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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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lische Gewohnheit vieler Krankenkassen beobachte", die ärztlichen Liquidationen
oft jahrelang nicht zu beantworten und auf wiederholtes Drängen in unam
gemessener Form die kategorische Antwort erteilen, daß die Liquidation nicht
anerkannt werde -- zu einer Zeit, wo die rechtliche Feststellung des That
bestands vielfach unmöglich geworden ist , weil der Patient nicht mehr auf-
findbar sei; wenn man solche Verhältnisse immer und überall sehen muß, so
ist es selbstverständlich, daß eine allgemeine Erbitterung in Ärztekreisen Platz
gegriffen, und sie sich einmütig dafür erklärt haben, das Krankenkassenjoch ab
zuschütteln.

Betrachten nur die Stellung der Ärzte im Volksleben auch noch von
einer höhern Warte aus, um nicht bei der Behandlung der Kassenarztfrage
den richtigen Weg zu verfehlen!

Es giebt für den Staat noch schwerer wiegende Gründe, die Kassenarztfrage
gesetzlich zu regeln. Die Allgemeinheit hat ein Lebensinteresse daran, dem
Arztestand eine angesehene Stellung zu wahre". Die Ärzte bilden bei ihrer
Verteilung über das ganze Land, in ihren Beziehungen zu allen Vevölkernngs-
kreisen einen bedeutenden Einfluß auf das ganze Volksleben, nicht nur als
Agitatoren und Wortführer in öffentlichen Angelegenheiten, sondern als
schlichte, einfache, humane, ihren Berufspflichten nachgebende Leute, die sich
aus den Reihen der höhern sozialen Schichten rekrutieren und wesentlich in
den tiefer" Schichten des Volks ihre Berufsthätigkeit ausübe", "icht allem als
Mechaniker der beselt gewordnen menschlichen Maschine, sondern vor allein als
ernste, pflichtbewußte Männer, die als Mensch zum Menschen in schweren,
schmerzensvolle" Stunden das rechte Wort zur rechten Zeit sprechen sollen.
Der Staat hat dadurch, daß er von den Ärzten eine humanistische Bildung
verlangte, erreichen wollen, daß sie ihren Berus als ein uodilo oküoiriiu auf¬
fassen und durch die Art ihrer Berufsausübung beweisen, daß sie eine nicht
nur auf das Nützlichkeitsprinzip gegründete Berufsauffassung haben. So
können die Ärzte, ebenso wie die Geistliche" und die Richter, dere" Arbeits¬
feld auch die ganze menschliche Gesellschaft ist, durch stille, strenge Pflicht¬
erfüllung bei arm und reich, hoch und niedrig zum Bewußtsein bringen,
daß es höhere ethische Werte giebt, daß der Inhalt des menschlichen Lebens
mehr ist als ein bloßer Interessenkampf, Darum sorge der Staat, daß die
innerste Seele des Ärztestands nicht noch mehr Schaden leide, u"d er befreie
ihn aus seiner ""würdige" Stellung,

Einen moralisch hoch stehende" Ärztestand hat der Staat anch nötig zur
gerechten Handhabung der gesamte" sozialpolitische" Gesetzgebung, Ohne Mit¬
arbeit der°Ärzte si"d die sozialen Gesetze gar nicht durchführbar. Der Arzt
muß nicht nur ärztlich behandeln, sondern mich sein Gutachten abgeben über
Arbeits- und Erwerbsfühigteit und muß mit größter Gewissenhaftigkeit und
Ehrenhaftigkeit entscheiden auf Gebieten, wo Übertreibung, Betrug eine große
Rolle spielen. Auch dabei handelt eS sich nicht uur um materielle Güter,
sondern um die höchsten Güter des sittlichen Lebens, Giebt der Arzt ein


lische Gewohnheit vieler Krankenkassen beobachte», die ärztlichen Liquidationen
oft jahrelang nicht zu beantworten und auf wiederholtes Drängen in unam
gemessener Form die kategorische Antwort erteilen, daß die Liquidation nicht
anerkannt werde — zu einer Zeit, wo die rechtliche Feststellung des That
bestands vielfach unmöglich geworden ist , weil der Patient nicht mehr auf-
findbar sei; wenn man solche Verhältnisse immer und überall sehen muß, so
ist es selbstverständlich, daß eine allgemeine Erbitterung in Ärztekreisen Platz
gegriffen, und sie sich einmütig dafür erklärt haben, das Krankenkassenjoch ab
zuschütteln.

Betrachten nur die Stellung der Ärzte im Volksleben auch noch von
einer höhern Warte aus, um nicht bei der Behandlung der Kassenarztfrage
den richtigen Weg zu verfehlen!

