Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nah klassische Altertui" lui Mauael der Geschichtsauffassung

Liberalismus von "moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland sprach
und, unbelehrt durch 1848/49, die deutsche Einheit ohne Krieg erreichen zu
können glaubte. Da war es ein junger Heidelberger Historiker, Wilhelm
Oncken, der 1865 in seinem Buche "Athen und Hellas" keck den Satz aufstellte,
der attische Demos sei der Träger der griechischen Einheitsidee gewesen und
habe, "nachdem er des Hellenentums Freiheit gerettet, in seinem Bnndesreiche
die erste und dauerndste Staatsform geschaffen, in welcher die Idee der National-
einheit , , , ihre Verwirklichung gefunden" habe <l, 11), Er wurde von mancher
philologischen Seite scharf zurechtgewiesen, weil er "modernisiere," aber er hatte
doch Recht. Als wir in den Krieg von 1866 hineintrieben, den Krieg einer
jungen Großmacht, mit dem nationalen Programm auf der Fahne, gegen eine
alte Großmacht, die nichts für sich hatte als ehrwürdige Ansprüche, aber nicht
die Spur eines nationalen Programms, als es vielen sogenannten "guten
Deutschen" für national und volkstümlich galt, Preußen niederzuwerfen, und
sich unter nationalen Phrasen nichts weiter verbarg als Haß und Neid und
Impotenz, als alle die salbungsvollen Reden von Verbrüderung der Stämme
spurlos vergessen waren, da habe ich -- ich entsinne mich dessen noch genau --
mit einer Empfindung wahrer Erschütterung in dem zweiten Bande von Curtius
die Seiten gelesen (307 ff.), in denen er die Stimmung Griechenlands vor dein
Ausbruch des peloponnesischen Kriegs schildert; das paßte ja fast Zug um
Zug auf das Deutschland im Juni 1866, wenn man nur die modernen Namen
einsetzte, und es war doch fünf Jahre vorher geschrieben! Nur der Ausgang
sollte der entgegengesetzte sein von dem im alten Griechenland. Daß die Herr¬
schaft Athens die nationale Einheit der Griechen bedeutete, zwar nicht aller
Teile der weitverzweigten Nation, wohl aber ihrer besten und thätigsten Teile
rings um das griechische Hauptmeer, wie ja auch kein moderner Nationalstaat
Europas alle Glieder der Nation umschließt, daß da ein fester griechischer
Nationalstaat geschaffen war in einem Umfange und mir einer Leistungsfähigkeit,
wie weder vorher noch nachher, und daß diese Gründung das Wesentliche in
der ganzen politischen Entwicklung der Hellenen vor 338 gewesen ist, das hat
dann 1877 einer unsrer geistvollsten Philologen, Ulrich von Wilamvwitz-
Möllendorff, mit allem Nachdruck ausgesprochen und 1885 gegenüber ab¬
weichenden Meinungen aufs bestimmteste wiederholt.

Sehr viel schwerer ist eine andre Erkenntnis durchgedrungen, und vielleicht
ist sie es immer noch nicht ganz, daß nämlich, nachdem das demokratische
Athen den nationalen Staat nicht hatte behaupten können, das makedonische
Militärkönigtum diese Aufgabe löste, indem es die unhaltbare und verderbliche
Souveränität der griechischen Einzelstaaten zerbrach und sie in hündischen
Formen einigte, daß es zugleich den alten hellenischen Natioualgedanten,
die Eroberung Vorderasiens und seine Durchdringung mit hellenischer Kultur
machtvoll verwirklichte und erst damit dieser Kultur die Herrschaft im Kreise
der Mittelmeerländer, also ihre Weltstellung gegeben hat. Merkwürdigerweise
liegen die Anfänge dieser Erkenntnis sehr weit zurück. Friedrich der Große
schrieb an den Rand seine? Handexemplars von Montesquieu? l^an-M^rg-timix


