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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Tagescmslcht Gustav Theodor Fechners

Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren
wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon
in manche Seele gedrungen und werden eines Tags mächtig dnrch eine
Menschheit finden, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allein
zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach
vollendeter "Aufklärung" das schwankende Licht unsers eignen Bewußtseins in
einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein
thörichter Verzicht auf das Beste erscheine", was wir in der Welt überhaupt
haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer
Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich
unsers Geistes auch nur von ferne auszufüllen.

Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird,
daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig
täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedener entgegentreten, alles zu zer¬
stören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und Biologie, die über die
elementarsten Voraussetzungen ihrer eignen Denkarbeit in schweren Irrtümern
befangen ist -- ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende
Frage der erdgeschichtlichen Perspektive --, hat nicht das Recht, uns über die
Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hoch¬
klingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur
allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt
eine dumpfe Werkstatt ist, gegeuüber den Werken des künstlerischen Genius.
Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er
arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu
wollen, ist Vermessenheit, die man zu lang denkträg ertragen hat.

Manches mag sich nun an Fechners Weltansicht unvollkommen erweisen,
einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie
ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung
und Verwendung alles dessen, was thatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und
nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des
Wissens so ergänzt werden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leicht¬
verständliche bevorzugt, sondern alles in den" großen Stil eines Werks aus¬
gedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nnr ein ver¬
schwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubens¬
bedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eignen Erfahrungen seine
im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner
Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltan¬
schauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins
erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht,
wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, das Wissens- und
Glaubcnsbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Ent¬
deckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den
Trümmern eines niedergerissener alten Null das sein. Die dichterischen, natur-


Die Tagescmslcht Gustav Theodor Fechners

Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren
wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon
in manche Seele gedrungen und werden eines Tags mächtig dnrch eine
Menschheit finden, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allein
zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach
vollendeter „Aufklärung" das schwankende Licht unsers eignen Bewußtseins in
einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein
thörichter Verzicht auf das Beste erscheine», was wir in der Welt überhaupt
haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer
Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich
unsers Geistes auch nur von ferne auszufüllen.

Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird,
daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig
täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedener entgegentreten, alles zu zer¬
stören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und Biologie, die über die
elementarsten Voraussetzungen ihrer eignen Denkarbeit in schweren Irrtümern
befangen ist — ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende
Frage der erdgeschichtlichen Perspektive —, hat nicht das Recht, uns über die
Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hoch¬
klingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur
allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt
eine dumpfe Werkstatt ist, gegeuüber den Werken des künstlerischen Genius.
Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er
arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu
wollen, ist Vermessenheit, die man zu lang denkträg ertragen hat.

Manches mag sich nun an Fechners Weltansicht unvollkommen erweisen,
einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie
ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung
und Verwendung alles dessen, was thatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und
nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des
Wissens so ergänzt werden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leicht¬
verständliche bevorzugt, sondern alles in den« großen Stil eines Werks aus¬
gedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nnr ein ver¬
schwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubens¬
bedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eignen Erfahrungen seine
im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner
Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltan¬
schauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins
erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht,
wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, das Wissens- und
Glaubcnsbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Ent¬
deckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den
Trümmern eines niedergerissener alten Null das sein. Die dichterischen, natur-


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[0178] Die Tagescmslcht Gustav Theodor Fechners Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon in manche Seele gedrungen und werden eines Tags mächtig dnrch eine Menschheit finden, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allein zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach vollendeter „Aufklärung" das schwankende Licht unsers eignen Bewußtseins in einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein thörichter Verzicht auf das Beste erscheine», was wir in der Welt überhaupt haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich unsers Geistes auch nur von ferne auszufüllen. Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird, daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedener entgegentreten, alles zu zer¬ stören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und Biologie, die über die elementarsten Voraussetzungen ihrer eignen Denkarbeit in schweren Irrtümern befangen ist — ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende Frage der erdgeschichtlichen Perspektive —, hat nicht das Recht, uns über die Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hoch¬ klingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt eine dumpfe Werkstatt ist, gegeuüber den Werken des künstlerischen Genius. Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu wollen, ist Vermessenheit, die man zu lang denkträg ertragen hat. Manches mag sich nun an Fechners Weltansicht unvollkommen erweisen, einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung und Verwendung alles dessen, was thatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des Wissens so ergänzt werden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leicht¬ verständliche bevorzugt, sondern alles in den« großen Stil eines Werks aus¬ gedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nnr ein ver¬ schwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubens¬ bedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eignen Erfahrungen seine im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltan¬ schauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht, wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, das Wissens- und Glaubcnsbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Ent¬ deckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den Trümmern eines niedergerissener alten Null das sein. Die dichterischen, natur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/178>, abgerufen am 26.06.2024.