt, sondern nur den
Irrtum der Andern und das eigne Fürwahrhalten kennen, jenen zu zerstören
und diesem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht erachten, jeder einzelne
gewissermaßen Religionsstifter auf seinem engen Gebiet, je entschiedncr, desto
höher ummauert sein Gebiet ist. Fechner hat es selbst ausgesprochen, daß für
ihn der beste Glaube der sei, der sich am widerspruchslosesten mit allem unsern
Wissen und unsern praktischen Interessen vereinbart, und die bisherigen Wider¬
sprüche der verschiednen Glanbensrichtungen versöhnt, statt sie noch weiter zu
sondern. Gerade deshalb erscheint mir Fechner, mit andern Naturphilosophen
verglichen, als ein Denker von hervorragend praktischer Anlage und Bedeutung,
aus dessen Lehren eine dem ganzen Menschen genugthuende und die ganze
Erscheinungswelt umfassende und deutende Philosophie zu gewinnen ist.

Dieser praktische Zug tritt besonders in der entscheidenden Seelenfrage
zu Tage. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele, mate¬
rieller und geistiger Schöpfung, ob sie nur ein Wesen oder zweierlei sind, mit
andern Worten Monismus und Dualismus hat Fechner innerhalb seiner Tages¬
ansicht nicht entscheiden wollen, sondern er legte das Hauptgewicht darauf,


sich dem sich darüber aufbauenden Glauben in geistigen Dingen zu widersetzen?
Dieser Widerspruch hat nur eine geschichtliche, also vorübergehende Berechtigung
in dem alten Streit zwischen Kirche und Wissenschaft, der auf eine Zeit zurück
geht, wo die Priester Gott und die Welt zugleich erklärten, wo die Mythologie
einen großen Teil des Gebiets beherrschte, das spater die Wissenschaft sich zu
eigen gemacht hat. Aber dieser Streit ist nicht notwendig. Die mosaische
Schöpfungsgeschichte hat im Grund nichts mit Religion zu thun, und ob der
Leib des Menschen aus dein der Affe» hervorgegangen ist, berührt nicht die
Meinung, die ich von seiner Seele hege. Läuft nicht alles Wissen in Glauben aus,
gerade wo es ins Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Tiefste und Feinste geht?
In Glauben fortsetzen muß sich jedes Wissen um das, was ist. Wenn wir be¬
denken, wie die Allgemeingiltigkeit aller Naturgesetze nur aus der Erfahrung ab-
strahiert ist und keineswegs als notwendig erwiesen werden kann, so können wir
weder die nächsten noch die letzten Schritte ohne Glauben thun; wir wohnen und
leben sozusagen in einer Welt des Glaubens. Und so stützt sich denn die Tages¬
ansicht auf das Wissen, soweit es reicht; darüber hinaus glaubt sie, was sie
braucht; und erkennt endlich das historische Glaubensprinzip an, das
Fechner in den „Drei Motiven und Gründen des Glaubens" entwickelt hat. Man
könnte es am kürzesten so bezeichnen: ein Glaube erscheint uns um so triftiger, je
allgemeiner und einstimmiger, je haltbarer und wirksamer er sich durch Welt und
Zeit erstreckt, und je fähiger er sich gezeigt hat, mit wachsender Kultur zu er¬
starken und zu wachsen. Fechner hat zwar dieses Glaubensprinzip nur an die
dritte Stelle verwiesen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefsten Grunde die
Tagesansicht, sondern es ist mich am bezeichnendsten für die geistige Natur
des Denkers. Die Anerkennung des Rechtes dessen, was da ist und war,
auf eine entsprechende Zukunft sondert Fechner am tiefsten von der Masse der
Naturforscher, die kein historisches Recht in der Gedankenwelt, sondern nur den
Irrtum der Andern und das eigne Fürwahrhalten kennen, jenen zu zerstören
und diesem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht erachten, jeder einzelne
gewissermaßen Religionsstifter auf seinem engen Gebiet, je entschiedncr, desto
höher ummauert sein Gebiet ist. Fechner hat es selbst ausgesprochen, daß für
ihn der beste Glaube der sei, der sich am widerspruchslosesten mit allem unsern
Wissen und unsern praktischen Interessen vereinbart, und die bisherigen Wider¬
sprüche der verschiednen Glanbensrichtungen versöhnt, statt sie noch weiter zu
sondern. Gerade deshalb erscheint mir Fechner, mit andern Naturphilosophen
verglichen, als ein Denker von hervorragend praktischer Anlage und Bedeutung,
aus dessen Lehren eine dem ganzen Menschen genugthuende und die ganze
Erscheinungswelt umfassende und deutende Philosophie zu gewinnen ist.

Dieser praktische Zug tritt besonders in der entscheidenden Seelenfrage
zu Tage. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele, mate¬
rieller und geistiger Schöpfung, ob sie nur ein Wesen oder zweierlei sind, mit
andern Worten Monismus und Dualismus hat Fechner innerhalb seiner Tages¬
ansicht nicht entscheiden wollen, sondern er legte das Hauptgewicht darauf,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/181>, abgerufen am 28.09.2024.