Nah klassische Altertui» lui Mauael der Geschichtsauffassung

Liberalismus von „moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland sprach
und, unbelehrt durch 1848/49, die deutsche Einheit ohne Krieg erreichen zu
können glaubte. Da war es ein junger Heidelberger Historiker, Wilhelm
Oncken, der 1865 in seinem Buche „Athen und Hellas" keck den Satz aufstellte,
der attische Demos sei der Träger der griechischen Einheitsidee gewesen und
habe, „nachdem er des Hellenentums Freiheit gerettet, in seinem Bnndesreiche
die erste und dauerndste Staatsform geschaffen, in welcher die Idee der National-
einheit , , , ihre Verwirklichung gefunden" habe <l, 11), Er wurde von mancher
philologischen Seite scharf zurechtgewiesen, weil er „modernisiere," aber er hatte
doch Recht. Als wir in den Krieg von 1866 hineintrieben, den Krieg einer
jungen Großmacht, mit dem nationalen Programm auf der Fahne, gegen eine
alte Großmacht, die nichts für sich hatte als ehrwürdige Ansprüche, aber nicht
die Spur eines nationalen Programms, als es vielen sogenannten „guten
Deutschen" für national und volkstümlich galt, Preußen niederzuwerfen, und
sich unter nationalen Phrasen nichts weiter verbarg als Haß und Neid und
Impotenz, als alle die salbungsvollen Reden von Verbrüderung der Stämme
spurlos vergessen waren, da habe ich — ich entsinne mich dessen noch genau —
mit einer Empfindung wahrer Erschütterung in dem zweiten Bande von Curtius
die Seiten gelesen (307 ff.), in denen er die Stimmung Griechenlands vor dein
Ausbruch des peloponnesischen Kriegs schildert; das paßte ja fast Zug um
Zug auf das Deutschland im Juni 1866, wenn man nur die modernen Namen
einsetzte, und es war doch fünf Jahre vorher geschrieben! Nur der Ausgang
sollte der entgegengesetzte sein von dem im alten Griechenland. Daß die Herr¬
schaft Athens die nationale Einheit der Griechen bedeutete, zwar nicht aller
Teile der weitverzweigten Nation, wohl aber ihrer besten und thätigsten Teile
rings um das griechische Hauptmeer, wie ja auch kein moderner Nationalstaat
Europas alle Glieder der Nation umschließt, daß da ein fester griechischer
Nationalstaat geschaffen war in einem Umfange und mir einer Leistungsfähigkeit,
wie weder vorher noch nachher, und daß diese Gründung das Wesentliche in
der ganzen politischen Entwicklung der Hellenen vor 338 gewesen ist, das hat
dann 1877 einer unsrer geistvollsten Philologen, Ulrich von Wilamvwitz-
Möllendorff, mit allem Nachdruck ausgesprochen und 1885 gegenüber ab¬
weichenden Meinungen aufs bestimmteste wiederholt.

Sehr viel schwerer ist eine andre Erkenntnis durchgedrungen, und vielleicht
ist sie es immer noch nicht ganz, daß nämlich, nachdem das demokratische
Athen den nationalen Staat nicht hatte behaupten können, das makedonische
Militärkönigtum diese Aufgabe löste, indem es die unhaltbare und verderbliche
Souveränität der griechischen Einzelstaaten zerbrach und sie in hündischen
Formen einigte, daß es zugleich den alten hellenischen Natioualgedanten,
die Eroberung Vorderasiens und seine Durchdringung mit hellenischer Kultur
machtvoll verwirklichte und erst damit dieser Kultur die Herrschaft im Kreise
der Mittelmeerländer, also ihre Weltstellung gegeben hat. Merkwürdigerweise
liegen die Anfänge dieser Erkenntnis sehr weit zurück. Friedrich der Große
schrieb an den Rand seine? Handexemplars von Montesquieu? l^an-M^rg-timix


