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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Gefahr liegt also vor, daß die Frage nicht behandelt wird, und es beim
alten Modus bleibt, wenn kein für beide Teile, die Kassen und die Ärzte,
gangbarer Weg gefunden wird. Im Septemberheft der "Conradschen Jahr¬
bücher für Nationalökonomie" hat I>. Bernstein, um den Kassenverwaltnngen
die Regelung der Arztfrage und den damit zusammenhängenden Kampf gegen
die Überlastung dnrch Arzncikosten abzunehmen, vorgeschlagen, daß ärztliche
Hilfe und Arznei nicht mehr aus der Krankenversicherung bezahlt, und die da¬
durch frei werdenden Mittel zu einer Erhöhung des Krankengeldes verwandt
werden sollten. Der einzelne Versicherte werde besser imstande sein, sich bei
der freien Konkurrenz der Arzte und der Apotheker billige ärztliche Hilfe und
vor allem billige Arzneimittel zu verschaffen. Indem anerkannt wird, daß der
jetzige Zustand für die Ärzte unhaltbar sei, und daß die Interessen der Ärzte
berücksichtigt werden müßten, sieht der Verfasser des erwähnten Artikels den
vorgeschlagnen Weg als die beste .Lösung an.

Gegen die gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl unter den heutigen
Verhältnissen, wo die ärztliche Hilfe als Kasscnleistung gewährt wird, werden
nun folgende schwerwiegenden Gründe geltend gemacht: 1, Manche Ärzte würden,
um ihre Einnahmen zu erhöhen, mehr Besuche "lache", Konsultationen ver¬
anlassen und therapeutische Einzelleistnugen vornehmen und dafür mehr liqui¬
dieren, als erforderlich wäre, 2, Die Knssenmitglieder würden die Ärzte am
meisten aufsuchen, die am leichtesten und längsten eine Erwerbsunfähigkeit be¬
scheinigten, und die teuersten Arzneien und meisten Kräftigungsmittel ver¬
schriebe". Bei der von Dr. Bernstein vorgeschlagnen Regelung würde" also
einige Einwendungen wegfallen, aber der wichtigste Übelstand würde doch be¬
steh" bleibe", nämlich der, daß das Krankengeldkonto überlastet wird. Denn
die Kassen würde" auch baun noch erfahren, daß die Ärzte, die den, Wunsche
der Versicherten bei der Bescheinigung der Erwerbsunfnln'gkeit am weitesten
entgegen kämen, die beliebtesten würden, und daß so einer gewissenlosen Aus¬
beutung der Kassen doch "och Thür und Thor geöffnet wäre, da man dann
das Attest jedes Arztes als Unterlage für den Anspruch aus Krankengeld an¬
erkennen müßte. Aus diese" und vielleicht noch ans andern gegen den Vor¬
schlag sprechenden Gründen werden die Krankenkasse" diese" Weg nicht gehn
"vollen.

Im folgenden will ich nnn versuchen, einen andern Mittelweg zwischen
den verschiedne" Interesse" zu finden. Welches sind eigentlich die Gründe, die
die Ärzte zu einem so extreme" Standpunkt gedrängt haben, daß sie die ge¬
setzliche Einführung der freien Arztwahl und die Bezahlung der Einzelleistung
mit gewissen den finanziellen Interessen der Kassen gerecht werdenden Kautelen
für die einzig annehmbare Lösung der Kassenarztfrage erklärt haben? Wenn
man die ärztliche" Fachblätter, die auch die wirtschaftlichen und ethischen Inter¬
essen des Ärztestandcs behandeln, verfolgt und sich sonst etwas nach diesen
Dingen im Vaterland umgesehen hat, so kommt man zu der Überzeugung, daß
überall die Stellung der Ärzte zu den Krankenkassen mit Recht als Schmach


Grenzboten !! 1901 ^

Die Gefahr liegt also vor, daß die Frage nicht behandelt wird, und es beim
alten Modus bleibt, wenn kein für beide Teile, die Kassen und die Ärzte,
gangbarer Weg gefunden wird. Im Septemberheft der „Conradschen Jahr¬
bücher für Nationalökonomie" hat I>. Bernstein, um den Kassenverwaltnngen
die Regelung der Arztfrage und den damit zusammenhängenden Kampf gegen
die Überlastung dnrch Arzncikosten abzunehmen, vorgeschlagen, daß ärztliche
Hilfe und Arznei nicht mehr aus der Krankenversicherung bezahlt, und die da¬
durch frei werdenden Mittel zu einer Erhöhung des Krankengeldes verwandt
werden sollten. Der einzelne Versicherte werde besser imstande sein, sich bei
der freien Konkurrenz der Arzte und der Apotheker billige ärztliche Hilfe und
vor allem billige Arzneimittel zu verschaffen. Indem anerkannt wird, daß der
jetzige Zustand für die Ärzte unhaltbar sei, und daß die Interessen der Ärzte
berücksichtigt werden müßten, sieht der Verfasser des erwähnten Artikels den
vorgeschlagnen Weg als die beste .Lösung an.

Gegen die gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl unter den heutigen
Verhältnissen, wo die ärztliche Hilfe als Kasscnleistung gewährt wird, werden
nun folgende schwerwiegenden Gründe geltend gemacht: 1, Manche Ärzte würden,
um ihre Einnahmen zu erhöhen, mehr Besuche »lache», Konsultationen ver¬
anlassen und therapeutische Einzelleistnugen vornehmen und dafür mehr liqui¬
dieren, als erforderlich wäre, 2, Die Knssenmitglieder würden die Ärzte am
meisten aufsuchen, die am leichtesten und längsten eine Erwerbsunfähigkeit be¬
scheinigten, und die teuersten Arzneien und meisten Kräftigungsmittel ver¬
schriebe». Bei der von Dr. Bernstein vorgeschlagnen Regelung würde» also
einige Einwendungen wegfallen, aber der wichtigste Übelstand würde doch be¬
steh» bleibe», nämlich der, daß das Krankengeldkonto überlastet wird. Denn
die Kassen würde» auch baun noch erfahren, daß die Ärzte, die den, Wunsche
der Versicherten bei der Bescheinigung der Erwerbsunfnln'gkeit am weitesten
entgegen kämen, die beliebtesten würden, und daß so einer gewissenlosen Aus¬
beutung der Kassen doch »och Thür und Thor geöffnet wäre, da man dann
das Attest jedes Arztes als Unterlage für den Anspruch aus Krankengeld an¬
erkennen müßte. Aus diese» und vielleicht noch ans andern gegen den Vor¬
schlag sprechenden Gründen werden die Krankenkasse» diese» Weg nicht gehn
»vollen.

Im folgenden will ich nnn versuchen, einen andern Mittelweg zwischen
den verschiedne» Interesse» zu finden. Welches sind eigentlich die Gründe, die
die Ärzte zu einem so extreme» Standpunkt gedrängt haben, daß sie die ge¬
setzliche Einführung der freien Arztwahl und die Bezahlung der Einzelleistung
mit gewissen den finanziellen Interessen der Kassen gerecht werdenden Kautelen
für die einzig annehmbare Lösung der Kassenarztfrage erklärt haben? Wenn
man die ärztliche» Fachblätter, die auch die wirtschaftlichen und ethischen Inter¬
essen des Ärztestandcs behandeln, verfolgt und sich sonst etwas nach diesen
Dingen im Vaterland umgesehen hat, so kommt man zu der Überzeugung, daß
überall die Stellung der Ärzte zu den Krankenkassen mit Recht als Schmach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/169>, abgerufen am 03.07.2024.