Es giebt für den Staat noch schwerer wiegende Gründe, die Kassenarztfrage
gesetzlich zu regeln. Die Allgemeinheit hat ein Lebensinteresse daran, dem
Arztestand eine angesehene Stellung zu wahre». Die Ärzte bilden bei ihrer
Verteilung über das ganze Land, in ihren Beziehungen zu allen Vevölkernngs-
kreisen einen bedeutenden Einfluß auf das ganze Volksleben, nicht nur als
Agitatoren und Wortführer in öffentlichen Angelegenheiten, sondern als
schlichte, einfache, humane, ihren Berufspflichten nachgebende Leute, die sich
aus den Reihen der höhern sozialen Schichten rekrutieren und wesentlich in
den tiefer» Schichten des Volks ihre Berufsthätigkeit ausübe», »icht allem als
Mechaniker der beselt gewordnen menschlichen Maschine, sondern vor allein als
ernste, pflichtbewußte Männer, die als Mensch zum Menschen in schweren,
schmerzensvolle» Stunden das rechte Wort zur rechten Zeit sprechen sollen.
Der Staat hat dadurch, daß er von den Ärzten eine humanistische Bildung
verlangte, erreichen wollen, daß sie ihren Berus als ein uodilo oküoiriiu auf¬
fassen und durch die Art ihrer Berufsausübung beweisen, daß sie eine nicht
nur auf das Nützlichkeitsprinzip gegründete Berufsauffassung haben. So
können die Ärzte, ebenso wie die Geistliche» und die Richter, dere» Arbeits¬
feld auch die ganze menschliche Gesellschaft ist, durch stille, strenge Pflicht¬
erfüllung bei arm und reich, hoch und niedrig zum Bewußtsein bringen,
daß es höhere ethische Werte giebt, daß der Inhalt des menschlichen Lebens
mehr ist als ein bloßer Interessenkampf, Darum sorge der Staat, daß die
innerste Seele des Ärztestands nicht noch mehr Schaden leide, u»d er befreie
ihn aus seiner »»würdige» Stellung,

Einen moralisch hoch stehende» Ärztestand hat der Staat anch nötig zur
gerechten Handhabung der gesamte» sozialpolitische» Gesetzgebung, Ohne Mit¬
arbeit der°Ärzte si»d die sozialen Gesetze gar nicht durchführbar. Der Arzt
muß nicht nur ärztlich behandeln, sondern mich sein Gutachten abgeben über
Arbeits- und Erwerbsfühigteit und muß mit größter Gewissenhaftigkeit und
Ehrenhaftigkeit entscheiden auf Gebieten, wo Übertreibung, Betrug eine große
Rolle spielen. Auch dabei handelt eS sich nicht uur um materielle Güter,
sondern um die höchsten Güter des sittlichen Lebens, Giebt der Arzt ein


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[0173] lische Gewohnheit vieler Krankenkassen beobachte», die ärztlichen Liquidationen oft jahrelang nicht zu beantworten und auf wiederholtes Drängen in unam gemessener Form die kategorische Antwort erteilen, daß die Liquidation nicht anerkannt werde — zu einer Zeit, wo die rechtliche Feststellung des That bestands vielfach unmöglich geworden ist , weil der Patient nicht mehr auf- findbar sei; wenn man solche Verhältnisse immer und überall sehen muß, so ist es selbstverständlich, daß eine allgemeine Erbitterung in Ärztekreisen Platz gegriffen, und sie sich einmütig dafür erklärt haben, das Krankenkassenjoch ab zuschütteln. Betrachten nur die Stellung der Ärzte im Volksleben auch noch von einer höhern Warte aus, um nicht bei der Behandlung der Kassenarztfrage den richtigen Weg zu verfehlen! Es giebt für den Staat noch schwerer wiegende Gründe, die Kassenarztfrage gesetzlich zu regeln. Die Allgemeinheit hat ein Lebensinteresse daran, dem Arztestand eine angesehene Stellung zu wahre». Die Ärzte bilden bei ihrer Verteilung über das ganze Land, in ihren Beziehungen zu allen Vevölkernngs- kreisen einen bedeutenden Einfluß auf das ganze Volksleben, nicht nur als Agitatoren und Wortführer in öffentlichen Angelegenheiten, sondern als schlichte, einfache, humane, ihren Berufspflichten nachgebende Leute, die sich aus den Reihen der höhern sozialen Schichten rekrutieren und wesentlich in den tiefer» Schichten des Volks ihre Berufsthätigkeit ausübe», »icht allem als Mechaniker der beselt gewordnen menschlichen Maschine, sondern vor allein als ernste, pflichtbewußte Männer, die als Mensch zum Menschen in schweren, schmerzensvolle» Stunden das rechte Wort zur rechten Zeit sprechen sollen. Der Staat hat dadurch, daß er von den Ärzten eine humanistische Bildung verlangte, erreichen wollen, daß sie ihren Berus als ein uodilo oküoiriiu auf¬ fassen und durch die Art ihrer Berufsausübung beweisen, daß sie eine nicht nur auf das Nützlichkeitsprinzip gegründete Berufsauffassung haben. So können die Ärzte, ebenso wie die Geistliche» und die Richter, dere» Arbeits¬ feld auch die ganze menschliche Gesellschaft ist, durch stille, strenge Pflicht¬ erfüllung bei arm und reich, hoch und niedrig zum Bewußtsein bringen, daß es höhere ethische Werte giebt, daß der Inhalt des menschlichen Lebens mehr ist als ein bloßer Interessenkampf, Darum sorge der Staat, daß die innerste Seele des Ärztestands nicht noch mehr Schaden leide, u»d er befreie ihn aus seiner »»würdige» Stellung, Einen moralisch hoch stehende» Ärztestand hat der Staat anch nötig zur gerechten Handhabung der gesamte» sozialpolitische» Gesetzgebung, Ohne Mit¬ arbeit der°Ärzte si»d die sozialen Gesetze gar nicht durchführbar. Der Arzt muß nicht nur ärztlich behandeln, sondern mich sein Gutachten abgeben über Arbeits- und Erwerbsfühigteit und muß mit größter Gewissenhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit entscheiden auf Gebieten, wo Übertreibung, Betrug eine große Rolle spielen. Auch dabei handelt eS sich nicht uur um materielle Güter, sondern um die höchsten Güter des sittlichen Lebens, Giebt der Arzt ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/173>, abgerufen am 03.07.2024.