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234545"/>
          <fw type="header" place="top"> Nah klassische Altertui» lui Mauael der Geschichtsauffassung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_24" prev="#ID_23"> Liberalismus von &#x201E;moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland sprach<lb/>
und, unbelehrt durch 1848/49, die deutsche Einheit ohne Krieg erreichen zu<lb/>
können glaubte.  Da war es ein junger Heidelberger Historiker, Wilhelm<lb/>
Oncken, der 1865 in seinem Buche &#x201E;Athen und Hellas" keck den Satz aufstellte,<lb/>
der attische Demos sei der Träger der griechischen Einheitsidee gewesen und<lb/>
habe, &#x201E;nachdem er des Hellenentums Freiheit gerettet, in seinem Bnndesreiche<lb/>
die erste und dauerndste Staatsform geschaffen, in welcher die Idee der National-<lb/>
einheit , , , ihre Verwirklichung gefunden" habe &lt;l, 11), Er wurde von mancher<lb/>
philologischen Seite scharf zurechtgewiesen, weil er &#x201E;modernisiere," aber er hatte<lb/>
doch Recht.  Als wir in den Krieg von 1866 hineintrieben, den Krieg einer<lb/>
jungen Großmacht, mit dem nationalen Programm auf der Fahne, gegen eine<lb/>
alte Großmacht, die nichts für sich hatte als ehrwürdige Ansprüche, aber nicht<lb/>
die Spur eines nationalen Programms, als es vielen sogenannten &#x201E;guten<lb/>
Deutschen" für national und volkstümlich galt, Preußen niederzuwerfen, und<lb/>
sich unter nationalen Phrasen nichts weiter verbarg als Haß und Neid und<lb/>
Impotenz, als alle die salbungsvollen Reden von Verbrüderung der Stämme<lb/>
spurlos vergessen waren, da habe ich &#x2014; ich entsinne mich dessen noch genau &#x2014;<lb/>
mit einer Empfindung wahrer Erschütterung in dem zweiten Bande von Curtius<lb/>
die Seiten gelesen (307 ff.), in denen er die Stimmung Griechenlands vor dein<lb/>
Ausbruch des peloponnesischen Kriegs schildert; das paßte ja fast Zug um<lb/>
Zug auf das Deutschland im Juni 1866, wenn man nur die modernen Namen<lb/>
einsetzte, und es war doch fünf Jahre vorher geschrieben!  Nur der Ausgang<lb/>
sollte der entgegengesetzte sein von dem im alten Griechenland. Daß die Herr¬<lb/>
schaft Athens die nationale Einheit der Griechen bedeutete, zwar nicht aller<lb/>
Teile der weitverzweigten Nation, wohl aber ihrer besten und thätigsten Teile<lb/>
rings um das griechische Hauptmeer, wie ja auch kein moderner Nationalstaat<lb/>
Europas alle Glieder der Nation umschließt, daß da ein fester griechischer<lb/>
Nationalstaat geschaffen war in einem Umfange und mir einer Leistungsfähigkeit,<lb/>
wie weder vorher noch nachher, und daß diese Gründung das Wesentliche in<lb/>
der ganzen politischen Entwicklung der Hellenen vor 338 gewesen ist, das hat<lb/>
dann 1877 einer unsrer geistvollsten Philologen, Ulrich von Wilamvwitz-<lb/>
Möllendorff, mit allem Nachdruck ausgesprochen und 1885 gegenüber ab¬<lb/>
weichenden Meinungen aufs bestimmteste wiederholt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_25" next="#ID_26"> Sehr viel schwerer ist eine andre Erkenntnis durchgedrungen, und vielleicht<lb/>
ist sie es immer noch nicht ganz, daß nämlich, nachdem das demokratische<lb/>
Athen den nationalen Staat nicht hatte behaupten können, das makedonische<lb/>
Militärkönigtum diese Aufgabe löste, indem es die unhaltbare und verderbliche<lb/>
Souveränität der griechischen Einzelstaaten zerbrach und sie in hündischen<lb/>
Formen einigte, daß es zugleich den alten hellenischen Natioualgedanten,<lb/>
die Eroberung Vorderasiens und seine Durchdringung mit hellenischer Kultur<lb/>
machtvoll verwirklichte und erst damit dieser Kultur die Herrschaft im Kreise<lb/>
der Mittelmeerländer, also ihre Weltstellung gegeben hat. Merkwürdigerweise<lb/>
liegen die Anfänge dieser Erkenntnis sehr weit zurück. Friedrich der Große<lb/>
schrieb an den Rand seine? Handexemplars von Montesquieu? l^an-M^rg-timix</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] Nah klassische Altertui» lui Mauael der Geschichtsauffassung Liberalismus von „moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland sprach und, unbelehrt durch 1848/49, die deutsche Einheit ohne Krieg erreichen zu können glaubte. Da war es ein junger Heidelberger Historiker, Wilhelm Oncken, der 1865 in seinem Buche „Athen und Hellas" keck den Satz aufstellte, der attische Demos sei der Träger der griechischen Einheitsidee gewesen und habe, „nachdem er des Hellenentums Freiheit gerettet, in seinem Bnndesreiche die erste und dauerndste Staatsform geschaffen, in welcher die Idee der National- einheit , , , ihre Verwirklichung gefunden" habe <l, 11), Er wurde von mancher philologischen Seite scharf zurechtgewiesen, weil er „modernisiere," aber er hatte doch Recht. Als wir in den Krieg von 1866 hineintrieben, den Krieg einer jungen Großmacht, mit dem nationalen Programm auf der Fahne, gegen eine alte Großmacht, die nichts für sich hatte als ehrwürdige Ansprüche, aber nicht die Spur eines nationalen Programms, als es vielen sogenannten „guten Deutschen" für national und volkstümlich galt, Preußen niederzuwerfen, und sich unter nationalen Phrasen nichts weiter verbarg als Haß und Neid und Impotenz, als alle die salbungsvollen Reden von Verbrüderung der Stämme spurlos vergessen waren, da habe ich — ich entsinne mich dessen noch genau — mit einer Empfindung wahrer Erschütterung in dem zweiten Bande von Curtius die Seiten gelesen (307 ff.), in denen er die Stimmung Griechenlands vor dein Ausbruch des peloponnesischen Kriegs schildert; das paßte ja fast Zug um Zug auf das Deutschland im Juni 1866, wenn man nur die modernen Namen einsetzte, und es war doch fünf Jahre vorher geschrieben! Nur der Ausgang sollte der entgegengesetzte sein von dem im alten Griechenland. Daß die Herr¬ schaft Athens die nationale Einheit der Griechen bedeutete, zwar nicht aller Teile der weitverzweigten Nation, wohl aber ihrer besten und thätigsten Teile rings um das griechische Hauptmeer, wie ja auch kein moderner Nationalstaat Europas alle Glieder der Nation umschließt, daß da ein fester griechischer Nationalstaat geschaffen war in einem Umfange und mir einer Leistungsfähigkeit, wie weder vorher noch nachher, und daß diese Gründung das Wesentliche in der ganzen politischen Entwicklung der Hellenen vor 338 gewesen ist, das hat dann 1877 einer unsrer geistvollsten Philologen, Ulrich von Wilamvwitz- Möllendorff, mit allem Nachdruck ausgesprochen und 1885 gegenüber ab¬ weichenden Meinungen aufs bestimmteste wiederholt. Sehr viel schwerer ist eine andre Erkenntnis durchgedrungen, und vielleicht ist sie es immer noch nicht ganz, daß nämlich, nachdem das demokratische Athen den nationalen Staat nicht hatte behaupten können, das makedonische Militärkönigtum diese Aufgabe löste, indem es die unhaltbare und verderbliche Souveränität der griechischen Einzelstaaten zerbrach und sie in hündischen Formen einigte, daß es zugleich den alten hellenischen Natioualgedanten, die Eroberung Vorderasiens und seine Durchdringung mit hellenischer Kultur machtvoll verwirklichte und erst damit dieser Kultur die Herrschaft im Kreise der Mittelmeerländer, also ihre Weltstellung gegeben hat. Merkwürdigerweise liegen die Anfänge dieser Erkenntnis sehr weit zurück. Friedrich der Große schrieb an den Rand seine? Handexemplars von Montesquieu? l^an-M^rg-timix

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/15>, abgerufen am 01.07.2024.